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Eine ganze Weile irre ich umher …

Eine ganze Weile irre ich umher, bis ich es finde im Hinterland des Städtchens. Nach vorne hin eine bodenständige Gaststätte, liegt mein Ziel versteckt in einem rückseitigen Gebäude. Eine lange, geschwungene Theke, rot bemalte Wände, runde Tischchen zwischen den Schmucksäulen, zugleich unterkühlt und mit einer Ahnung von Kellergeruch, weil sich nur am Freitagabend Menschen in dem sonst toten Raum aufhalten. Es ist Wahrheit und Fiktion zugleich.

Das Schlagzeug setzt ein, der Kontrabass gesellt sich dazu, dann folgen die anderen Instrumente. Die vier Vollblutmusiker sind sich in einer Weltmetropole über den Weg gelaufen waren und standen in dieser Kombination noch nicht zusammen auf der Bühne. Es kümmert sie nicht, sie spielen einfach, finden sich im Musizieren. Und ich fühle mich wie eine Pflanze nach Monaten der Dürre, die beim ersten Regen spürt, was sie die ganze Zeit so sehr vermisst hat. Weit, ganz weit und offen wird meine Brust und ich hätte weinen können vor Glück.

Am nächsten Abend am entgegengesetzten Ende des Allgäus: ein schmuckes, sympathisches Programmkino, ein Espresso, drei Angestellte und vier Gäste im Vorabendprogramm. Wir schauen einen Dokumentarfilm über einen Geiger und es geschieht erneut: Das Ambiente, die geistige Freiheit, „Der Klang des Lebens“ – wieder werde ich ganz weich und ich frage mich, was mache ich da eigentlich zurück im Allgäu, in dieser Ödnis, in der man so weit fahren muss für solche Erlebnisse, für diese kulturelle Nahrung.

Warum, das begreife ich, als ich am Morgen nur zehn Minuten fahren muss, um in einer wunderbaren Landschaft spazieren zu können: Herbstwälder und Moorwiesen, Kühe über grünen Hügeln und Bäche, in deren Klarheit ich am liebsten untertauchen würde. Und noch einmal nachts, als ich empor schaue in das Funkeln der Milchstraße und der Schmerz in meinem Kopf schwindet.

Und morgen – die Berge?

Biberkopf_Allgäuer Alpen_Alpen_Herbst

Ein stakender Reiher erhebt sich …

​Ein stakender Reiher erhebt sich, erst am anderen Ende des Sees wagt er einen entrüsteten Ruf und quert dort mehrmals über dem Wasser. Ein Sirren in den Schwarzerlen löst die Stille des Fichtenholzes ab. Es frischt auf. Lange bleibe ich an der kalten Asche eines Lagerfeuers nicht sitzen.

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Weit in den Osten des Landkreises bin ich gefahren, um meinen Pflichten nachzukommen. Die junge Frau im Landratsamt widerlegt mit ihrem Lächeln alle vermeintlichen Fährnisse von Amtsbesuchen, wie ich ja überhaupt seit Jahren auf Ämtern fast nur freundlichen Mitarbeitern begegnet bin. Die Schulungen scheinen Früchte zu tragen, das Wort Bürgerservice Inhalt zu gewinnen – zumindest solange man die Grenzen einer bürgerlichen Rolle nicht austesten muss oder will. Die junge Frau also lächelt und der Klang ihres Dialektes entzückt mich. Plötzlich erscheint sie mir schön.

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Ein Bauer sägt im Holz, ein anderer zieht einen Entwässerungsgraben ins Feld. An der Fassade eines Einsiedelhofes laufen grüne Streifen herab, als hätten die Fensterläden geweint. Der Hof sieht unbewohnt aus, aber das muss nicht unbedingt so sein. Manchmal gibt es sie ja immer noch, diese heruntergekommenen Gehöfte unter der Hand eines heruntergekommenen Eigenbrötlers, bis die Behörden kommen, weil der Bauer das Vieh schindet.

Der nächste Weiler hingegen zeigt sich ganz schmuck und aufgeräumt, die Häuser sind renoviert, eine Kapelle unterm Zwiebeldach strahlt. Hinterm Wald dann ein Alter im Unterhemd über der haarigen Brust, der im Trog den Melkeimer putzt. „Hallo, grüß Gott“, antwortet er. Sein „hallo“ hatte ich nicht erwartet.

Über einen halb zugewachsenen Feldweg, von Birken gesäumt, von rotem Laub aus dem Vorjahr bedeckt, geht es zur Fernverkehrsstraße zurück, ich quere nach einem Bus, der wohl aus dem Oberbayrischen herüberkommt. Der Lech ist nicht weit.

Von einem Weiler aus drei Häusern her verbellt mich ein Hund. Schon auf die Weite überschlägt sich seine Stimme, ohne dass er es wagen würde, einen Schritt näherzukommen. Die Ziegen auf der Weide lassen sich von dem Alarm anstecken, sie suchen Zuflucht auf ihrem Tränkewagen. Ich biege ab, an einem hübschen Hof vorüber, seine Rückseite aber ist eine Ruine. Die Tenne klafft weit auf, die Einfahrt ist zusammengebrochen, Gebälk herabgestürzt, nur noch die Hälfte steht, wie ein von Karies völlig zerfressenes Gebiss.

Hütte_Wald_Allgäu_Ostallgäu

Am Waldrand sitzt ein alter Landwirt, sein schwarzes Rad neben sich. Er sieht aus, als säße er zum Sinnieren auf dieser Bank, einem Rückzugsort also, an dem er über etwas nachdenken könne, was woanders keinen Raum findet. Hinter dem Wald färbt sich der Himmel dunkel.

Der Wind nimmt an Fahrt auf, als ich zwischen den Bäumen hervortrete, und ich weiß, gleich wird es so weit sein. In einer Kehre reißt es Staub vom Feldweg empor, ich stemme mich gegen den Wind. Hinter dem Hügel regnet es schon herab, dafür tauchen im Süden auf einmal die blassen Schemen von Bergen auf, die den ganzen Tag verborgen gewesen waren. Hundert Schritt vor dem Parkplatz klatscht der erste Tropfen auf meine Stirn. Das Wetter bricht los, als ich in das Auto steige, das ich – nach so vielen Jahren ohne PKW – vor ein paar Stunden erst angemeldet habe. Regen rauscht auf das Ostallgäu herab und ich starte den Motor.