Vor dem Mittagessen drei Paar Schneeschuhe und vier Hundepfoten in unberührtem Weiß. Der vergrößerte Fuß sinkt in den weichen, tiefen Schnee und presst ihn zusammen, stößt dann auf den Harsch der vergangenen Woche, durchbricht ihn knackend, sinkt noch eine Winzigkeit tiefer und hebt sich dann wieder leicht und mühelos. Es ist fast, als könne man über Wasser schreiten.
Wir nehmen Wege, die keine Karte kennt, auch das Auge nicht, sondern einzig unser Entschluss, querfeldein, das Tal zwischen den stummen, dunklen Fichten hinunter, durch Holundergebüsch hindurch, einen Hang empor, eine Senke hinab, in der einst wohl die Schmelzwasser der Eiszeitgletscher zur Seite flossen, die Steigung wieder hinauf. Für einen Augenblick verschwindet alles Land hinter der Kuppe, der Hang scheint wie eine makellose Mauer aufzuragen in einen drohenden, schneebeladenen Himmel. Und nur eine einsame Anflugstange für die Greifvögel durchbricht diese Gewalt, einem Miniaturgalgen gleich in vollkommener Wintereinsamkeit.
Der Himmel zieht sich weiter zusammen. Der Hund drüben im Schnee ein tiefes, ganz und gar körperliches Schwarz, ansonsten nur zerfließende Schichten von Weiß und Grau, die Wälder jenseits der Felder auf blasse Schemen reduziert. Schneefall setzt ein, der Wind beißt in die Wange, alles wird zu einem Wirbel aus Flocken. Atem fließt, ein Kristall zerschmilzt an den Wimpern, Fuß für Fuß geht es tiefer in dieses lautlose Stürmen hinein. Ist irgendeine andere Gewalt derart stille? Nie erschien mir Winter schöner, das Leben richtiger. Wie froh ich bin, der Kesselstadt entkommen zu sein, als hätte ich Jahre ein Leben im Falschen geführt.
Später lodert im Westen eine andere Art von Weiß auf. Das Illertal ist in ganzer Breite zu überblicken, über den jenseitigen Höhen lässt die Sonne die dünne Wolkendecke erstrahlen. Eine Dorfglocke schlägt 12. Rauch aus einem Kamin.
Als wir die Schneeschuhe abschnallen, schiebt sich von Westen her bereits die nächste Wolkenfront heran. Wieder wird die Welt zu weißem Fallen.
Erinnert mich an Büchners Lenz. Gefällt mir!
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Danke dir. Da könnte ich mir weniger Schmeichelhaftes vorstellen.
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Unbedingt.
Es war als Kompliment gemeint. Deine Naturbeschreibungen und wie sie mit Deinem Inneren korrespondieren, gefallen mir sehr gut.
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Ich weiß und hatte mich sehr über das Kompliment gefreut und wollte die Freude aber offenbar nur als Understatement zeigen.
Ich danke dir!
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Graues Winterwetter schmackhaft gemacht. Ich will fast aus der Stadt raus. Schön!
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Das ist ja ein schönes Kompliment! Ob ich es noch ganz schaffe?
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Schön. Besonders diese Formulierung hat es mir angetan: „Wir nehmen Wege, die keine Karte kennt, auch das Auge nicht, sondern einzig unser Entschluss“.
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Danke dir, Maren. Ja, es war ein ungewohntes, ein sehr freies Gehen.
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Querfeldein – liebste Gangart!
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Warum wundert mich das nun nicht …
Herzliche Grüße
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Ein „Leben im Falschen“. Was du schreibst, klingt mir wesentlich. Und gelassen. Ich mag das. Gutes dir!
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Danke dir vielmals. Ich meine auch, dass es wesentlich ist. Gutes wünsche ich dir auch!
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Schön 🙂
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Herzlichen Dank.
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Du schreibst ganz wunderbar. Und den Kontrast zur Kesselstadt versteh ich sehr gut – aber den gibt es auch ein paar Kilometer weiter …
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Danke dir für dieses sehr schöne Kompliment. Ja, eine Welt der Gegensätze. An welchen Ort du wohl dabei gedacht hast?
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Na, ab auf die Alb (mit b) 😉
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Ach, hatte ich kurz gedacht … Ich hatte, warum auch immer, an eine Parallele zu Stuttgart gedacht, nicht zum Allgäu. Eigentlich steht noch, als Fortsetzung eines Weges, eine dritte Wanderung über die Alb an.
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Verbale Schneemeditation der Allgäuer Art…
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Verbale Schneemeditation – das ist schön.
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☺
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Lieber Gestreifter, ich gestehe, ich hatte schon direkt Platzangst in diesen Schneemassen ums Haus herum und tat manch einen heftigen Fluch bei der Plagerei des täglich stundenlangen Schaufelns auf die hohen Haufen, um wenigstens die Gänge des Postboten zum Haus und der Katzen zum Futternapf freizukriegen…vom Ausgraben zweier Autos ganz zu schweigen…
Aber weißt Du was, heut war´s irgendwie leichter, denn ich hatte Deine wunderbaren zartpoetischen Worte im Kopf über das „weiße Fallen“ und lächelnd sah ich diesen dicken weichen Flocken zu und spürte die Kristalle schmelzen auf den Wimpern…
Also, wenn Poesie dazu führt…das ist doch schon was, oder?
Dank Dir sehr für diesen schönen Text, ist ein Augen- und Herzöffner!
Liebe Grüsse aus ähnlichem Land…nur paar Kilometer ostwärts zu!
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Liebe Graugeschwingte, ja mei, da hätte ich an deiner Stelle aber auch geflucht. Ich habe das Glück, einen tatkräftigen Nachbarn zu haben, sodass meine Mühe weit geringer war als die eure. Ich freue mich aber sehr, dass dir der Text in der Plackerei ein bisschen Freude gegeben hat. Und danke dir für deine immer so herzensvollen, wohlwollenden Kommentare!
Herzliche Grüße zurück nach Osten!
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In U. Grobers „Wandern“ ist am Anfang eine Wanderung auf Schneeschuhen beschrieben. Auf den Spuren Stifters. Im Böhmerwald.
Warum mir zu Ihrem Bericht jetzt ausgerechnet Herrn Heines Harzreise einfällt, ist mir unerfindlich. Aber dass mir Ihre Sprachbilder sehr gut gefallen, dass will ich Ihnen gerne sagen.
Herzlicher Mittagsgruss,
Herr Ärmel
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Danke für diesen Hinweis, ich kenne diesen Text (wenn ich auch noch nicht das ganze Buch gelesen habe). Es hatte mir tatsächlich Appetit gemacht. Den Einfall der Harzreise kann ich ebensowenig erklären, aber ich freue mich über Ihr Gefallen.
Seien Sie herzlich gegrüßt!
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