Schlagwort-Archive: Natur

Gang aus der Schwitzhütte

Barfuß gehe ich zur Schwitzhütte hinunter, das Handtuch über der Schulter, auf der anderen schmelzen Schneeflocken. Unter den Füßen knirscht das frische Weiß. Lange habe ich dieses Geräusch nicht mehr gehört. Sonst Stille, wie sie Schneefall immer bringt. Nur die Bäume raunen, als wehte ferne ein Wind.

Den Schreibtisch habe ich halb freigeräumt. Nur freier Raum kann sich füllen, dachte ich mir. Die Fülle ist ja ganz woanders, in engen Grenzen, im engsten Kreis, ganz wörtlich zu verstehen: Familienleben, Alltag zwischen Bewältigung und der Freude am wachsenden Kind. Viele Felder liegen da brach, ich schreibe kaum mehr etwas für den Blog, ich lese kaum mehr etwas auf den Blogs anderer, Kommunikation eingestellt, habe die meiste Zeit vergessen, dass es diese Welt überhaupt gibt.

Der Wolf Andreas, las ich vorhin nun doch, sitzt auch im Schnee, er saß, so schrieb er, und sah das Grauen. Ein paar Stunden Fernsehen ist erschütternd, das weiß ich, das passiert mir alle zwei Jahre mal, dass ich mich irgendwo und allein einem Fernsehgerät stelle, und manchmal träume ich danach schlecht. Und ich frage mich, für wen ist das gemacht, wer will das, wer ist das. Dann muss ich aufpassen, mich nicht in die Verachtung zu retten. Besser frage ich mich, vorsichtshalber: Wenn das da die Welt da draußen ist, habe etwa ich den Kontakt zur Wirklichkeit verloren?

Die Tür zur Schwitzhütte ziehe ich hinter mir zu. Taste mich mit den bloßen Füßen über die Steine, versenke sie im Schnee, ertaste den jungen Winter. Ziehe das Handtuch vor Hals und Brust. Dampfe. Schweißperlen zittern auf meiner Haut oder vielleicht bin ich es, der zittert, und es ist noch immer still und weiß und nur die Bäume raunen, als wehte ferne, sehr ferne ein Wind.

Es gibt so viele Wirklichkeiten.

Waldrand, frei von Angst

Der Wind heute wieder aus Ost, frisch, aber nicht mehr eisig. In den Lärchen raschelt es, als steige ein großes Tier durch die Bäume, ein Geist des Waldes vielleicht. Unter den Füßen knirschen die gespreizten Fichtenzapfen, sie flüstern von Feuer und Glut. Ein Holunderbusch zeigt eine erste Ahnung von Blattansatz, spielt den Herold der kommenden Wochen. Am Himmel die euklidische Geometrie eines Milans, unten die ausschwärmenden Bienen, ihr Summen übertönt das Rauschen in den Zweigen, und lautlos zwei Zitronenfalter zwischen ihnen, Blüten gleich in diesem Tanz.

Nur ich bin Mensch an diesem Waldrand. Wenn ich weitergehe, wird Covid-19 hier kein Begriff sein, und schon jetzt ist die Welle der Angst – das Ranking nationaler Infiziertenraten, die Katastrophensucht der Live-Blogs auf den Zeitungsseiten, das digitale Trommelfeuer – etwas Unwirkliches, Blasses irgendwo jenseits der Hügel.

Freiheit

Zum ersten Mal habe ich an dem mir ja aus gerade diesem Grunde stets so verhassten Silvester nichts getan, was ich nicht machen wollte. Habe mich zu nichts gedrängt gefühlt, zu nichts überwinden müssen, bin keine schalen Kompromisse eingegangen, gleichzeitig keine Spur von Verlust, Entfremdung, Begrenztheit. Versenkung war die richtige Wahl. Von einer Viertelstunde vor Mitternacht bis eine Viertelstunde nach derselben saßen wir in Meditation. Irgendwo dort, da, drüben krachte und knallte und rauchte es. Hier ein stilles Lächeln auf den Lippen.

Von der Wasserreserve bei Wildberg aus öffnet sich ein wunderbarer Blick: auf die Alpenkette, hinüber ins Oberbayerische, das im Dunst verschwimmt, hinunter ins Alpenvorland. Das Neujahr zeigt sich sonnig wie schon die letzten Tage. Selten schenkt diese Jahreszeit der Raunächte so viel Licht wie dieses Mal. Schnee liegt auf den Hügeln immer noch keiner, nur droben in den Bergen, die Flanke der Pleisspitze leuchtet gleißend auf. Hier unten knisterndes Gras, knirschendes Laub, knuspernde Erde, krachende Platten. Eis und Frost herrschen auf unserem Weg und Lichtbahnen zaubern zwischen den Bäumen.

Die Gäste konnten nicht kommen, eine Krankheit hatte sie im letzten Augenblick doch noch aufgehalten. Es galt das Beste daraus zu machen. Anstatt das vegetarische chinesische Menü aufzutischen, kochte ich über einen langen, gemächlichen Abend hinweg immer wieder nur ein Gericht. Wir aßen, wir genossen, wir machten etwas anderes, bis mir einfiel, ich könnte jetzt doch das nächste Rezept ausprobieren. Selten erlauben wir uns so viel Freiheit.

Unter dem First

Gleich versinkt die Sonne hinter Eschen und Fichten. Es ist nach einem grässlichen Morgen noch richtig schön geworden, nur mein Herz ist nervös, weil mit zu viel Druck durch den Tag und den Abend und immer weiter, als gäbe es auch jetzt, als die Sonne untergeht, kein Ruhen.

Die Mücken attackieren seit ein paar Nächten fleißig. Was ist gegen sie auszurichten? Gleich werden sie wieder ausschwärmen aus den Schatten mit ihrem dünnen, spitzen Summen. Wie viel entzückender das Zwitschern der Schwalben auf ihren letzten Runden! Als wäre die Schöpfung nichts als Schönheit. Ich muss an Piran denken an der slowenischen Küste, es dürfte die gleiche Jahreszeit gewesen sein, nur so viel heißer und reicher.

Eine Esche noch wirft den orangen Glanz zurück, die Sonne selbst sehe ich nicht mehr. Ein frischer Hauch zieht von den Wiesen herauf, er lässt frösteln, die Gräser sind bestimmt schon feucht. Ich sehne mich nach Hitze, nach Glut. Eine Hornisse brummt unter dem First.

Esche_Sonnenuntergang_Sonne_Allgäu

 

Das Leuchten des Wassers

„Ich nahm das Wasser, trank es; es war köstlich und leuchtete, wie auch das Glas in meiner Hand.“ Wie Ernst Jünger seinen Opiumrausch beschreibt, so müsste das Leben doch solche Momente auch ohne Rauschmittel schenken, nicht immer, das wäre zu viel verlangt, aber immer wieder. Das nennte ich Lebenskunst. Stattdessen das verhasste Gefühl, nicht zu genügen.

Für den Schnee ist kein Platz mehr, es bleibt nur, ihn mit der Schaufel die Böschung hinaufzuwerfen. Das Handgelenk schmerzt von Stunden windumtost auf deinem Dach, das ich von kniehohem Schnee befreite, der Horizont gleich drüben auf dem Feld ein wirbelndes Weiß, Vorboten eines Sturms. Der Rotz lief mir aus der Nase, langsam sickerte die Nässe durch das Leder der Bergstiefel und das Herz erzitterte vor archaischer Lust. Das Gestern.

Nun schmerzt das Handgelenk, das Frühstück misslingt, der Fluss des Vorabends ist versiegt und ein Mensch ist nicht im Reinen mit sich selbst. „… ständig das Gefühl zu haben, nicht zu genügen, als ob ich scheitere, aber nicht so ganz weiß, warum“, lese ich auf dem Display und ich weiß, wie er sich fühlt.

Es pfeift ums Haus, dem Westwind ausgeliefert, der Schnee wird schwer, die Straße trügerisch, dann kommt der Regen. „Falling Down“, der Widerstand der Ohio-Indianer – Shawnee, Delaware, Mingo im Frontierkrieg -, ein Zitat von Handke, ein Geburtstagsbesuch, einen zweiten schon im Vorfeld abgesagt, ein letztes Mal für heute die Schneeschaufel in die Hand, das Buch von Onetti lege ich weg, zu sehr beunruhigt es mich, also Ernst Jünger, wie bieder der Grabenkämpfer doch sein konnte, also doch lieber wieder Peter Handke?

Dann dreht sich der Schlüssel im Schloss, sie tritt ein und alles ist Vertrauen.

 

Weiß

Am Abend wieder ein paar Bücher aussortiert. Ein Bedürfnis, alles leichter zu machen, weg, weg, weg. Raum schaffen für Neues, das muss es wohl sein, denn für eine Planung hin auf den Tod ist es zu früh.

Gehe ich nochmals in den Hof hinunter, um Schnee zu schaufeln? Ein Blick aus dem Küchenfenster zeigt, es würde sich lohnen. Was ich jetzt noch in der Nacht wegschaffe, wird morgen Früh nicht zur Last. Über dem First krängt, vom Westwind getrieben, der Schnee, löst er sich, wird er hinabstürzen auf das Auto – vorhin noch rot, schon wieder weiß –, woran ich nie denke, wenn ich aus dem Fahrzeug aussteige, froh, den Berg wieder einmal hochgekommen zu sein. Es ist, so betrachtet, doch tapfer, dieses kleine Ding, dessen Entwickler von Sommer in Burgund geträumt haben mögen.

Der Schnee verändert alles: Tagesrhythmen, Raum und Zeit, Innen und Außen, wird Gefahr, wird reinste Schönheit. Morgens schaute ich hinaus, auf die erstarrten Wälder, auf das schwarze Blank des noch frei fließenden Baches, die Weichheit eines jeden Lautes unter dem Fall der Flocken, das Schimmern im Licht, die Klarheit des Atems.

Die Eschen singen nackt im Eis.

Eine ganze Weile irre ich umher …

Eine ganze Weile irre ich umher, bis ich es finde im Hinterland des Städtchens. Nach vorne hin eine bodenständige Gaststätte, liegt mein Ziel versteckt in einem rückseitigen Gebäude. Eine lange, geschwungene Theke, rot bemalte Wände, runde Tischchen zwischen den Schmucksäulen, zugleich unterkühlt und mit einer Ahnung von Kellergeruch, weil sich nur am Freitagabend Menschen in dem sonst toten Raum aufhalten. Es ist Wahrheit und Fiktion zugleich.

Das Schlagzeug setzt ein, der Kontrabass gesellt sich dazu, dann folgen die anderen Instrumente. Die vier Vollblutmusiker sind sich in einer Weltmetropole über den Weg gelaufen waren und standen in dieser Kombination noch nicht zusammen auf der Bühne. Es kümmert sie nicht, sie spielen einfach, finden sich im Musizieren. Und ich fühle mich wie eine Pflanze nach Monaten der Dürre, die beim ersten Regen spürt, was sie die ganze Zeit so sehr vermisst hat. Weit, ganz weit und offen wird meine Brust und ich hätte weinen können vor Glück.

Am nächsten Abend am entgegengesetzten Ende des Allgäus: ein schmuckes, sympathisches Programmkino, ein Espresso, drei Angestellte und vier Gäste im Vorabendprogramm. Wir schauen einen Dokumentarfilm über einen Geiger und es geschieht erneut: Das Ambiente, die geistige Freiheit, „Der Klang des Lebens“ – wieder werde ich ganz weich und ich frage mich, was mache ich da eigentlich zurück im Allgäu, in dieser Ödnis, in der man so weit fahren muss für solche Erlebnisse, für diese kulturelle Nahrung.

Warum, das begreife ich, als ich am Morgen nur zehn Minuten fahren muss, um in einer wunderbaren Landschaft spazieren zu können: Herbstwälder und Moorwiesen, Kühe über grünen Hügeln und Bäche, in deren Klarheit ich am liebsten untertauchen würde. Und noch einmal nachts, als ich empor schaue in das Funkeln der Milchstraße und der Schmerz in meinem Kopf schwindet.

Und morgen – die Berge?

Biberkopf_Allgäuer Alpen_Alpen_Herbst

Mirabellensommer

Nacht

Ein fast voller Mond weckt mich, sein Licht fällt auf mein Gesicht. Ist es schon wieder so weit, wundere ich mich schlaftrunken und sperre ihn aus dem Zimmer. Sein fahles Licht beunruhigt mich. Unruhig die Träume, unruhig der Schlaf, unruhig selbst das Wachen.

Mittag

„Alter, was voll krass ist, wenn du hier hoch gehst, schaltet irgendwann dein Kopf ab. Das ständige stressige Denken hört einfach auf.“ Drei Party-Mädels – Make-up, Tattoos, vergoldete Armbanduhren, ein schicker Riss am Knie der Hose – erreichen den Gipfel. Eine der Frauen trägt oben nur einen schwarzen BH, an ihrem Rucksack schwebt ein Geburtstagsluftballon. Sie werden von den Gipfelrastern begrüßt, wie am Berg eben jeder anständige Mensch grüßt. Zu ihrem 30. wollte das Geburtstagskind, das erfrägt die Runde schnell, unbedingt mal auf einem Berg gewesen sein. Und da schaltet es schon eine Videoverbindung zur Mutter. „Du glaubst nicht, wo ich bin. In Österreich auf einem Gipfel. Schau, da geht es runter. Und die Menschen reden hier alle mit einem.“ Die drei sind ein völliger Fremdkörper auf dem Berg, und umso schöner finde ich, dass sie offen dafür waren, diese Erfahrung zu machen.

Beim Abstieg aus dem tiefen Blau ins Tannheimer Tal nehme ich mir ein Vorbild an dem Geburtstagskind und ziehe mir mein Hemd vom Leib. „Ja so was, hat die Jugend eine Hitze …“, kommentiert ein entgegenkommender ergrauter Bergwanderer. Schneefrei liegt der Serpentinenweg vor uns, die Sonne wärmt meine nackte Haut zum ersten Mal in diesem Jahr, das Glück der Welt ist mit uns. Südhang macht es möglich.

Abend

Unter einem weißen Himmel aus Mirabellenblüten stehe ich. Die Sonne ist fast untergegangen, doch der Baum brummt noch wie ein Bienenstock. Hummeln eilen von Blüte zu Blüte im schwindenden Licht, nutzen die letzten Minuten. Vom grasigen Boden zieht bereits die Abendkälte herauf. Die Hummeln aber hasten weiter. Nie habe ich so viele auf einmal gesehen. Fleißige Arbeiterinnen bis an die Tore der Nacht.

Alpen_Einstein_Tannheimer Tal

Hornissenflug

Morgens in der Hölle von IKEA. Ich treffe eigens schon kurz vor Öffnung ein, um rasch wieder gehen zu können. Ich bin nicht allein. Einige Stoßtrupps haben sich für den Sturm auf das Einrichtungshaus bereits gesammelt. Viele von ihnen scherzen und lachen, als wären sie zum Vergnügen hier. Als ich 45 Minuten später wieder hinaustrete, hängt noch immer Nebel über der Donaustadt, aber der Parkplatz ist bereits voll. Ich bin froh, als ich wieder die Kette der Berge vor mir sehe und den Himmel blau hinter dem Allgäuer Tor.

Die Hornissen fliegen immer noch ein und aus. Ein Wesen, das einem Kolibri ähnelt, aber unmöglich einer sein kann, schwirrt um die letzten Blüten des Gartens. In der heißen Jahreszeit verirren sich diese Taubenschwänzchen manchmal über die Alpen nach Norden. Nun geht der Oktober zu Neige und der Falter tanzt noch immer seinen Kolibriflug. Auf der Südseite ist es warm genug, hemdsärmelig dazusitzen, neben den noch grünen Tomaten. Für sie ist jeder Tag ist ein Vabanquespiel. Nochmals einen Tag an den Stauden reifen lassen oder doch schon vor dem drohenden Erfrierungstod retten? Die Winterreifen, erinnere ich mich da. Vergiss die Winterreifen nicht! Ich habe keine Routine eingeübt, mir um Winterreifen Gedanken zu machen. Wie leicht aber lässt sich das auch vergessen unter dem gelben Wein, wo die Hornissen brummen. Bald werden die Insekten sterben. Einzig die neue Königin wird den Winter überstehen, um dann aus sich heraus ein neues Volk zu erschaffen für einen Sommer lang. Welche Kräfte in diesem einen Tier zum Tragen kommen!

Die Erde wurde von den Tropen aus erobert, aus diesem Garten Eden ohne Jahreszeiten, diesem unentwegt gebärenden Schoß. Die Pioniere, aus dem Paradies verstoßen, hatten einen schlimmsten Feind zu bezwingen: den Mangel an Wasser – schiere Trockenheit oder aber die Kälte, die das Wasser gefrieren und so nicht mehr frei strömen lässt in den Kreisläufen der Eroberer. Aber die Pflanzen fanden Wege, mit dieser Not umzugehen. Und so taten es ihnen die Tiere nach, um den Winter, diese Jahreszeit des Todes, zu überstehen. Abzusterben bis auf die Mutter eines künftigen Zeitalters, die tief verkrochen über die Wintermonate dahindämmert, ist einer von vielen Wegen. Eine Logistik aufzubauen, die es einem privilegierten Teil einer Art erlaubt, jederzeit und in unerhörter Geschwindigkeit Nahrungsmittel aus aller Welt herbeizuschaffen, ist das jüngste Kapitel in der Geschichte dieser Strategien. Der Preis dafür lässt sich nicht im Geringsten in den Währungen messen, die wir in unsere Supermärkte tragen …

Ich schiebe die Gedanken beiseite und teile die Teller aus. Es gibt eine Gemüselasagne der Großmutter, wir essen auf der Terrasse, manche suchen freiwillig die Schattenplätze. Dankbar lasse ich mich auf einem Sonnensitz nieder. Noch fliegen die Hornissen, noch fliegen sie …

Als die Teller leer sind, ist der Himmel zugezogen. Nebel nichtet die Welt. Kälte kommt.

20161029_182419

Gib eine Beschriftung ein