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Kantinengesänge

Freitag, nach 13 Uhr. Die Kantine wirkt nahezu leer. Die Vollholzeinrichtung kommt so besonders gut zur Geltung. Und wie leise es ist. Da wird das schalldämpfende Holzmuster an der Decke zur reinen Optik.

Nur von der langen Tafel kommt Stimmengewirr. Auswärtiger Besuch, VertreterInnen eines Verbands, Entscheidunsträger des Unternehmens.

Der Nusszopf ist so leicht, dass ich mir ein zweites Stück geben lasse, obwohl keines den eigentlichen Bedürfnissen meines Körpers mehr entsprochen hätte. Ich schiebe den leeren Teller von mir.

„Cappuccino?“ Ein Löffel klirrt an der Suppenschale. Ratterndes Mahlwerk. „Schönes Wochenende!“ Das klirrende Stapeln von Gläsern in der Spülküche. Die Köche rufen sich etwas zu, Gemurmel aus dem Wintergarten hinter mir, ein Lachen, eine Stimme steigt auf „hätten wir, wären wir“, diskretes Scheppern von Tellern auf Zehenspitzen, Besteck rüttelt, klimpert, zittert, jede Menschenstimme erhält ihren eigenen Klang, dumpf, hart, sanft, lispelnd, rau, hell, vibrierend, ergreifend, fest …

Wie viel dann doch zu hören ist auch an einem solchen Tag, wird man erst ganz Ohr, der Körper schwer von Nuss und Hefeteig.

Geht hinaus in den Wind

Die Tochter, die von sich selbst noch nicht einmal als „ich“ spricht, kauft sich mit dem Geld aus ihrer Spardose einen Hufkratzer. Das macht mir ein bisschen Angst. In welchem Alter hatte ich das erste Mal etwas selbst gekauft? Und was war dann da mein Horizont? Süßigkeiten, fürchte ich.

Was mache ich hier eigentlich? Das frage ich mich zum tausendsten Mal. Wozu bloggen? Und wann eigentlich?

In meiner Arbeit stellt sich mir diese Sinnfrage heute nicht. Oh doch, es sticht mir im Rücken und ich fühle mich zerschlagen und einher geht jene Gemütslage, die sich am treffendsten mit dem Wort „zuwider“ ausdrücken lässt. Den maladen Rücken kann ich darauf zurückführen, dass ich aus der dunklen Wärme des Bettes unvermittelt hinaus gegangen war in eine andere, schneidende Dunkelheit, um mit der Schaufel Bahnen zu ziehen durch den Schnee, statt meine Morgenübungen zu machen. (Die Schneeverwehungen in unserem Hof sind nun, abends, wieder einen Meter hoch.) Die Zerschlagenheit erklärt das noch nicht. Immerhin, um den Bogen zum Beginn des Absatzes zu schließen, tragen mich Texte, die redigiert werden wollen, im Flug durch den halben Tag.

Nach dem Mittagessen nehme ich eine Außentreppe an einen luftigen Ort. Der Wind zieht weiße Bahnen durch die Luft, er wirbelt den Schnee in Kreisen herum, schüttelt ihn durch, reißt ihn mit, fährt herum, ich lese Zeichnungen der Tollheit an der Wand des Himmels, einzig für mich geschrieben.

Ich stehe da oben, absichtslos, aufnehmend, ganz und gar körperlich. Und zum ersten Mal an diesem Tag fühle ich mich echt. Spüre ich die Essenz dessen, was ich das rare, kostbare Gut der Wirklichkeit nennen möchte (was das auch immer sei).

Und kann nur raten:

Geht hinaus in den Wind und erfahrt euch!

Tischwechsel

Im großen Tischerücken hatte ich meine neue Insel gefunden. „Du wirst noch anfangen, Gedichte zu schreiben“, scherzte meine Kollegin mit dem französischen Akzent. Ihr Kopf deutete zum Fenster hin.

„Dann müsst ihr aufpassen“, entgegnete ich. „Sobald ich sinnierend in die Ferne schaue und nur ein paar Wörter mit dem Bleistift auf Papier bringe, dann ermahnt mich.“

Ich habe es dann gleich ausprobiert. Ermahnt hat mich in den drei Minuten niemand.

*

Früher musste den Kopf ich wenden
für eine Breitseite aus Blau
und gelegentlich einen Gipfel
jenseits der Wälder.
Nun halbiert eine Lagerhalle
die Weite, wenn ich den Blick hebe,
und statt den Alpenspitzen
tanzen Männer über ein Dach,
das für den Winter
ein neues Kleid erhält.

Andererseits

Es wäre schön, all die Namen der Pflanzen zu wissen, die da draußen gerade blühen, andererseits.

Genau einen Monat ist der letzte Beitrag auf diesem Blog alt, ist da viel passiert in diesem Monat, denke ich mir und will WordPress schon wieder schließen, andererseits.

Die Nacht eine der ermüdendsten, seit wir zu dritt sind, die Moral sowieso bereits darnieder – Ein-Tages-Midlifecrisis, wer es unbedingt gelabelt haben mag, das geht auch wieder vorbei –, in der Ahnung des Morgens wurde ich hinausgeworfen, um auf dem Lager vor dem Bücherregal noch ein wenig Ruhe zu finden, sprich: Energie für den Arbeitstag, aber das hat dann auch nichts mehr gebracht und dann noch der Shitstorm, wo ich doch vor meiner Abwesenheit noch manches zu klären hätte, andererseits.

Also Flucht aus dem Büro, ans Tischchen im Garten, Struktur schaffen, ganze Seiten fülle ich mit Aufgaben, die wir in der Wohnung in den nächsten Wochen noch erledigen wollen, Stare teilen kreischend das Blau über mir, schöner als jedes X-Wing-Geschwader, aber die TIE-Jäger haben mir eh immer besser gefallen, Schwärme von Staren also und selbst die Eschen stehen inzwischen grün, wenn auch noch nicht alle in ihrer Krone voll, und dann noch eine Seite und einen Kaffee und danach eine Romesco-Soße gemacht, extra viel Nüsse, dafür kein Knoblauch, ihr zuliebe, und zum ersten Mal Scamorza-Käse und mit Pilzen und Spargel aufs Brot und dann der Tag eigentlich auch schon wieder rum.

Andererseits.

 

Passierschein

Mittags spaziere ich zum Pestfriedhof. Das war eine andere Nummer: Letalität von 95%. Vögel singen in den noch unbelaubten Bäumen, Blumen treiben aus dem Boden, die Sonne wärmt. Menschen sehe ich nicht. Immer bin ich allein an diesem Ort.

Das war gestern und da lag bereits greifbar in der Luft, was heute verkündet wurde. Der Ministerpräsident verhängt Ausgangsbeschränkungen im ganzen Bundesland. Kolleginnen rationalisieren: Sie hatten ja gesagt, sie müssten zu weiteren Mitteln greifen, wenn sich die Menschen nicht an die ausgegebenen Regeln halten. Ich bin, nicht unwidersprochen, anderer Meinung. Für mich war das Drehbuch längst geschrieben. Verabreicht wird die Medizin dann häppchenweise, so schluckt der Patient sie williger.

Im Windschatten beginne ich zu schwitzen, nur der bemooste Stein unter mir ist noch kalt. Eine Ameise krabbelt über mein Knie. Ich stehe auf und kehre zurück ins Büro. Jeden Tag werden wir weniger. Verdachtsquarantäne als Kontakt zweiten oder dritten Grades, die Entwarnung dann nach Tagen; verrinnende Aufgaben, Unterauslastung, wie der Firmengründer es nennt; Aushilfe in überlasteten Abteilungen, erst dort, dann ein paar weitere drüben. Am Abend weiß niemand: Werde ich die anderen am nächsten Morgen wiedersehen? Darf ich selbst wieder an meinen Schreibtisch?

Es ist ein bisschen Ferienlagerstimmung: überreizt und zugleich nicht ernst zu nehmen – als sei alles ein Spiel, gespielt mit schrillem Gelächter. In den Weidenkätzchen summen schon die Bienen.

Heute also die Nachricht, die Geschäftsführerin verkündet sie eine halbe Stunde später über den Lautsprecher, sie muss sich selbst dabei erst finden, so unbekannt ist ihr die Situation. Der Freitagnachmittagsrest unseres Teams teilt sich auf, den übrigen ihre ‚Passierscheine‘ zukommen lassen. Auf dem Heimweg werfe ich die Schreiben in ein paar Briefkästen, die Alpengipfel verschluckt, der Himmel düster. Wäre es Sommer, wehte gewiss Staub über die einsamen Straßen.

Zuhause feiern wir ein bisschen Nauruz, das persische Frühlingsfest mit seinen uralten Wurzeln, Tag-und-Nacht-Gleiche. Es beginnt für mich das gute halbe Jahr, das nicht so gute halbe liegt nun zurück. Das gefärbte Ei ist mir misslungen, die Schale zersprungen, die Rote Bete hat kaum abgefärbt, aber dafür, dass ich auch noch nie ein Osterei gefärbt habe, soll es mir recht sein. Köstlich dafür der persische Kräuterreis mit seiner Kruste und dazu das letzte, wirklich allerletzte Glas Chutney aus dem vorletzten Herbst, als ich in der Flut der Früchte Abende lang eingekocht hatte: Äpfel, Birnen, Quitten und immer wieder Äpfel, voller Gewürze und wurzelweise Ingwer.

Zu Nauruz legen die Zoroastrier und Parsen ihre heiligen Schriften auf den Tisch, die Muslime den Koran, Christen die Bibel. Und wer es nicht ganz so mit der Religion hat, einen Lyrikband. Im Iran von Hafis, dem Goethe-verehrten, versteht sich. Da meine Hafis-Ausgabe nur ein Reclamheftchen ist, gesellt sich ein zweiter Gedichtband hinzu: „Mein Europa“ – ich will den Glauben daran nicht verlieren – von Michael Krüger, dem Verlagsleiter von Hanser einst. Wir waren im Herbst auf seiner Lesung in der Provinzstadt, die Tochter ein paar Wochen alt, ihre erste Dichterlesung und friedlich eingehüllt in ihrem Tragetuch, es war wunderschön, und wunderschön auch die Widmung Michael Krügers an die jüngste Zuhörerin des Abends. Dann greife ich ein drittes Mal ins Regal und ziehe die Gedichte von Nietzsche heraus. Dieser a-moralisierende Querdenker kann nicht schaden in diesen Tagen. Die Tochter isst zum ersten Mal Reis. Ich könnte ihr Stunden zuschauen, wie sie Lebensmittel erkundet, ertastet, erschmeckt, so voller Ja zum Leben.

Später nochmals online. Die Zeitung voll mit Kriegsmetaphern und ich verstehe nicht, wieso.

Drehrichtung

Die Füße fest, fest im Boden verankert. Das ist die Grundlage allen Tuns: kein Weichen, kein Kippen, kein Aufbegehren der Zehen. Ich spüre jeden Fluchtversuch im Knöchel, den ich am Ostermontag verletzt. Die Beine also parallel, die Füße verwurzelt, gehe ich, das kühle Gewicht auf den Schultern, langsam in die Beuge der Knie, verharre zwei Augenblicke und strecke mich in einer geraden Linie wieder nach oben. Bald rinnt mir der Schweiß die Schienbeine hinab, das Herz hämmert, Muskeln brennen. Mit der Langhantel wuchte ich mich aus der Latrine, in der ich mich morgens fand, einem kleinen neurologischen Ungleichgewicht vielleicht, das ich nun flute mit den süßen, heißen Stoffen aus meinen Zellen, Botenläufern des Glücks im eigenen Kreislauf.

Ich habe noch nie eine Herleitung begriffen, warum wir in der besten aller möglichen Welten lebten. Recht besehen aber haben wir es fantastisch. In der Mittagspause sitzen wir an einem Tisch im Garten, der Himmel über uns halb Sonnenschein, halb Haselzweige. Die Nachbarskatze kommt vorbei, in der gelben Suppe ein Geschmack von Ananas. Wir versuchen uns ein bisschen in Spanisch und lachen mehr, als dass wir lernen.

Es ist eine interessante Taktik: Die Verkäuferin geht vom Sie über zum Ihr (fast drehe ich mich um: Ist da noch jemand?) und wechselt schließlich zum Du. Mir kommt es einstudiert vor, aber ich mag mich täuschen. Besser kann ich mit dem schwäbischen Seniorchef, der mich auf dem Rad über die Teppichbahn schickt – „links herum, wenn Sie rechts herum fahren, kommt es auf Bayern 3“ – und dann, als ich es tatsächlich schaffe, entgegen seiner Anweisung in die falsche Richtung zu starten, sehr trocken meint: „Jetzt fährst du doch rechts herum.“ Und ich hatte mich für einen intelligenten Menschen gehalten.

Allgäu_Hochgrat_Voralpen_Frühling

Sinus

Den Tag über gehen, keine Straße, keine Siedlung, nur die eigenen Schritte. Gehen im Licht, auf Stein, über Wurzeln, die Aufmerksamkeit auf jeden Tritt gerichtet. Den Tag über gehen, bis die Muskeln schmerzen, und aus Quellbächen trinken, einfach den Durst löschen mit dem, was da aus dem Felsen fließt als ein Geschenk.

*

Ob Tanken bei Gewitter gefährlich ist, frage ich mich. Der Wind reißt an den kurzen Hemdsärmeln, ich finde keine Antwort. Spurensuche nach einem bestimmten musikalischen Genre aus einer gewissen Lebensphase. Im Subway hatte ich damals dazu getanzt und zuhause Radiosessions auf Kassette aufgenommen. Auf dem Videoportal höre ich mich durch R’n’B, R’n’B in allen möglichen Kombinationen, House, Deep House, lande irgendwie beim Trip Hop. Aber eine Antwort finde ich nicht. Der Tribut an die Herrin des Turms lässt die Hand sinken, irgendwann spüre ich die Folie eines Riegels zwischen den Fingern nicht mehr. Danke, den Weg ins Bett immerhin finde ich selbst. Am Horizont die rote Sichel des Mondes.

*

In einem Zwischenreich, einem zeitbefreiten Irgendwo zwischen Sport und Arbeit, einen Kaffee neben mir. Möchte hier bleiben, aber irgendwann muss ich hier raus und dann schnellt die Zeit zurück und rächt sich für den billigen Traum eines Feenreiches an der Autobahn. Es ruft also: die nächste Tat.

Arabisch_Essen_Vorspeisen

Es ist doch merkwürdig, denke ich mir später …

Es ist doch merkwürdig, denke ich mir später, als ich aus dem Dachgeschossfenster hinunter auf die Stadtmauer schaue. Da fühle ich mich wie an einem ersten Urlaubstag und dabei beginnt morgen für mich eine neue Arbeit in einer neuen Branche. Aber vielleicht passt das in Wahrheit ganz gut zu einem ersten Urlaubstag: diese Erschöpfung von der Anreise, überreizt von den vielen Eindrücken, nervös vor dem, was da kommen wird. Und diese Wohnung, die ich eben betreten habe, ist mein Feriendomizil – sie wirkt tatsächlich so mit ihrem Holz und ihren Fliesen und ihren Terrakottafarben – und das da draußen ist eine mediterrane Illusion.

An den Busbahnsteigen sind Dörfer und Marktgemeinden des Allgäus und Mittelschwabens angeschrieben, aber der einzige Bus, der zu dieser abendlichen Stunde fährt, ist der Fernbus nach Berlin. Ob darin diese Schwaben sitzen, die in der fernen Hauptstadt ihr Glück zu machen versuchen, Prenzlauer Berg, Schwabenhass? („Es ist selten, dass einer aus Stuttgart nicht nach Berlin zieht“, hatte mein Vinylhändler zum Abschied gestaunt.) Ich erkenne die Gesichter hinter den Scheiben nicht, es ist bereits zu dunkel dafür.

Die Lichter über mir springen an. Ich sitze nach einigen furchtbar kalten Sommertagen auf einer Bank des Busbahnhofes und friere nicht, und ich zögere diesen Moment des Aufbruchs noch hinaus, wenn ich hinübergehen und den Schlüssel im Schloss drehen und die Wohnung betreten und die Taschen abstellen und mich umschauen und wissen werde, wenn ich mich in das fremde Bett lege und die Augen wieder aufschlage, wird eine neue Zeit angebrochen sein. Es schmeckt nach Spanien, nach Andalusien.

Memmingen_Siebendächerhaus_Altstadt_Schwaben_Allgäu_Geschichte