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Die Kraft und die Herrlichkeit

Ein Schuss, ein Hall, dann wieder die Glocken des Jungviehs. Das Himmelsrot jenseits der Wälder verblasst, kühl zieht es von den Wiesen herauf. Immerhin war es am frühen Abend noch versöhnlich warm, versöhnlich sonnig nach widrigen Tagen.

Die Kraft war mir ausgegangen, so gründlich, dass ich eine Bergtour vortags nach einer Viertelstunde abgebrochen hatte. Es ging nicht, warum auch immer. Es ging gar nichts – körperlich, seelisch, geistig nicht. Aber das ist natürlich auch wieder Unsinn, das bezeugen die ordentliche Wohnung, der umgeschichtete Lesestapel, die guten Gespräche, der Duft in der Küche, in der ich an einem Wochenende drei, vier Rezepte aus einem spanischen Kochbuch ausprobierte. Der Knoblauch ging als Erstes aus.

Versöhnlich warm und versöhnlich sonnig also der Ausklang des Wochenendes und ich öffnete die Balkontür, durch die die Sonne bis unter den Schreibtisch fiel, und ich zog mich aus und legte mich in diese Schneise aus Licht. Und während ich die Ellbogen links und rechts an den Kästen des Schreibtisches abstützte und die Maserungen der Schublade über mir musterte, ließ ich, vielleicht zum ersten Mal seit Tagen, wirklich los. Und die Kraft kehrte zurück und mit ihr die Herrlichkeit.

Es ist ja dieser eine Satz, den ich, in der mir vollkommen fremd gewordenen kirchlichen Sphäre, ganz und gar bejahe, der, während ich alles davor und alles danach nur aus kühlster Ferne wahrnehme, hinausschmettern möchte, jedesmal wenn ich ihn höre: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“ Wie vor ein paar Tagen wieder einmal, als mich eine Beerdigung nach langer Zeit in eine Kirche hineingeführt hatte, in die Dorfkirche aus Kinderzeiten, der Sebastian rechts vorne immer noch von Pfeilen durchbohrt, alles immer noch begraben unter den Ausschweifungen des Barock. Fremd war mir alles: das Dorf, die Kirche, das Ritual, die Menschen. Alles schien mit Bedeutung aufgeladen, keine Geste war willkürlich, nur dass ich diesen Zeichencode unter der permanenten Beobachtung aller durch alle nicht verstand, nur selbst beobachten konnte, alles und jeden beobachten, und dabei wusste, wie mich jeder als Fremden erkennen würde, nein, nicht einmal am Gesicht, sondern an dem, was ich tat oder nicht tat zwischen ihnen, vor dem Grab, auf dem Weg zwischen Tür und Bank.

„What am I Doing Here“ ist eine Textsammlung von Bruce Chatwin überschrieben, die ich im Flugzeug nach Tansania gelesen hatte, und das fragte ich mich: Was mache ich hier? Ich gehöre nicht hierher, wie ich nirgendwo sonst hingehöre, nicht in die Stadt, nicht aufs Land, nicht in die Ferne noch in die Heimat, nicht hierhin, nicht dorthin. Als ich merkte, wie ich mich in ein ehernes Hemd aus Selbstmitleid zu rüsten drohte, hielt ich inne. Wie wichtig doch auch die Menschen sind, die am Rande stehen! Reisende, Beobachter, Fragensteller, Brückenbauer, Zweifler, wie Bruce Chatwin etwa.

In Afrika erklang jeden Morgen neben der Hotelterrasse der Gottesdienst. In Suaheli und trotzdem waren am Rhythmus, an der Sprachmelodie die Elemente des Zeremoniells wiedererkennbar, während wir mit Blick auf den Victoria-See frühstückten oder unsere Unterlagen für den Tag durchgingen. Doch eines war entschieden anders: die Musik. Sie klang nicht nach zur Schau getragenen Leidensmienen, sondern stieg als mehrstimmiger Lobgesang in die Höhe, von Trommeln und Freudentrillern begleitet, eine Feier der Herrlichkeit, ein wahrhaftiges Halleluja von beinahe zu Tränen rührender Schönheit.

Die Finger fahren nun über die Tomatenstaude und an ihnen bleibt ein Duft des Paradieses zurück. Er mischt sich mit den Aromen frischgebackenen Brotes und gerösteter Auberginen aus der Küche. Kenny Wheeler bläst auf seiner Trompete, zum Gesang von Norma Winstone, zu Gedichten von Fernando Pessoa. Der Himmel dunkelt und das Licht glüht nach. Nicht in Ewigkeit, aber in Kraft und Herrlichkeit.

Gott liebt Sie

„Ah, ich höre Schritte!“
Sie dreht sich um und lächelt mich durch die Dämmerung an.
„Ich habe einen Zettel für Sie!“
„Einen Zettel?“
„Ja, von einem Gottesdienst. Mit Gospelliedern.“
„Danke, das brauche ich nicht.“
„Was brauchen Sie nicht? Keinen Zettel?“
„Keinen Gottesdienst.“
„Glauben Sie schon an ihn?“
„Nein, nicht mehr.“
„Oh nein, was ist passiert???“
„Ach, nichts ist passiert, nur eine Entwicklung über das Leben hin.“
„Aber wissen Sie, er liebt Sie. Er liebt uns alle! Das ist die Wahrheit.“
„Das ist Ihre Überzeugung.“
„Ich habe einen anderen Zettel für Sie. Hier!“
„Na gut. Ihnen alles Gute.“
„Alles Gute und einen schönen Abend!“

Der Zettel war dann nicht so toll. Schuld und Verderben und solche Sachen.

Gedanken am Eingang der Grabkammer

Der Wind weht kalt. Die meisten Bäume tragen auch jetzt noch grünes Laub, am Hang erblüht die Wiese sogar gelb. Der Wind aber, der über die andalusische Ebene bläst, ist so kalt, dass ich mir meine Mütze wünsche im Sonnenschein.

Ich stehe am Eingang der tumba de Servilia. Hohe Treppenstufen führen hinab zwischen steingeschichteten Wänden. Die Pforte in die Grabkammer – freigelegt von Archäologen und heute unbedacht – steht offen. Unmittelbar jenseits der Schwelle leuchtet der Boden auf im Licht der Dezembersonne. Danach Schatten zwischen Steinwänden. Die weitläufige Grabanlage geht auf griechische Vorbilder zurück. Ich zumindest erkenne das nicht. Erahne nur an den Säulenresten, in einem Relikt aus der Antike zu stehen. Ob aber am Rande der Syrischen Wüste oder an der Grenze Schottlands, ob in Rumänien oder Marokko, Köln oder Karthago, das erkenne ich an dem Gestein nicht.

In eine Katakombe darf ich hinabsteigen, über eine fest montierte Aluleiter in eine rechteckige Grube hinab. Fast scharrt der Rucksack am Schacht entlang, ich drücke mich an die Leiter. Dann ein Durchgang in die Finsternis, irrationale Ängste blitzen aus tiefen Schichten meines Hirns auf, dann gewöhnen sich die Augen allmählich an das Dämmerlicht. Ich mache einen Schritt hinein und schließlich hat sich das Auge ganz angepasst und ich erkenne festgestampften Boden, die gemauerten Wände mit den je fünf Urnennischen an der Seite und einer größeren an der Stirnseite.

Das Grabmal stammt aus der frühen römischen Kaiserzeit, als Feuerbestattung allgemein üblich wurde und Urnen mit den Knochenresten in Familiengräbern abgestellt wurden. Später wurden die Knochenreste in eben der Grube beigesetzt, in der der Leichnam eingeäschert worden war, dann brachte das Christentum wieder die Erdbestattung zurück.

Mich beruhigt die Feuerbestattung. Gewiss ist der Akt der Verbrennung eines fleischlichen Körpers kein schöner. Und der Holzbedarf für den Scheiterhaufen – moderner gesprochen: der Energiebedarf unserer Krematorien – enorm. Aber mich beruhigt das reinigende Element. Verkohlte Knochensplitter in einer Urne strömen nicht den Schrecken eines wandelnden Leichnams aus, jener furchtbarsten Abnormalität der Vorstellungskraft. Intuitiv begreife ich, warum frühe Kulturen ihre im Erdreich bestatteten Toten bisweilen mit einem Stein beschwerten oder andere Vorkehrungen gegen eine Wiederauferstehung trafen.

Nun, ich nehme an, dass Gesellschaften, die in ihren Bestattungsriten für eine rasche Auflösung des verwesenden, weichen, schillernden, unsäglich stinkenden Fleisches sorgten – ob durch Feuer oder etwa auch durch Geier und anderes Getier, die das Gebein abnagten -, dass diese Gesellschaften einen anderen Schrecken der wandelnden Toten und Wiedergänger kannten, fleischlos eben, als Geister und Gespenster vielleicht. Sie sitzt tief verwurzelt im menschlichen Sein, diese Angst.

Vom Marktplatz her sind Weihnachtslieder zu hören, süßliche Lieder aus Lautsprechern ausgestrahlt. Die Fußgängerzonen auch der spanischen Städte sind unerträglich in den Wochen vor dem Weihnachtsfest. Der Kommerz erlebt seine Sternstunde, auch in den Werbeausstrahlungen des Fernsehens, zu dem ich an dem einen oder anderen Abend Einblick habe, anders als zuhause. Um die eigentliche Weihnachtsbotschaft geht es dabei längst nicht mehr. Heruntergebrochen ist diese frohe Kunde der Geburt Christi zwar merkwürdig, aber zugegebenermaßen doch tröstlich: Ein Gott inkarniert in der Welt, um sich so opfern zu können für seine eigene Schöpfung und ihr damit ein Weiterleben nach der Schwelle des Todes zu schenken. Zugegebenermaßen, das ist Trost in einer Welt, die nur das Fortbestehen als jammernde Schatten – Schatten unserer selbst im wahrsten Sinne des Wortes – in einer dunklen Unterwelt kennt oder – wieder modern gesprochen – die molekulare Auflösung von Nervenbahnen. Trotzdem ist es nicht meine Botschaft.

„Christ ist geboren“, hängt an roten Fahnen zwischen spanischen Nationalflaggen gegenüber an der Hauswand. „Frohe Weihnachten.“ Hinter mir, aus der anderen Richtung, dringen aus dem arabischen Imbiss religiöse islamische Gesänge. Ein hübscher Kontrast. Meinetwegen auch gute convivencia. Heute mag ich sie beide nicht. Da denke ich wieder an das Bildnis des Jesuitenpaters im Museum der Schönen Künste in Sevilla. Überlebensgroß, ein asketisches, intellektuelles, scharfes und schattenreiches Gesicht – ganz Krieger des Geistes -, der Körper nichts als Schwärze des weiten Gewandes, die ausgestreckte Hand am Totenschädel. Worte braucht diese Botschaft nicht. Wer sie trotzdem in die Sprache übersetzen will, findet sie in einer Kirche einige Straßenzüge weiter. Finis gloriae mundi – „Das Ende irdischen Ruhms“ – oder In ictu oculi – „In einem Wimpernschlag“. In einem Wimpernschlag kann alles nichtig sein, was du dir auf Erden angesammelt, errungen.

Zwei tapas, eine caña, ein café con leche über dem Pflaster des Platzes sind Wimpernschläge des Genusses, während ich diese Zeilen schreibe. Der Wind weht kalt auch hier im Herzen der Stadt und singt weiter sein Lied der Vergänglichkeit.

Spanien_Andalusien_Strand_Vergänglichkeit

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Und Weihnachten ist auch schon wieder vorüber. Der Jahreswechsel aber ist noch in Gange. Ein glückreiches neues Jahr  wünsche ich meinen lieben Leserinnen und Lesern!

Durch die Heidengasse

Durch die Heidengasse der schwäbischen Altstadt kommen mir zwei Araber entgegen. Ich schmunzele. Der Ungläubige, das bin hier wohl ich.

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Sanft legt sich der Abend über die Stadt und vor der evangelisch-lutherischen Kirche Unsere Frauen – ihre Wurzeln reichen bis in die Karolingerzeit zurück – sitzt ein Grüppchen von Frauen auf der Bank, den Hidschab auf dem Kopf, munter auf Arabisch schwatzend. Und dem Agnostiker stiehlt sich ein Lächeln ins Gesicht, als er das Brückchen über den Kanal betritt.