Das Eisengeländer der Brücke ist niedergebogen …

Das Eisengeländer der Brücke über den Bach ist niedergebogen. Tatsächlich nieder-, also von oben herab gebogen. Ich kann mir nicht recht vorstellen, was das verursacht haben könnte.

Das Plätschern zwischen dem sprießenden Holunder kommt nicht an gegen den Verkehrslärm. Eine Straße zieht sich durch den Wald, irgendwo auf dem Land und trotzdem eilen unablässig Menschen hin und her über den Asphalt. Krähen krächzen über den noch blattlosen Eschen. Der Wind lässt mich am Kopf frösteln nach dem Haarschnitt am Morgen. Blühender Löwenzahn zwischen Waldflecken. Eine windschiefe Hütte, das Dach eingesunken, lädt zum Fotografieren ein, die Belichtung habe ich falsch eingestellt, werde ich später feststellen. Auf dem Feldweg ein Zigarettenfilter, gelb auch er, doch dunkler als die Blüten, fast orange. Die Kippe stört mich, und trotzdem fehlt mir auf der Flur der Faktor Mensch. Immer nur Worte über den gleichen kreisenden Flug von Bussard und Habicht, über dieselbe Stille der Bäume? Ein Falke habe sich, erzählte die Mutter beim Mittagessen auf den spitzen Schrei eines Vogels hin, auf einem der Bäume heimisch zu machen versucht und abends glitt ein Schleiereulenpärchen am Haus vorbei. Das sind nicht die immer gleichen Erscheinungen.

Weshalb mein Bauch rumort, begreife ich nicht, noch weniger als die gebogene Eisenstange an der Brücke. Übrigens auch nicht die anderen Symptome des Vorabends und am wenigsten jene quälende Fiebernacht ohne Fieber. Medizin war mir der sonnige Morgen, die Fahrt in die Stadt für einige Erledigungen, die sich angesammelt hatten, die wunderbaren Menschen, die ich in der Stadt und vor allem natürlich auf dem Wochenmarkt getroffen habe. Umarmungen, Lächeln, Gelächter. Hände, die sich berühren hier und da, ein fester Griff, Finger streichen über einen Handrücken.

Auf einer Wiese, auf der der Löwenzahn schon besonders hoch steht, hängt das Gras in Wirbeln nieder, als sei es niedergedrückt vom Schnee, der vor ein paar Tagen dort gefallen war. Bald wird der erste Schnitt erfolgen – zu früh für Insekten und besonders die Bienen und immer früher. Ein kurzes Stück geht es über Teer, dann über einen bereits bekannten Weg eine leichte Steigung in den Wald hinauf. Auf der Kuppe wiegen sich die Bäume im Wind: Birken, silbrig raschelnd, lindgrün ihre kleinen Blätter, eine einzelne, beinahe solitär stehende Lärche, nur in der Krone benadelt, darunter ein langer, langer astloser Stamm, ein paar Kiefern in ihrem Umfeld. Bäume, die ich nicht kenne, denke ich mir, spare ich in meinen Schilderungen aus. Verfälschung von Welt, denke ich mir, wenngleich selbstredend alles nur Auswahl ist, Welt als Interpretation. Meinen Horizont erweitern als Aufgabe, mehr Bäume erkennen für einen weiteren Interpretationsspielraum, denke ich mir.

Vorbei an der Stelle, wo ich vor einer Woche zum Pinkeln zwischen die jungen Fichten getreten war. Wäre ich ein Hund, könnte ich mich selbst noch wittern? Kein Auto, kein Motor ist mehr zu hören, nur das rauschende, raschelnde Wiegen der Bäume. Eine Art von Frieden.

Etwas wie eine riesige Lichtung öffnet sich, gesäumt von den unvermeidlichen Hochsitzen der Jäger entlang des Waldrandes. Ich fühle mich an „The Village“ von Night Shyamalan erinnert, ein Film, der letztendlich nicht lohnenswert war, dessen Wendungen mich nicht überzeugt haben, entschieden weniger als in Shyamalans „The Sixth Sense“. Auf einem der Schwünge des Landes liegen zwei Gehöfte, zusammen tragen sie den schönen Namen Krautenberg. Zerstreute Pferdeäpfel, eine Plane flattert einem angreifenden Tiere gleich, durch den Spalt unter einer Scheunentür sehe ich einen rotweißen Kater lagern, lautlos zieht er sich vor mir in die Dunkelheit zurück.

Am nächsten Waldrand weitet sich der Blick zurück, nach Osten hin liegt Terrain, das ich bereits einmal durchschritten habe auf meiner schleichenden Vermessung der Welt. Ich fühle mich schwach, die Schwäche geht von meinem Bauch aus, Müdigkeit, ich begreife mich nicht. Ein halb versunkener Flurstein am Waldesrand, die Abdrücke von Hufeisen im Schlamm, vor einem Baum türmte jemand Steine aufeinander zu einem Steinmännchen wie im Gebirge. Hinter einer Kurve fällt der Weg ab und der Blick hinüber auf die Buschlkapelle ist Überraschung. Immer und immer wieder dieses ungläubige Staunen, wenn sich durch die Bewegung im Raum die Dingen anders zueinander verhalten, als es eben noch so sicher schien. Jeder Schritt konfrontiert uns mit einer neuen Sicht auf den Zusammenhang aller Dinge, und deshalb ist Sichbewegen so unverzichtbar, denn nichts ist so beständig, wie wir denken.

Das begreife ich und setze meinen Weg fort.

Wald_Holz_Unterallgäu_Wandern

12 Gedanken zu „Das Eisengeländer der Brücke ist niedergebogen …

  1. wildgans

    Berührungen der Hände durch Hände: die Essenz!
    Das niedergedrückte Eisengeländer wird eventuell morgen nach Athen oder später nach Kassel verbracht?

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  2. Graugans

    …die Dinge verhalten sich durch die Bewegung anders zueinander…jaaaa…das hast Du gut gesagt. Es ist schön, mit Dir herumzugehen, immer begleitet von dieser leisen Poesie…ja, schön!
    Sei lieb gegrüßt !

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    1. zeilentiger Autor

      Ganz herzliche Grüße zurück, liebe Graue, und verzeih, dass ich sie erst so spät losschicke. Immer wieder einmal denke ich, ob ich nicht einmal einen Ausflug in den Südosten machen sollte und möchte, und da würde ich mich dann sehr gerne bei euch melden. (Mein Traum immer noch: An den Alpen entlangzuwandern. Aber diese Zeit, die das braucht, am Stück zu sichern ist nicht so leicht.)
      Herzliche Grüße!

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  3. karu02

    Das Foto zeigt sehr schön, dass nicht so bleibt wie es ist und alles in Bewegung ist. Die Schonung, die erwachsenen Bäume, das geschlagene Holz, so ist das!

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    1. zeilentiger Autor

      Dein Kommentar freut mich sehr, denn nun weiß ich, dass das Foto – nicht auf jener Wanderung, aber auf einer räumlich und zeitlich nahe gelegenen gemacht – die richtige Wahl war.

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  4. Bludgeon

    Sag ich ja. Es lebe der „2.Blick“, denn der erste täuscht fast immer.
    „Ich geh meine eigenen Wege…denn Wege entstehn erst beim gehn….“(HRKunze)
    und „…in Wahrheit ist alles ganz anders… aus „Windhahnsyndrom“; mutiges Buch seinerzeit in der Ehemaligen….

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  5. Herr Ärmel

    „…zu früh […] und immer früher…“ Die Räder werden immer schneller gedreht. Ihren Bericht macht so angenehm, dass Ihre Bildbeschreibungen Einhalt gebieten. Innenhalten.
    Verlangsamung als Heilung quasi. Allerdings stimme ich Ihnen gerne zu, was die Absenz der Menschen betrifft. Die heilende Wirkung z.B. Ihrer feinen Wahrnehmungen entseht erst im Austausch mit anderen Menschen. Nicht sensationsheischend grell sondern im stillen und vorsichtigen Austausch.

    Ihnen einen sonnigen Tag gewünscht von
    Ihrem Herrn Ärmel

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