Vorfrühling

Morgens durchstieß ich das Eis auf dem Teich, um im Wasser meine Wut zu kühlen. Mittags ließ ich die Jacke, schattseitig hielt sich der Frost, das Eis schmolz bis zum Abend nicht. Im schwindenden Licht bleibe ich endlich stehen. Ein Fuchs tanzt auf der Wiese, jemand zaubert über meinen Kopf eine Handvoll Weidenkätzchen. 

Eine Tür

Eine Tür, das wäre fein.

Eine Tür gegen Kinderweckrufe und nächtliches Husten,

gegen die Brandung vom nächsten Schreibtisch,

gegen den kalten Wind, der die Autoscheiben nochmals weißte und auch zu Vogelgesang bis in die Knochen zieht,

gegen Nachrichten und die Belege menschlicher Gemeinheit sowieso

und vielleicht auch gegen die eigene Unzulänglichkeit.

Und dann zu schauen in aller Ruhe, wer ist denn da eigentlich.

Der Klang von Schnee und eine Lesung am 30. März

„Ich habe heute Nacht gehört, wie der Schnee aufs Gras gefallen ist“, sagt die Tochter morgens, als es wieder weiß war draußen.

Für dieses Blog ist kein Raum zur Zeit, dafür gebe ich eine Lesung am 30. März. Mehr Informationen findet ihr hier:

https://www.rapunzel-welt.de/de/veranstaltungen/lesung-mit-holger-epp-zwischen-zwei-fluegelschlaegen

Bis das Licht erlischt

Ich sitze in der Unterhose auf dem Gullydeckel und tippe.

Der Sommer war schön, früher hätte ich gesagt, er war herrlich. 

Es ist schon richtig: Freiheiten hatte er weniger gebracht, als ich mir gewünscht hätte, ich habe ihn oft eher mittelbar genossen – lebensphasenbedingt –, er war trotzdem schön. Heute, am letzten heißen Tag des Jahres, verlasse ich nach einer weiteren intensiven Arbeitszeit das Büro und biege auf dem Heimweg ab zum Fluss. Ich lasse das Autofenster herunter, begrüße den warmen Wind. Led Zeppelin begleitet den Weg über das Sträßchen hinab. Alles jubelt in mir. Es ist Sommer und ich will ihn feiern, ein paar Minuten lang.

Ich wollte nackt ins Wasser, aber auf der Kiesbank sind ein paar Kinder, also lasse ich die Unterhose an. Ich trete ein in das Grün des Flusses. Er ist nicht tief dieses Jahr, doch es reicht zum Schwimmen. Sofort treibt mich die Strömung ab.

Dann stehe ich da. Die Beine umflossen von Wasser, der Oberkörper umflossen von Licht, steigt Kühle auf, senkt sich Hitze herab. Ich schaue. Lausche. Rieche, fühle. Wellen brechen an Steinen. Die Bäume am Ufer so stumm, wie sie es im August immer sind, als würde die Welt ganz leise. Ein Hauch von Braun im Licht. Meine Körpermitte ein Amalgam der Elemente, schließlich ein Kreuzpunkt des Lebens. Ich spüre mit jeder Faser: Ja, ich bin Teil dieser Welt. Es ist ein gutes Gefühl. Nein, diese Welt ist nicht gut (sie ist ambivalent), aber es ist gut zu spüren, Teil von ihr zu sein.

Ich schließe die Augen und atme den Sommer ein. In jeder Zelle meines Körpers will ich ihn speichern. Will, dass er weiter brennt in mir, durch den nächsten Winter hindurch und immer weiter, bis mein Licht erlischt.

Medialer Overkill

Ich plane einen Kinobesuch, schaue mir ein paar Trailer an und fühle mich danach sehr verspult. Reizbar, verwirrt, unzufrieden und ganz und gar nicht in meinem Körper. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes außer mir. Ein paar buddhistische Achtsamkeitsübungen helfen mir, wieder zu mir zu kommen.

Es ist ein altes Werturteil meinerseits gegenüber Bewegtbildern, sie, zumindest im Rahmen ihrer üblichen Konsummuster, als eine Art Hypnosemasch(in)e zu betrachten. Daher mein bereitwilliger Verzicht auf ‚Fernsehen‘, auch nichtlineares, auch als Häppchen auf den Sozialen Medien, und meine Feier des Kinos als einen magischen Ort – den Tempel eines geheiligten Rituals, das ich bewusst und liebevoll ausführe. Dass mich nun schon ein paar Trailer im Netz reizüberfluten, beunruhigt mich. Ich weiß nur noch nicht, in welche Richtung hin.

Heute waren die Kinder zum ersten Mal in einer Bücherei. Einer Dorfbücherei aus dem letzten Jahrhundert: Frau H. führt freundlich Hoheit, ein Kundenkonto ist durch bloße Nennung der eigenen Adresse erstellt, jedes ausgeliehene Buch – vier Wochen Ausleihe, keinerlei Kosten – erhält einen Stempel. Analog auf einen Papierstreifen.

Für die Kinder war es neu genug. Sie waren kaum mehr aus der Bücherei herauszubekommen, abends stritten sie darum, wer von beiden welches Buch vorgelesen bekam, links und rechts bedrängten sie mich und als wir die Bücher zuklappten, gab’s Zeter und Mordio. Dann regierte nur noch eine urtümliche Schicht ganz hinten im Gehirn. Die kleinste Frustration: Kreischen und Werfen – Dinge durch den Raum, sich selbst auf den Boden. Wie eine veraltete, fast dem Dornröschenschlaf anheimgefallene Dorfbibliothek mit ein paar Kinderbüchern medialen Overkill auslösen kann …

Sie werden das Medium Kinderbuch bald gemeistert haben, ohne irgendwelche Achtsamkeitsübungen zu brauchen. Ich ahne, ich werde sie für meinen Fall immer mehr benötigen.

Birkenklang

Was ist der Gesang der Birken?

Kein Rascheln wie der Laut anderer Belaubter im Wind. Kein Rauschen und kein Raunen. Nicht Flüstern noch Säuseln. Gewiss nicht Schleifen, Scharren, Knarzen, Kratzen.

Vielleicht ein Wispern, hell und dafür, dass es ganz und gar organisch, atmend, aderndurchzogen ist, beinahe kristallen.

Ich hätte gerne einmal eine Birkenfrau getroffen, mehr als jede andere einem Baum Entsprungene.

Eine Birkenfrau also an einem heißen Tag des schon reifen Sommers, am Ufer eines Sees vielleicht.

Das ist Leben

Als ich aussteige, weht mir ein Gluthauch um die bloßen Beine. Wind zeigt sich auf unserem Hügel als häufiger Gast, aber heiß ist er hier oben kaum je einmal. Vielleicht gibt es einen solchen in manchen Jahren gar nicht, zumindest vermisse ich ihn in meiner Erinnerung. Er weht immer woanders. Ich breite die Arme aus und begrüße die Glut.

Auf unserem Halbtagesausflug ins Außerfern heften wir uns an eine Kolonne von Mannschaftswägen der Polizei. Den ganzen Tag über brausen Transporter aus NRW und Hessen und sonst woher hinein in die Alpen, hinüber nach Österreich. Wahrscheinlich sind es Hunderte Fahrzeuge der bundesdeutschen Polizei, die da über die Grenze fahren und einen Halbkreis von 50 Kilometern durch Tirol ziehen, um ein bisschen Fahrtzeit zu sparen auf dem Weg zu Schloss Elms, der G7-Gipfel macht’s möglich. Es ist absurd.

Unser Ziel ist sehr viel greifbarer: ein mehr oder weniger versteckter Bergbach, wenn auch in Zeiten des Internets nicht wirklich ein Geheimtipp mehr, der nur über ein Betriebsgelände zu erreichen ist. Wir schreiten durch das klare Wasser, tragen die Kinder über ausgewaschene Felsen und durch sprudelnde Becken hindurch immer tiefer in die Schlucht hinein bis zum tosenden Wasserfall. Das Licht macht alles überdeutlich präsent: den Himmel, die wiegenden Bäume weit über uns, die steinernen Wände, jeden einzelnen Kiesel und verschmilzt schließlich mit der Reinheit des Bergwassers, glüht auf in der Gischt, versinkt als Smaragdgrün in der Tiefe. Ich lege mich hinein in diesen Rausch und spüre: Ich bin.

Nach der Begrüßung des Windes ist der Entschluss gefasst. Ich entkleide mich und gehe mit dem Kind hinüber in den Garten, aus dem wir ernten dürfen. Nackt bestaunen wir die Pflanzen, ziehen Pak Choi aus dem Hügelbeet, zupfen Blätter vom Salat. Später werden wir in der Küche den Tofu schneiden, Gewürze mörsern, den Duft des Reises schnuppern. Das ist Leben, denke ich mir.

Schakschuka, Freitagmorgen

Es sind ja geist-, jedenfalls aufs Entschiedendste schreibfeindliche Lebensumstände, in denen ich mich finde. Warum also nach monatelangem Schweigen diese flüchtigen Sätze notieren?

Zum Sonnenaufgang aufgestanden und gleich, sozusagen in Unterhose, in die Küche, weil ich etwas kochen wollte, aus Freude am Tun, nicht aus Notwendigkeit, und sonst kein Raum dafür wäre. Kaum hatte sich die Messerschneide auf die Zwiebel gesetzt, reichte mir meine Frau die Kleine. Es ist, dachte ich mir, gar nicht möglich, früh genug vor den Kindern aufzustehen.

Dann doch ein großer Spaß, zusammen zu kochen. Sie auf der Arbeitsplatte, dies und jenes ergreifend, dies und jenes kostend, dies und jenes mit einem Laut kommentierend, selbstverständlich auch alles irgendwann zu Boden werfend. Ich am Benennen, Schneiden, Rühren, Erklären.

Schakschuka war das eine, was ich machen wollte, weil ich am Vorabend aus dem Bioladen reduzierte, da dem drohenden Verfall schon gefährlich nahe Paprika erworben hatte. Ich entschied mich, das Gericht dieses Mal nicht intuitiv zu kochen, sondern nach einem Rezept von Ottolenghi. Das Ergebnis war, mit Safran und etwas Zucker, süßlich und sehr fein, ich möchte fast sagen: persisch. Ein Genuss auf jeden Fall, auch wenn mir eine, sagen wir Mal jemenitische Variante näher gelegen wäre: mit der Schärfe von Chili und Knoblauch und meinetwegen auch Bockshornkleesamen, den ich neben der indischen nur aus der Küche des so furchtbar geschundenen Jemens kenne.

Zweitens wollte ich, denn manchmal packt mich der Wahn oder eher die luftige Begeisterung, die die verehrte Graugans als Wesensart meines Sternzeichens benannt hatte, zweitens wollte ich also in einem Wettlauf gegen die Uhr ein weiteres Gericht von Ottolenghi ausprobieren, der mir in seiner sinnesfrohen, aromatischen Vielfalt vom Mittelmeer bis Ostasien Inspiration für ein ganzes Leben geben könnte.

Ich setze die Linsen auf, lege den grünen Spargel ins simmernde Wasser, werfe den rötlichen Asiasalat in den Mixer, gieße Olivenöl zu, lege Pecorino und Zitrone bereit.

Ein Genuss das Frühstück mit Einschränkungen, denn natürlich ist es wieder zu spät, es ist immer zu spät, egal wann und was ich frühstücke, aber immerhin mit der Großen am Tisch, die inzwischen auch wach geworden war.

Erstaunlich die so grundlegend unterschiedlichen Qualitäten der beiden Gerichte. Der Linsen-Spargel-Salat grün, kühl und ganz und gar vegetabil mit einem starken Element Wasser, obwohl ich den scharfen Asiasalat statt Brunnenkresse verwendet habe. Und ganz rot, warm, fast schon von animalischer Lebendigkeit die, vom Ei abgesehen, rein pflanzliche Schakschuka.

Kantinengesänge

Freitag, nach 13 Uhr. Die Kantine wirkt nahezu leer. Die Vollholzeinrichtung kommt so besonders gut zur Geltung. Und wie leise es ist. Da wird das schalldämpfende Holzmuster an der Decke zur reinen Optik.

Nur von der langen Tafel kommt Stimmengewirr. Auswärtiger Besuch, VertreterInnen eines Verbands, Entscheidunsträger des Unternehmens.

Der Nusszopf ist so leicht, dass ich mir ein zweites Stück geben lasse, obwohl keines den eigentlichen Bedürfnissen meines Körpers mehr entsprochen hätte. Ich schiebe den leeren Teller von mir.

„Cappuccino?“ Ein Löffel klirrt an der Suppenschale. Ratterndes Mahlwerk. „Schönes Wochenende!“ Das klirrende Stapeln von Gläsern in der Spülküche. Die Köche rufen sich etwas zu, Gemurmel aus dem Wintergarten hinter mir, ein Lachen, eine Stimme steigt auf „hätten wir, wären wir“, diskretes Scheppern von Tellern auf Zehenspitzen, Besteck rüttelt, klimpert, zittert, jede Menschenstimme erhält ihren eigenen Klang, dumpf, hart, sanft, lispelnd, rau, hell, vibrierend, ergreifend, fest …

Wie viel dann doch zu hören ist auch an einem solchen Tag, wird man erst ganz Ohr, der Körper schwer von Nuss und Hefeteig.