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Es raucht

Kürzlich kam einer in die Wohnung herein, ohne zu klopfen, ohne zu grüßen. Vielleicht grüßte er nur deshalb nicht, weil er unsere überraschten Gesichter sah und dann auch nicht recht weiter wusste.

Es war der Ofenbauer, der nach dem Lehmofen schauen wollte, an dem etwas kaputt gegangen war. Der Handwerker wusste wohl noch nicht, dass wir jetzt in den Räumen wohnten, wo bei seinem letzten Besuch noch meine Mutter gewohnt hatte. Sie hatte ihn benachrichtigt und er hat sie sicherlich draußen im Hof getroffen und war dann einfach hereingekommen, weil er dachte, sie weiß ja Bescheid, dass er da ist.

Meine Frau hat mehr Freude am Kommunizieren als ich und so besprach sie sich mit dem Ofenbauer: Was fehlt, was müssen wir tun, was braucht der Handwerker für sein Tun. Seine Reaktionen fielen denkbar knapp aus. Auf manche Fragen reagierte er einfach gar nicht und wenn es gar keinen Ausweg gab, entließ er zwischen halb zusammen gepressten Zahnreihen ein einzelnes Wort. „Noi“, zum Beispiel. Nur „Na“ wäre noch kürzer gewesen. Meine Frau will es ja gerne genau wissen, woran sie ist, und hakte nach. Es half nichts. Der Mann quälte sich weiter mit seinen einsilbigen Antworten und da winkte ich hinter seinem Rücken meiner Frau zu: Aufhören! Lass den armen Mann in Ruhe!

Mit mir redete er dann. In zwar kurzen, aber grammatikalisch vollständigen Sätzen. Vielleicht hatte er Angst vor meiner Frau.

Eine Eigenheit unserer Wohnsituation ist, dass es immer noch nur eine Handglocke gibt für zwei Wohnpartien. Heute schellte es, als wir beim Mittagessen saßen. Ein großer, schwarzer Mann mit lauter Stimme stand draußen: der Kaminkehrer.

„Störe ich beim Mittagessen? Das tut mir leid“, brüllte er munter. „Ich muss erst einmal aufs Dach. Ich weiß ja, wo die Leiter steht.“

„Ich sehe schon, du kennst dich aus“, ließ ich ihn gewähren. Wer weiß, wo unsere Leiter steht, den kann ich auch gleich duzen.

Ein paar Minuten später kam er nochmals herein, um die Kamine von innen zu entrußen. „Und M. [meine Großmutter] ist auch da?“, neigte er den Kopf Richtung Nebenhaus.

„Ja, aber sie macht gerade ihren Mittagsschlaf.“

„Dann komme ich einfach um halb 3 wieder. Passt das? Es ist ja so: Immer wenn ich zur M. komme, sehe ich den Rudl vor mir! Als wäre er noch da. Jedesmal wieder! Wie lange lebt er schon nicht mehr?“

„Das muss 2003 gewesen sein, meine ich.“

„Ja so was! Wie die Zeit rennt! Und ich sehe ihn immer noch vor mir“, rief er und machte sich auf den Weg.

„Noh an scheene Namittag“, brüllte er noch über seine Schulter zurück, „und bleibats gsund!“

Das wünschen wir auch, sagte ich zur geschlossenen Tür.

Assumptio Beatae Mariae Virginis oder: Warum sagt mir das keiner

Am Samstagmorgen bin ich extra noch nach München hinein, um ein Buch zu besorgen. Auf den letzten Drücker natürlich als Geschenk für eine Freundin, die am selben Abend ihren Geburtstag feiert in einem israelischen Restaurant. Ich habe am Stachus geparkt, stehe vor dem Hugendubel und die Tür ist zu. Ich schaue auf die Uhr und sehe, es ist fünf Minuten vor 10 Uhr und der Hugendubel macht ja erst um 10 Uhr auf. Warte ich also und dann ist es 10 nach 10 und immer noch kein Mensch, der den Laden aufschließt. Was für eine Sauerei, denke ich mir. Eine Frechheit, da müsste ich mich eigentlich beschweren und bei der Zentrale von Hugendubel anrufen. Das tu ich dann glatt auch und lege los: Was soll das eigentlich soll, 10 nach 10 an einem Samstagmorgen und die Filiale immer noch zu? Tut uns leid, aber da müssen Sie lange warten, ist die Antwort, heute ist doch Feiertag. Feiertag?, rufe ich. Und warum sagt mir das keiner?

Ja, warum sagte ihm das keiner? Mein Freund lehnt sich zurück und ich lache über seine Geschichte, wie ich bei all unserer Treffen lachen muss, weil es immer mitten hinein geht in ein neurotisches Großstadtleben. Meine Tochter sitzt auf meinem Schoß und schaut sich auf dem Rathausplatz der Provinzhauptstadt um. So viele Menschen sieht sie selten auf einmal und ich verstehe sie, ich ja auch nicht, und das nicht nur in Corona-Zeiten.

Warum also sagte ihm das keiner. Mariä Himmelfahrt ist ja auch ein kurioser Feiertag. Nicht nur seines Inhalts und seiner Geschichte wegen, sondern auch, weil er in Deutschland neben dem Saarland – pardon – nur in bayerischen Gemeinden mit einer katholischen Mehrheit als gesetzlicher Feiertag gilt. Wobei die Mehrheit praktischerweise nur eine relative gegenüber der protestantischen Bevölkerung des Ortes ist, sonst hätte nämlich der Hugendubel offen haben müssen. Und dann das Datum: Wer erwartet bitteschön am 15. August, also abseits aller anderen Feiertage, in der letzten Glut des Sommers und mitten in den bayerischen Schulferien einen Feiertag?

Meine Großmutter vergisst ihn nicht. Sie bindet morgens verschiedene Heilpflanzen für die Kräuterweihe, gesammelt im Garten oder mitgebracht von den Wiesen überm Kreuzbachthal, wo ein paar Außenseiter und Reiche auf versteckten Berghöfen wohnen und eine von ihnen nur in der Unterhose bekleidet ihren Garten bestellt, es kommt ja eh kaum jemand vorbei. Nur oben auf der Kreuzleshöhe, von wo aus bei klarem Wetter der Bodensee zu sehen ist, wundert sich ein Radfahrer, warum er sich in die Weite hochgekämpft hat, um dann unter einer brummenden Drohne zu sitzen. Die steuert einer mit dem famosen Kennzeichen KE-RL-9000, um nur ein Detail aus dem Gesamtbild herauszugreifen.

Das Buch hat mein Freund übrigens dann doch noch bekommen – in Baden-Württemberg. Was zwar weit ist vom Stachus, aber doch vergleichsweise nur ein Katzensprung während seines Mittagsbesuches bei den Eltern im Allgäu. Fahr doch rüber, hatte ihm die Mutter am Telefon vorgeschlagen. Und weil du mein Sohn bist, rufe ich gleich mal an, ob sie das betreffende Buch auch haben. Hatten sie, sogar erst an diesem Morgen angeliefert, obwohl nicht einmal eine Neuerscheinung, so ein Glück muss man erst mal haben. Selig über diese Fügung und vielleicht auch ein wenig müde von der Fahrt erst nach München hinein und dann wieder hinaus bis über die Grenzen des Freistaates hinweg parkt mein Freund vor der kleinen Buchhandlung des kleinen Städtchens, das sich sehr gemacht hat seit seinem letzten Besuch vor Jahren. Passanten weichen dem Auto links und rechts aus, das irritiert ihn ein wenig. Im Laden sagt er dann deshalb auch: „Könnten Sie mir das Buch gleich geben? Ich habe nämlich das Gefühl, dass ich da draußen gar nicht parken darf.“ „Ihr Gefühl trügt Sie nicht, Sie stehen ja auch in der Fußgängerzone.“

Dabei, sagt mein Freund nach einem Schluck aus der Kaffeetasse, beschwöre ich bei allem, was mir lieb ist, dass da am Tor der Altstadt kein Schild angebracht war. Kein Schild!

Man hätte es ihm vielleicht sagen sollen.

Das Maß an Geschwindigkeit

Abends holte ich noch einen Freund am Autobahnkreuz ab. Die Tankstelle war überfüllt. Es waren nicht die Menschen, die hier üblicherweise ihre Mitfahrgelegenheit suchen oder verabschieden, sondern junge Leute, die mir austauschbar erschienen, in sauber geputzten, mir vage merkwürdigen Autos. Ein paar saßen in Klappstühlen oder umlagerten die parkenden Wagen, andere fuhren in ihren Fahrzeugen hin und her und hin und her. Da begriff ich erst, dass die Tankstelle nicht nur Feierort für junge Leute in Zeiten von Corona war, sondern mehr noch, Anlaufstelle für getunte Autos. Immer mehr Fahrzeuge mit Spoilern und Heckflossen fuhren ein, ließen ihre Motoren heulen, Auspuffe krachten, jeder Fahrer sah ähnlich gegelt und austauschbar aus und für gewöhnliche Tankstellenkunden schien gar kein Platz mehr in diesem Treiben.

Ich parkte neben der Ausfahrt eines Autohauses, kein Ort, an dem ich ein Auto abstellen würde, aber ich wollte es ja gar nicht verlassen, ich wartete nur auf das Fahrzeug aus Leipzig, das einen Freund ausspucken und sich dann wieder auf die Autobahn schwingen würde. Mein linker Arm hing aus dem Fenster hinaus, die rechte Hand tippte auf dem Handy herum, mein Blick ging immer wieder suchend umher, um jedes Mal wieder bei dem absurden, ja mir unfassbar erscheinenden Schauspiel vor mir zu landen. Schon drehten sich ein paar der jungen Leute zu mir um und ich ahnte die Frage, was will der alte Knacker da, vielleicht lachte sogar jemand höhnisch auf, der will doch nicht etwa ein Rennen fahren. Ich fühlte mich an einen todlangweiligen Film erinnert mit dem frühen Harrison Ford, der in den Sechzigerjahren spielt und in dem andauernd junge Leute in Autos hin und herfahren, als bestünde der Sinn ihres Lebens in nichts als dem Cruisen.

Ein Polizeiwagen bog herein und ich fragte mich, wie oft sie an Freitagabenden hier wohl patrouillierten, aber da sah ich N. im schwarzen T-Shirt und mit der Tasche in der Hand, schlank und etwas abgekämpft von der Fahrt und ich winkte ihm durch das offene Fenster zu.

Am nächsten Tag stiegen wir auf den Schönkahler. Eine Genusstour, wie man so sagt, kein großes Ding, nicht einmal 1700 Höhenmeter hat der Berg. Von Genuss erst einmal keine Rede, die meiste Zeit ging es auf Forstwegen hinauf und später wieder auf Forstwegen hinab, öder ist da nur noch Asphalt. Erst ab der Pfrontner Alpe, an der ein paar Hühner auf dem Misthaufen scharrten, dann Pfade über Bergwiesen und Glockengeläut von Vieh, malerisch ein einzelner Laubbaum über einem Felsenband und recht bald der Gipfel. Der Ausblick dort dann doch schön, tatsächlich in jede Richtung sehenswert und netterweise pausierte das Wolkentreiben gerade jetzt und ließ auch mal Sonne durch. Erst als wir wieder abstiegen, machte es wieder zu. Manche Wolken trieben so dunkel, als wollten sie gleich ihre Last abladen, aber nein, ihre sie trugen ihre stumme Drohung weiter, sollten doch noch ein paar weitere Menschen erschrecken.

Wunderbar dann auf dem Rückweg der schmale Pfad ins Himmelreich hinüber, zwischen den beiden Ächsele hindurch, kaum ein Mensch unterwegs, nur ein paar Bremsen, die uns die Waden blutig stachen, sonst Stille, Weg, Gehen.

Waldrand, frei von Angst

Der Wind heute wieder aus Ost, frisch, aber nicht mehr eisig. In den Lärchen raschelt es, als steige ein großes Tier durch die Bäume, ein Geist des Waldes vielleicht. Unter den Füßen knirschen die gespreizten Fichtenzapfen, sie flüstern von Feuer und Glut. Ein Holunderbusch zeigt eine erste Ahnung von Blattansatz, spielt den Herold der kommenden Wochen. Am Himmel die euklidische Geometrie eines Milans, unten die ausschwärmenden Bienen, ihr Summen übertönt das Rauschen in den Zweigen, und lautlos zwei Zitronenfalter zwischen ihnen, Blüten gleich in diesem Tanz.

Nur ich bin Mensch an diesem Waldrand. Wenn ich weitergehe, wird Covid-19 hier kein Begriff sein, und schon jetzt ist die Welle der Angst – das Ranking nationaler Infiziertenraten, die Katastrophensucht der Live-Blogs auf den Zeitungsseiten, das digitale Trommelfeuer – etwas Unwirkliches, Blasses irgendwo jenseits der Hügel.

Die Macht der Genealogie

Gestern habe ich die ersten Schneeglöckchen gesehen, dabei war da ja noch nicht einmal richtiger Winter. Heute, ein paar Tage vor dem nächsten der Februarstürme, strahlender Sonnenschein, Vorfrühlingswetter, es ist einfach eine Lust zu sein, sogar Vögel zwitschern, als ich vor dem Bioladen des übernächsten Dorfes aussteige. Es ist das erste Mal, dass ich alleine mit der Tochter im Auto unterwegs bin, und ich frage mich, wieso erst jetzt, und dann fällt mir ein, dass das ja gar nicht stimmt, aber nie war es so schön wie heute.

Beim Dorfbäcker ordnet uns der Meister, siebzigjährig und ein entfernter Verwandter meiner Frau, seinen Mitarbeiterinnen gegenüber ein. Schaut, das da ist die kleine A, sie ist die Tochter von B, wisst ihr, die Tochter von C, also die aus D. Und er da ist der Vater von A, er wohnt in E und bald in F und kehrt also heim, so kann man doch sagen, oder?

So schnell bin ich eingeordnet in einen Strom aus Generationen, einem Netz aus Menschen und Orten. So begegneten sich Kamelnomaden in der Wüste und klopften Generation um Generation ab, bis sie sich eingeordnet, bis sie die Welt wieder geordnet hatten; so taten es die alten Weiblein in schwarzen Kleidern, wenn sie auf einem Bänklein zusammentrafen; so hatte es man früher wohl immer schon getan auf der Welt.

In der Stadt, an die ich mich über die Jahre gewöhnt hatte, dem Land entflohen, war das anders. Bande knüpften sich dort aus dem ungebundeneren Geist heraus, aus einer akademischen Lehre vielleicht oder einem Musikgeschmack. Die Nachbarn aber grüßten nicht, keiner tat es bis auf den grauen Juristen, der vom Balkon des dritten Stocks herab lächelte, irgendwann pensioniert, und den ich drei Jahre nach meinem Aufbruch aus der Stadt wiedersah, als ich, für kaum mehr als Augenblicke, in meinen einstigen Hinterhof zurückkehrt war, um diesen meiner Gefährtin zu zeigen, und da begegneten wir ausgerechnet dem ehemaligen Juristen, ausgerechnet ihm und keinem sonst, und er lächelte so freundlich herab wie vor Jahren und ich lachte hinauf und freute mich über dieses Wiedersehen, über diese Würdigung der Vergangenheit, diesen wohlwollenden Schlussstrich.

Und dann denke ich in der Bäckerei, wie die Beziehungslosigkeit der Stadt auch ihre Vorteile hatte, wie sie frei macht von alten Werten und Bewertungen, keiner, dem ich Rechenschaft schuldig war, niemand, den es kümmerte, was ich trieb, den es zu kümmern hatte, was abends in den beleuchteten Fenstern meiner Wohnung geschehen mochte oder auch nicht. Auf dem Land wird alles registriert. Alles wird eingewoben in dieses uralte Beziehungsgeflecht, wie von den Nornen in die Ewigkeit gewoben. Dieses Netz kann auch erwürgen.

Oder das Leben versüßen. „Hast du denn auch was Süßes mitgenommen?“, fragt mich der Bäckermeister, als ich die Klinke schon in der Hand habe. „Hier, nimm doch noch zwei Krapfen mit für den Nachmittag“, steckt er mir eine Tüte zu. Denn wir sind ja verwandt inzwischen, irgendwie.

Der Holderboschen

Räumliche Perspektiven und ihre andauernde Veränderung durch Ortswechsel sind immer wieder überraschend. An der Wasserreserve von Wildberg hatte ich vor ein paar Tagen zum ersten Mal die Pleisspitze bewusst wahrgenommen, und das nur, weil ich ihren Namen auf einer Hinweistafel gefunden hatte und das Auge danach die Erscheinung hinter diesem Namen am Horizont suchte.

Heute erkenne ich den Berg wieder, von unerwarteter Stelle aus. Wie kann es sein, dass ich hier, auf dem Probstrieder Hörnle, eine ganz ähnliche Perspektive einnehme wie ein paar Tage zuvor an einem ganz anderen Ort in einer gefühlt ganz anderen Region?

Erst am Abend begreife ich, was vom ersten Augenblick an irgendwo am Rande meines Bewusstseins war. Die Pleisspitze, das ist ja in Wahrheit nichts anderes als die Bleispitze im Lechtal, ein paar Autominuten vor dem Fernpass, auf der ich doch erst im Spätsommer mit einem Studienfreund war! Also kannte ich diesen Berg längst, stand schon einmal dort oben, was ich nun auf die Ferne zweimal neu entdeckt zu haben glaubte. Der Berg ist bis auf den Gipfel hinauf mit seinen gut 2200 m Höhe von Gras bewachsen. Die letzten Meter des Weges waren brusthoch überwuchert. Wie durch einen Dschungel bahnten wir uns unseren Weg zum Gipfelkreuz. Zwischen summenden Hummeln schlug ich am Kreuz mit seinem Strahlenkranz das Gipfelbuch auf und formulierte dafür um, was mir die jüngste Tochter meines Studienfreundes diktierte. Es war meine letzte Gipfelbesteigung vor der Geburt meiner eigenen Tochter eine Woche später.

Hier auf dem Hörnle, von dem aus wir die Pleisspitze also wiedersehen auf einem Spaziergang mit unserer Tochter, gibt es auch ein Gipfelbuch, obwohl das Hörnle gar kein Gipfel ist, sondern nur eine kleine Anhöhe, ein Buckel, wie man hier sagen würde, und trotzdem schreiben die Menschen – manche ironisch, andere vielleicht weniger – Sätze hinein wie „Berg erklommen“.

Heute zieht hier mal kein Wind durch, oft kann man hier gar nicht sitzen auf dem Bänkchen, weil’s zu schneidend ist. An diesem Januartag geht es aber und wir schauen hinab ins Illertal und die Hügelketten westlich davon und, wenn wir den Kopf drehen, in die Alpen hinein. Schön ist es hier und noch schöner wäre es ohne das Rauschen der Autobahn. Ein Rabe krächzt zwischen Fichten und nackten Eschen, ansonsten nur Autos, Autos, Autos, mal das Knattern eines Hubschraubers, dann das Zischen eines Heißluftballons. Und das Rauschen der Menschen.

Ein älteres Paar kommt herauf, der Mann tastet nach dem Gipfelbuch und trägt – halb in Rücksprache mit seiner Frau, halb in andauerndem Vorwurf in ihre Richtung – etwas ins Buch ein, lobt den Ausblick, das Wetter und all das, verpackt in einem Geschwätz aus Belanglosigkeiten, einem Plätschern von Nichtigkeiten, garniert mit ein paar unnötigen Spitzen und dem Grau von Jahrzehnten einer dumpfen Ehe.

Was bedeutet wohl Glück für diese beiden Menschen? Was treibt sie an, welche Fragen stellen sie sich, wo setzen sie sich ihren Horizont, worin finden sie Erfüllung?

Als sie weiterziehen, sprechen wir es ohne den Drang richten zu wollen, so hoffen wir, aus: Was verbindet uns eigentlich mit diesen Menschen? Mehr als ein paar biologische Funktionen und die gleiche Luft, die wir atmen?

Für den Holunderbusch hinter uns ist die Sache klar: Wir alle sind einfach nur Vertreter der Gattung Mensch. Das ist alles.

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Kwa heri

Wir verabschieden uns von ihm dort, wo von der Straße aus der Weg aus roter Erde in den Bananenwald hineinführt, unter den mächtigen Bäumen, die in den Himmel zu streben begonnen hatten, als sein Urgroßvater hier lebte, ein großer Krieger in jener Zeit, als die Deutschen das Land unterwarfen. Damals wurde unter diesen Bäumen den Göttern gehuldigt, jetzt versammelt uns die Ordensschwester zu einem Abschiedssegen.

Wir stellen uns in einen Kreis, zehn Hände auf den Schultern des Nachbarn. Wind raschelt in den Bananenblättern. Die Ordensschwester dankt für unsere Begegnung, bittet um die Kraft, dass wir unsere Wege in eine vielleicht bessere Welt weitergehen, dass die Liebe und die Achtung zwischen uns bewahrt bleibe.

Dann verabschieden wir uns von ihm, ich spüre, wie sich das Brillenetui in seiner Hemdtasche gegen meine Brust drückt und ich ihn, den ich erst seit wenigen Tagen persönlich kenne, vermissen werde. Seinen unerschöpflichen Humor. Seine Gelassenheit. Seine zutiefst afrikanischen Ausrufe „ah-haaa!“, „ihhhhh!“, „ehhhhh!“. Seine Gabe, zwischen Sprachen, Kulturen, Interessen klug übersetzen zu können. Seine Entschlossenheit, in einer Zeit, als er sich bereits auf den Hof seiner Vorväter – ihre Gebeine liegen zwischen den Bananenbäumen und Kaffeesträuchern – zurückgezogen hat, nochmals einzusetzen für das langjährige, nun schwankende Projekt, von dem doch die Menschen, die Böden, die Umwelt profitieren.

Ich erwarte nicht, dass wir uns noch einmal wiedersehen werden. Als wir ihn zwischen den Bäumen zurücklassen, steige ich ganz hinten im Auto ein. Ich möchte nicht, dass, während zuerst er zwischen den im Wind schwankenden Blättern verschwindet, dann die heiligen Bäume, schließlich die rote Erde Afrikas zurückbleiben, jemand meine Tränen sieht.

Der Kontrapunkt des kleinen Glücks

Der Kopf zerstört wieder einmal nach der Woche, das Wetter – in der Früh noch sonnig – verspricht kalten Wind, Schnee und Regen. Nicht das, was einen hinauslockt zu fünf, sechs Stunden Fußmarsch, nach denen ich mich sehne.

*

Die Einladung der selten gesehenen Nachbarn zum Mittagessen.

Die Heiterkeit des jungen Mannes, der sich, seit morgendunkler Stunde tätig, auf dem Marktstand des heimischen Biogärtners ein Taschengeld dazuverdient.

Die Freundlichkeit des Baristas, der sein Tun ganz offensichtlich liebt.

Die Herzlichkeit der beiden Damen im dörflichen Bioladen. Arbeit und Sorgen haben sie genug, aber jeder Einkauf ist hier echte Begegnung.

Der Frohsinn der Kundin, die auf die Frage „Du bist zu Fuß da? Ist der Korb nicht zu schwer?“ in ihrem Dialekt antwortet: „Ach, das geht gut. Und wenn er zu schwer wird, stell ich ihn eben ab und schaue mich ein bisschen um.“

Und der Tag hat erst angefangen.

*

Der Himmel zieht zu, die Schlechtwetterfront rollt heran, begräbt alles unter sich. Der Kopf lichtet sich.

P.S. Weil es bei Herrn Ärmel und Frau Lakritze eben um das Glück ging.

Gott liebt Sie

„Ah, ich höre Schritte!“
Sie dreht sich um und lächelt mich durch die Dämmerung an.
„Ich habe einen Zettel für Sie!“
„Einen Zettel?“
„Ja, von einem Gottesdienst. Mit Gospelliedern.“
„Danke, das brauche ich nicht.“
„Was brauchen Sie nicht? Keinen Zettel?“
„Keinen Gottesdienst.“
„Glauben Sie schon an ihn?“
„Nein, nicht mehr.“
„Oh nein, was ist passiert???“
„Ach, nichts ist passiert, nur eine Entwicklung über das Leben hin.“
„Aber wissen Sie, er liebt Sie. Er liebt uns alle! Das ist die Wahrheit.“
„Das ist Ihre Überzeugung.“
„Ich habe einen anderen Zettel für Sie. Hier!“
„Na gut. Ihnen alles Gute.“
„Alles Gute und einen schönen Abend!“

Der Zettel war dann nicht so toll. Schuld und Verderben und solche Sachen.

Oder selbst die Strukturen schaffen

Der Hof ist eine Falle und der Wind hat uns hineingetrieben. Verschlossen ist das Gattertor zum Steg, ein Sprung zu weit, alles zu kalt. Ein Fenster öffnet sich und die heimliche Beobachterin zeigt sich als Engel. „Ihr wollt über den Bach? Dann geht dort hinter die Hütte, da ist eine Brücke.“ Wir finden ein Schalbrett überm Gewässer, die Enden auf Ziegeln aufgelegt, mit Schraubzwingen fixiert. Eis liegt auf der Planke. Ich trete auf das Brett, es knackt im Holz, es knackt im Eis, beides trägt. Die anderen folgen, über die weiße Wiese schwärmen wir aus.

In einem russischen Auto werde ich zur Arbeit gefahren von einer blonden Frau mit blassgrünen Augen und blasser Haut, in ihrem Haar hängt Eis. Kühl und nordisch sieht sie aus, aus dem Winter kommend, aber doch, das ginge auch, aus dem russischen Winter, mit jenem Gesichtsausdruck einer unbeeindruckbaren Agentin. Das Auto ist direkt, ungeschminkt und ursprünglich: die Motorengeräusche kernig, die Technik Mechanik, am Handgriff über der Tür hängt ein Karabinerhaken. An den Knien ist es kalt. Die Sonne geht auf, sie wärmt nicht, aber es ist gut.

„Oder selbst die Strukturen schaffen“, sagte ein Kollege am Mittagstisch. Verzweifeln ließe sich leicht an der Welt. Und wenn einen dies und das bearbeitet hat, reicht manchmal der Anblick einer niedergeholzten Hecke, der nun nackten Kreuzung, um in alttestamentarischer Verzweiflung die Hände in die Höhe zu werfen. Das Heilmittel haben wir immer selbst in der Hand. Jeder unserer Einkäufe, jede unserer Begegnungen, jedes unserer Worte ist eine Entscheidung, die wir treffen. Daran denke ich mir, als ich die Hände aus der Höhe sinken lasse und mein Panzerhemd abstreife und den Rock darunter und mit offenem Herzen da stehe und Menschen Worte schenke, die kein Richter auf Erden verlangen würde und die die Welt trotzdem schöner machen.

Es liegt an uns.