Mirabellensommer

Nacht

Ein fast voller Mond weckt mich, sein Licht fällt auf mein Gesicht. Ist es schon wieder so weit, wundere ich mich schlaftrunken und sperre ihn aus dem Zimmer. Sein fahles Licht beunruhigt mich. Unruhig die Träume, unruhig der Schlaf, unruhig selbst das Wachen.

Mittag

„Alter, was voll krass ist, wenn du hier hoch gehst, schaltet irgendwann dein Kopf ab. Das ständige stressige Denken hört einfach auf.“ Drei Party-Mädels – Make-up, Tattoos, vergoldete Armbanduhren, ein schicker Riss am Knie der Hose – erreichen den Gipfel. Eine der Frauen trägt oben nur einen schwarzen BH, an ihrem Rucksack schwebt ein Geburtstagsluftballon. Sie werden von den Gipfelrastern begrüßt, wie am Berg eben jeder anständige Mensch grüßt. Zu ihrem 30. wollte das Geburtstagskind, das erfrägt die Runde schnell, unbedingt mal auf einem Berg gewesen sein. Und da schaltet es schon eine Videoverbindung zur Mutter. „Du glaubst nicht, wo ich bin. In Österreich auf einem Gipfel. Schau, da geht es runter. Und die Menschen reden hier alle mit einem.“ Die drei sind ein völliger Fremdkörper auf dem Berg, und umso schöner finde ich, dass sie offen dafür waren, diese Erfahrung zu machen.

Beim Abstieg aus dem tiefen Blau ins Tannheimer Tal nehme ich mir ein Vorbild an dem Geburtstagskind und ziehe mir mein Hemd vom Leib. „Ja so was, hat die Jugend eine Hitze …“, kommentiert ein entgegenkommender ergrauter Bergwanderer. Schneefrei liegt der Serpentinenweg vor uns, die Sonne wärmt meine nackte Haut zum ersten Mal in diesem Jahr, das Glück der Welt ist mit uns. Südhang macht es möglich.

Abend

Unter einem weißen Himmel aus Mirabellenblüten stehe ich. Die Sonne ist fast untergegangen, doch der Baum brummt noch wie ein Bienenstock. Hummeln eilen von Blüte zu Blüte im schwindenden Licht, nutzen die letzten Minuten. Vom grasigen Boden zieht bereits die Abendkälte herauf. Die Hummeln aber hasten weiter. Nie habe ich so viele auf einmal gesehen. Fleißige Arbeiterinnen bis an die Tore der Nacht.

Alpen_Einstein_Tannheimer Tal

12 Gedanken zu „Mirabellensommer

  1. Herr Ärmel

    Drei Tageszeiten zu einer harmonischen Symphonie der Wahrnehmung komponiert. Ich mag Ihre positive Betrachtungsweise, die bei allen Wahrnehmungen distanziert genug bleibt, um nicht ins Klebrig-schwärmerische abzugleiten oder sich im Negativen zu suhlen.
    Ich danke Ihnen dafür, dies miterleben zu dürfen und sende bembelländischsonnige Grüsse,
    Ihr Herr Ärmel

    Gefällt 1 Person

    Antwort
    1. zeilentiger Autor

      Ich freue mich, dass, was ich beabsichtige, dann auch so wahrgenommen wird. Danke für Ihre Bestärkung. Windige Mittagsgrüße zwischen Tobelspaziergang und Apfelstrudel aus dem gerade gelben Allgäu, Ihr Zeilentiger

      Gefällt 1 Person

      Antwort
      1. Herr Ärmel

        So soll das auch sein. Mit dem Finger auf das Negative zu zeigen, ist schon wichtig.
        Aber noch viel wichtiger ist es, das Positive hervorzuheben.
        Ihnen meine herzlichen Ostergrüsse und einen guten Appetit,
        Ihr Herr Ärmel

        Like

  2. moritz2015

    Wann ist der richtige Zeitpunkt, um auf einen Berg zu steigen?
    Vielleicht hat es ja der Eine nötiger als der Andere?

    Like

    Antwort
    1. zeilentiger Autor

      Es ist ja die Verlegenheit immer greifbar, wenn Menschen aus städtischen Räumen, die selbstverständlich nicht jeden Menschen auf der Straße grüßen, dann auf dem Bergpfad verzweifelt versuchen, den anderen zu ignorieren. Das ist ein bisschen so wie in einem Aufzug. Ich kann es ihnen nicht übelnehmen.

      Gefällt 1 Person

      Antwort

Hinterlasse einen Kommentar