Oder selbst die Strukturen schaffen

Der Hof ist eine Falle und der Wind hat uns hineingetrieben. Verschlossen ist das Gattertor zum Steg, ein Sprung zu weit, alles zu kalt. Ein Fenster öffnet sich und die heimliche Beobachterin zeigt sich als Engel. „Ihr wollt über den Bach? Dann geht dort hinter die Hütte, da ist eine Brücke.“ Wir finden ein Schalbrett überm Gewässer, die Enden auf Ziegeln aufgelegt, mit Schraubzwingen fixiert. Eis liegt auf der Planke. Ich trete auf das Brett, es knackt im Holz, es knackt im Eis, beides trägt. Die anderen folgen, über die weiße Wiese schwärmen wir aus.

In einem russischen Auto werde ich zur Arbeit gefahren von einer blonden Frau mit blassgrünen Augen und blasser Haut, in ihrem Haar hängt Eis. Kühl und nordisch sieht sie aus, aus dem Winter kommend, aber doch, das ginge auch, aus dem russischen Winter, mit jenem Gesichtsausdruck einer unbeeindruckbaren Agentin. Das Auto ist direkt, ungeschminkt und ursprünglich: die Motorengeräusche kernig, die Technik Mechanik, am Handgriff über der Tür hängt ein Karabinerhaken. An den Knien ist es kalt. Die Sonne geht auf, sie wärmt nicht, aber es ist gut.

„Oder selbst die Strukturen schaffen“, sagte ein Kollege am Mittagstisch. Verzweifeln ließe sich leicht an der Welt. Und wenn einen dies und das bearbeitet hat, reicht manchmal der Anblick einer niedergeholzten Hecke, der nun nackten Kreuzung, um in alttestamentarischer Verzweiflung die Hände in die Höhe zu werfen. Das Heilmittel haben wir immer selbst in der Hand. Jeder unserer Einkäufe, jede unserer Begegnungen, jedes unserer Worte ist eine Entscheidung, die wir treffen. Daran denke ich mir, als ich die Hände aus der Höhe sinken lasse und mein Panzerhemd abstreife und den Rock darunter und mit offenem Herzen da stehe und Menschen Worte schenke, die kein Richter auf Erden verlangen würde und die die Welt trotzdem schöner machen.

Es liegt an uns.

17 Gedanken zu „Oder selbst die Strukturen schaffen

  1. Graugans

    Ist das wunderschön gesagt, lieber Holger, und vor allem, daß wir immer das Heilmittel selber in der Hand haben, das nehm ich als besondere Kostbarkeit mit in die Nacht …soooo ein wärmender Zaubertext … sei lieb gegrüßt!

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  2. Herr Ärmel

    Ein inspirierender Text so am Frühmorgen. Eine sanft gleitende Morgenfähre in einen gelingenden Tag.
    Herzlichen Dank dafür auch Ihnen einen gelingenden Tag,
    Herr Ärmel

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    1. zeilentiger Autor

      Danke, verehrter Herr Flussanwohner, für Ihre schöne Rückmeldung. Ich hatte überlegt, mich bei Ihnen zu melden, bin nun aber doch schon auf dem Weg zurück von der „ebbschen Seit“, weil gerade alles etwas viel.

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      1. Herr Ärmel

        Ich schätze Ihre Offenheit. Einerseits. Anererseits ist das natürlich ein Affront, mein lieber Herr Zeilentiger… (was würden Sie nun im umgekehrten Fall machen?)

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