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Wörter malen

Um halb Acht war ich joggen, es war bereits heiß zu einer Uhrzeit, zu der im Winter noch nicht einmal die Sonne aufgegangen ist.

Jetzt hört man wieder das Wort Tropennächte. Hier auf den Grünen Hügeln haben wir die nicht, da kühlt es nachts zu sehr ab. Für Tropennächte müsste ich in die Städte und die Ebenen, um die Hitze bis zum letzten Schluck auszukosten. Gut geschlafen habe ich trotzdem nicht, auch wenn das Wort Tropennächte für mich mehr Sehnsucht weckt als Schrecken.

Nach dem Laufen bleibt mir ein kleines Zeitfenster zum Schreiben. Meine ältere Tochter klettert mir auf den Schoß, kuschelt sich an mich und sagt „Papa lieben“. Da ist an Schreiben nicht zu denken. Ich erkläre ihr, was Worte sind, dass sie gesprochen, aber auch geschrieben werden können, mit der Tastatur, dem Kugelschreiber, dem Bleistift.

Die Tochter sagt etwas, was nach Bleistift klingt, und dann „malen“. Wörter können auch gemalt werden, das ist wahr. Das Wort, das sie nun malt, kann ich nicht lesen. Ich kenne die Schrift nicht, vielleicht verwenden sie Tentakelwesen am anderen Ende der Galaxie.

Das Kind rutscht hinab, stöbert herum und kommt mit einem Büchlein wieder, das einem Notizbuch ähnelt. „Deiben“, kommentiert die Tochter und will also nun nochmals schreiben. Oder vielleicht auch lesen. Denn sie schlägt das Buch auf, ein Kundera, den sie immer wieder herauszieht, ausgerechnet Kundera, den ich nicht so besonders schätze. Dann lese ich einen Halbsatz vor und lasse es wieder.

Manchmal trägt sie den Milan Kundera unter dem Arm herum, oder Paul Auster oder Toni Morrison, zwischen Ellbeuge und Achsel geklemmt mit der Haltung einer gewissenhaften Studentin, und stolziert so herum, bis sie sich wieder erinnert, wer sie wirklich ist und sich an die Mutter wirft, an deren Brust ihr junges Geschwister trinkt.

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P.S. Einen Beitrag Gemalte Wörter gibt es bereits auf meinem letzten Blog.

„Das ist doch Quatsch, das ist Senf“

Der Weg zum Galgenhölzle ist eine Wüstenlandschaft en miniature, geformt und geschliffen vom scharfen Ostwind, der seit ein paar Tagen weht. Jenseits des Scheitels der Schneedünen sammeln sich Schatten. Die flachen Rücken der Dünen fallen in Terrassen ab, gehärtet von den eisigen Temperaturen. Den Menschen tragen sie noch nicht. Der Fuß bricht ein, Platten aus Schnee brechen rings um den Schuh auf: drei, fünf, zehn Zentimeter stark unter dem hellen Februarlicht.

Ich bezweifle, schon einmal einen Winter erlebt zu haben, der so unbeständig ist wie dieser. Um Weihnachten herum bis ins neue Jahr war ich krank, alles war Düsternis und an das Wetter habe ich keine eindeutigen Erinnerungen. Seither aber kippt der Winter vom einen Extrem ins nächste. Der Schnee eines Monats fällt verdichtet in wenigen Tagen herab, türmt sich zu Bergen, nur um in plötzlich und viel zu warm einbrechendem Tauwetter fast in Stundenfrist zusammenzuschmelzen. Erneuter Schneefall, dann stürmische Winde aus West und Verwehungen, die jede Fahrt vom Hügel herab zum Abenteuer machen, blitzschnell Frühlingsgehabe, nochmals Schnee und dann beißender Wind aus Ost und die Verwehungen kriechen von der anderen Seite her über alle Wege und Straßen.

Ruhe, winterliche Ruhe, kehrt nicht ein, stattdessen Purzelbäume zwischen Saharasand und arktischen Strömen. Zumindest die Vögel halten die Minusgrade nicht ab, im Licht des Februars ihren Gesang anzustimmen.

Zur weiteren Naturbetrachtung komme ich nicht, denn Kind und Frau treten auf den Plan. Letztere kommt barfuß über den Schnee. „Ich muss meinen Kreislauf irgendwie in Schwung bringen“, seufzt sie. Später schauen wir ein Kinderbuch an. Die Tochter (knapp anderthalb Jahre, der Rede, von einem halben Dutzend Wörtern abgesehen, noch nicht mächtig) entdeckt auf einem Herbstbild Weintrauben. Sie liebt Trauben. „Da da da!“, deutet sie auf die Früchte und schaut uns erwartungsvoll an.

Meine Frau erklärt ihr, dass es Trauben zur Zeit nicht gibt (jedenfalls nicht auf der nördlichen Hemisphäre und welche aus Chile oder Südafrika kaufen wir nicht, aber das erklärte sie der Tochter nicht). Das Kind beginnt zu weinen.

Trauben gibt es nicht, erklärt die Mutter weiter, aber Rosinen – das sei ja praktisch das Gleiche, nur getrocknet. Rosinen liebt die Tochter auch. Also gehe ich mit ihr zum Küchenschrank und hole die Packung Rosinen heraus. Auf dem Etikett sind pralle, grüne Trauben abgebildet. Im Beutel liegen dunkle, schrumpelige Rosinen. Meine Tochter schaut mich unzufrieden an und tippt auf das Bild. Also erkläre ich geduldig und dreimal hintereinander, was ihre Mutter ihr eben schon gesagt hatte. Endlich greift das Kind in den Beutel und schiebt sich eine Handvoll Rosinen in den Mund. Quod erat demonstrandum.

Wir kehren zum Buch zurück und sofort tippt die Tochter wieder auf die herbstlichen Weintrauben und beginnt zu jammern. „Gib ihr doch nochmals ein paar Rosinen“, bittet mich meine Frau. Doch die interessieren die Tochter nicht mehr. Sie zieht mich zum Kühlschrank. Ich nehme sie auf die Arme und öffne die Tür. Die Tochter scannt den Inhalt. Hm, keine Trauben, so was Blödes. Dann greift sie nach dem Tamarindenmark. Davon hatte ich am Vortag etwas zum Kochen verwendet, während sie mir zugeschaut hatte. „Das kannst du so nicht essen, das muss man erst einweichen“, sage ich ihr. Dann eben etwas anderes. Das Kind sucht umher und tippt auf ein Glas Senf.

„Das ist doch Quatsch, das ist ein Glas Senf“, meine ich. Unsere Tochter isst im Grunde alles, was wir auch essen. Alle Gewürze, in bescheidenem Maßen sogar Chili, und am allermeisten liebt sie Oliven, eingelegte Kapern und Käse, den ich nicht hinunterbekommen würde.

Aber Senf, nein, den verabscheut sie.

Die Sonne geht inzwischen unter und der grimme Ostwind weht noch immer. Morgen aber wird das Wetter kippen, die Temperaturen auf plus 10 Grad schnellen und alles wieder einmal schlagartig anders werden. Wenn man da nicht …

„Du, die Tochter braucht eine neue Windel. Magst du?“

Ein paar Schritte nur

Ein Esel schreit, ein Schaf blökt, ein paar Grillen singen. Die Vögel aber schweigen in der Reife des Sommers. Strohgelbe Felder und goldenes Korn künden von Abschied. Daran ändern auch die Schweißbahnen am Körper nichts. Gluthauch hingegen ist nicht mehr. Das schafft der Sommer nicht mehr, nicht hier draußen außerhalb der Kesselstädte.

Für zwei Tage war ich hinaus, mit alten Freunden wandern, die Familie zuhause. Was ich nicht fand, war Glück, und das Ziehen von Linien mit den eigenen Füßen über die Welt bedeutet mir nichts mehr. Ich spürte es nicht zum ersten Mal, bei den letzten Wanderungen hatte die Freude am langen Gehen, am weiten Ausschreiten bereits zu versiegen begonnen. Anderes steht an.

Diese Entschleunigung aus der Entschleunigung wird noch weitergehen. Je besser die Tochter selbst geht und gehen wird, desto weniger lässt sie sich tragen. Und umso mehr will sie selbst einen Fuß vor den anderen setzen – noch an unserer Hand, aber in ihrem Tempo. In ihrer eigenen Welterkundung, jeder Schritt ein Geschenk aus Entdeckungen. Dann wird sie jeden einzelnen Stein umdrehen, wie das Kinder eben machen. Die Kunst für mich wird sein, die nächste Kurve als Horizont zu akzeptieren lernen. Das heißt dann auch: Die Beobachtung aufs Kleinste richten. Anderen ist das gelungen, selbst beim Abschreiten eines Zimmers nur. (Was sich bei Reisen dieser Art entdecken lässt, zeigte übrigens jüngst der Blog https://alltagseinsichten.com/.)

Ein Esel schreit, ein Schaf blökt, ein paar Grillen singen, das ist dann so etwas wie schwäbische Albidylle. Die beiden Freunde aus Studientagen – bald kennen wir uns länger, als dass wir uns nicht gekannt hatten – sind noch Autos rangieren, damit wir morgen am Ende der Wanderung wieder alle nach Hause kommen. Ich entzünde ein Lagerfeuer und staune wieder einmal, wie leicht das mit Anzündern geht. In meiner Erinnerung an die Kindheits- und Jugendtage, als wir das Haus mit Holz heizten und mit klammen Fingern gespaltenes Holz schichteten in den Öfen, gab es keine Anzünder, jedenfalls war mir das Feuermachen, anders als meinem Vater, verhasst.

Die letzten Sonnenstrahlen des Tages beleuchten den gegenüberliegenden Hang – trockenes Gras, Felsen, Wacholder, Kiefern –, davor schlängelt sich die Lauter. Diesem Bach werden wir am nächsten Tag folgen bis dorthin, wo er am Südrand der Schwäbischen Alb in die Donau mündet. Die Freunde werden anschließend wieder nach Norden fahren und ich in die entgegengesetzte Richtung. Ich freue mich jetzt schon, meine Tochter wiederzusehen und sie auf die Arme zu nehmen. Ich vermisse sie. Nicht durchgehend, aber doch zu der Zeit, in der ich sie vielleicht ins Bett gebracht hätte, wäre ich zuhause. Ich vermisse sie, obwohl ich sie doch erst am Morgen noch gesehen hatte. Das hätte ich früher nicht gedacht, dass ich so empfinden würde. Gestern, als sie unerwartet drei freie Schritte auf mich zugetan hatte, spürte ich vor Ergriffenheit eine Träne im Augenwinkel. Auch das hätte ich nicht erwartet von mir.

Neue Erfahrungen erlauben uns, uns immer wieder selbst zu überraschen. Das, begreife ich, ist ein Schatz, den wir in uns tragen.

Fährten

Im flachen Uferwasser tummeln sich die Kaulquappen, eine Handbreit tiefer dürfte der Moorsee noch unwirtlich kalt sein. Menschen schwimmen noch nicht darin. Nur auf der Wiese liegen ein paar: Radfahrer bei ihrer Rast, drüben FKKler, denn der Weiher ist eines der wenigen Gewässer in der Region, an dem Nacktbaden geduldet wird seit altersher und immer noch, denn unsere Gesellschaft wird ja prüder.

Ich ziehe meine Hand aus dem Wasser und richte mich auf. Das Kind zappelt vor Freude auf meinem Rücken, es brabbelt ein bisschen vor sich hin, versucht über meine Schulter zu schauen, hat die Augen überall. Es ist gerne draußen. Wenn wir morgens als Erstes an den Gartenrand treten, ist sein Blick vollste Aufmerksamkeit – ganz wach und offen gegenüber den Phänomenen der Welt, den Farben der Blumen, dem Gesang der Vögel, dem Wogen der Zweige. Das registriere ich aus müden, von Furchen umrahmten Augen.

Von hier oben, am Eschacher Weiher, liegt einem das halbe Allgäu zu Füßen, und der Blick reicht frei über die Voralpen hin zu den noch weiß geschmückten Gipfeln. Ein Wölkchen ist als Zier in das Blau über den Bergen gesetzt. Neben blühendem Weißdorn machen wir Rast, ein abgeschiedenes Tal unter uns, Grillen singen, ein frischer Ostwind wütet im Haar, ansonsten Licht.

Interessant wird es, wo wir in den Abgrund hineinblicken, an dem wir stehen, sagte die kluge Graugans zu meinem letzten Eintrag. Wenn wir den Fragen nachgehen, sie erwandern, während wir Fuß vor Fuß setzen, und uns nicht nach ein paar streunenden Stunden abwenden, zurück in den Kreis der Familie. Ich stimme ihr vollkommen zu. Und so ließe sich auch aus den wenigen Beschreibungen und Gedanken der vorausgegangenen Absätze – ich lese die Zeilen noch einmal – etwas erwandern. Spuren sind da. Ich müsste ihnen nur folgen, unbeirrt ihrer Fährte folgen und wohin käme ich dann: Da ist Altern. Da sind Angst, Unfreiheit, Einsamkeit. Welche Düfte!

Aber diese Wanderungen gehören hier nicht hin, sie suchen einen anderen Ort.

Als wir über einen Pfad blühende Wiesen queren, fährt die Hand der Tochter immer wieder über meinen Arm. Es ist, als würde sie mich zärtlich streicheln. Das ist eine Form des Glücks.

P1060765_Eschacher_Weiher

Passierschein

Mittags spaziere ich zum Pestfriedhof. Das war eine andere Nummer: Letalität von 95%. Vögel singen in den noch unbelaubten Bäumen, Blumen treiben aus dem Boden, die Sonne wärmt. Menschen sehe ich nicht. Immer bin ich allein an diesem Ort.

Das war gestern und da lag bereits greifbar in der Luft, was heute verkündet wurde. Der Ministerpräsident verhängt Ausgangsbeschränkungen im ganzen Bundesland. Kolleginnen rationalisieren: Sie hatten ja gesagt, sie müssten zu weiteren Mitteln greifen, wenn sich die Menschen nicht an die ausgegebenen Regeln halten. Ich bin, nicht unwidersprochen, anderer Meinung. Für mich war das Drehbuch längst geschrieben. Verabreicht wird die Medizin dann häppchenweise, so schluckt der Patient sie williger.

Im Windschatten beginne ich zu schwitzen, nur der bemooste Stein unter mir ist noch kalt. Eine Ameise krabbelt über mein Knie. Ich stehe auf und kehre zurück ins Büro. Jeden Tag werden wir weniger. Verdachtsquarantäne als Kontakt zweiten oder dritten Grades, die Entwarnung dann nach Tagen; verrinnende Aufgaben, Unterauslastung, wie der Firmengründer es nennt; Aushilfe in überlasteten Abteilungen, erst dort, dann ein paar weitere drüben. Am Abend weiß niemand: Werde ich die anderen am nächsten Morgen wiedersehen? Darf ich selbst wieder an meinen Schreibtisch?

Es ist ein bisschen Ferienlagerstimmung: überreizt und zugleich nicht ernst zu nehmen – als sei alles ein Spiel, gespielt mit schrillem Gelächter. In den Weidenkätzchen summen schon die Bienen.

Heute also die Nachricht, die Geschäftsführerin verkündet sie eine halbe Stunde später über den Lautsprecher, sie muss sich selbst dabei erst finden, so unbekannt ist ihr die Situation. Der Freitagnachmittagsrest unseres Teams teilt sich auf, den übrigen ihre ‚Passierscheine‘ zukommen lassen. Auf dem Heimweg werfe ich die Schreiben in ein paar Briefkästen, die Alpengipfel verschluckt, der Himmel düster. Wäre es Sommer, wehte gewiss Staub über die einsamen Straßen.

Zuhause feiern wir ein bisschen Nauruz, das persische Frühlingsfest mit seinen uralten Wurzeln, Tag-und-Nacht-Gleiche. Es beginnt für mich das gute halbe Jahr, das nicht so gute halbe liegt nun zurück. Das gefärbte Ei ist mir misslungen, die Schale zersprungen, die Rote Bete hat kaum abgefärbt, aber dafür, dass ich auch noch nie ein Osterei gefärbt habe, soll es mir recht sein. Köstlich dafür der persische Kräuterreis mit seiner Kruste und dazu das letzte, wirklich allerletzte Glas Chutney aus dem vorletzten Herbst, als ich in der Flut der Früchte Abende lang eingekocht hatte: Äpfel, Birnen, Quitten und immer wieder Äpfel, voller Gewürze und wurzelweise Ingwer.

Zu Nauruz legen die Zoroastrier und Parsen ihre heiligen Schriften auf den Tisch, die Muslime den Koran, Christen die Bibel. Und wer es nicht ganz so mit der Religion hat, einen Lyrikband. Im Iran von Hafis, dem Goethe-verehrten, versteht sich. Da meine Hafis-Ausgabe nur ein Reclamheftchen ist, gesellt sich ein zweiter Gedichtband hinzu: „Mein Europa“ – ich will den Glauben daran nicht verlieren – von Michael Krüger, dem Verlagsleiter von Hanser einst. Wir waren im Herbst auf seiner Lesung in der Provinzstadt, die Tochter ein paar Wochen alt, ihre erste Dichterlesung und friedlich eingehüllt in ihrem Tragetuch, es war wunderschön, und wunderschön auch die Widmung Michael Krügers an die jüngste Zuhörerin des Abends. Dann greife ich ein drittes Mal ins Regal und ziehe die Gedichte von Nietzsche heraus. Dieser a-moralisierende Querdenker kann nicht schaden in diesen Tagen. Die Tochter isst zum ersten Mal Reis. Ich könnte ihr Stunden zuschauen, wie sie Lebensmittel erkundet, ertastet, erschmeckt, so voller Ja zum Leben.

Später nochmals online. Die Zeitung voll mit Kriegsmetaphern und ich verstehe nicht, wieso.

Socca

Abends backe ich Socca, eine Art Pfannkuchen aus Kichererbsenmehl, angeregt von einem Rezept von Yotam Ottolenghi.  Das Kind in der Bauchtrage dreht seinen Kopf. Es will sehen, was ich da mache. Es beobachtet jeden Handgriff von mir. Da kommt ein Menschlein zur Welt und kann praktisch noch nichts, schläft den größten Teil des Tages, weil es noch so weltfern ist, ein Traumwesen beinahe. Und ein paar Monate später greift es nach der Tasse, die ich an den Mund führe, dreht sinnend die Hand unter dem Strahl des Wasserhahns, will im wortwörtlichen Sinne alles begreifen, und nun auch noch wissen, was ich da mache an der Küchenzeile: Zwiebeln schälen, Fenchel schneiden, Kapern mit einem kleinen Löffel aus dem Glas fischen, Eischnee schlagen und unter den Teig heben … Ich merke, wie ich zu erzählen angefangen habe, jedes Gemüse benenne, jede Zutat, jeden Handgriff erläutere.

Mir ist klar: Das Kind versteht kein Wort von dem, was ich sage. Und zugleich fühlt es sich vollkommen richtig und schön an.

Socca_Kichererbsenpfannkuchen_Ottolenghi_Frankreich

Socca

Nachtwanderung

Trug ich sie in der Wohnung, weinte sie, legte ich sie ab, schrie sie. Also beschloss ich, mit ihr in den Abend hinauszuwandern. Noch ehe ich meine Schuhe anhatte, war sie bereits in der Bauchtrage eingeschlafen.

Über den Feldweg spazierte ich weiter den Hügel hinauf. Im Südwesten waren die Gipfel ein Scherenschnitt vor Orange, alles andere war schon Nacht unter Wolken, das Grün der Felder ausgewaschen zu tiefster Farblosigkeit, schwarz die Wälder. Schnee würde erst Stunden später fallen.

Als ich den nächsten Weiler erreichte, bellte der Hund nicht, wie er es tags immer machte. Wir begegneten uns wie Verschwörer in der Nacht, die sich im Moment des Erkennens zunicken und beide für sich wieder mit dem Dunkel verschmelzen. Über Asphalt schwenkte ich nach Süden. Die Umrisse der Berge waren nicht mehr zu erkennen. Ein paar Lichter brannten dort im Himmel, Flutlichter von Hütten oder Skipisten. Zwei leuchtende Kegel bewegten sich auf mich zu, ich wich auf den Seitenstreifen und schlug vor dem blendenden Licht des Autos die Augen nieder. Die Scheinwerfer zogen scharfe Grenzen in den Schotter des Banketts, rissen die Oberfläche aus ihrem Schlummer und schwärzten die Schatten, bereits die kleinste Vertiefung wurde Finsternis, dann war das Fahrzeug an mir vorbei und die Grenzen wurden wieder weicher.

Durch das Wäldchen waren es nur wenige Hundert Schritt. Alleine hätte sich etwas zwischen den Baumstämmen an mich herangeschlichen: eine Urangst, aus Jahrhunderttausenden in unseren Genen verankert. Doch ich trug ein kleines Menschenleben. Die Verantwortung ließ keinen Raum für Ängstlichkeit.

Als mich das Wäldchen entließ, schritt ich auf einen Horizont roter Lichter zu. Windräder schickten ihre Warnung hinaus in die Nacht. Ein einzelnes Windrad ist rätselhaft. Eine ganze Reihe wird zur Drohung. Haben diese roten Morsezeichen auch eine Wirkung auf die Tierwelt? Es ist ganz offensichtlich, dass die Lichtverschmutzung durch unsere illuminierten Ortschaften eine solche hat; so wie es offensichtlich ist, dass es Kraftfahrzeuge tun nicht nur mit ihrem Motorenlärm, sondern auch den schneidenden Scheinwerfern. Ich fragte mich, ob es Augentiere gibt, die, mir vergleichbar, den Blick heben am Waldesrand und hinüberschauen zu den mahnenden roten Lichtern, ihre Fantasie beflügelt.

Ich traf die Hauptstraße und fand über einen Radweg ins Dorf hinein und alles wurde anders. Fahrzeuge waren nicht länger singuläre Ereignisse in der Nacht, sondern ein auf und ab schwellendes, nie ganz versiegendes Geräusch. Wasser rauschte unter Kanaldeckeln. Fenster leuchteten, versprachen Heim oder auch Traurigkeit, wie diese verwaschenen Vorhänge, von einer gealterten Hand zur Seite geschoben und wieder fallen gelassen, warm dann wieder die Anmutung aus dem halb offenen Stall des letzten Bauernhofs im Ortskern, warm und beruhigend jetzt auch auch der wuchtige, aus hellem, hartem Gestein geschichtete Kirchturm, warm der immer noch mit Kerzen beleuchtete Weihnachtsbaum vor dem Gemeindehaus.

Am anderen Ende des Dorfes kam mir ein Mensch entgegen, sein Gesicht im Schatten. Ich würde diesen Menschen grüßen, auch wenn ich ihn vermutlich nicht kannte, denn ich kannte nur wenige im Dorf. Selbstverständlich würde ich grüßen, etwas anderes kam gar nicht infrage. Aber wie, fragte ich mich. „Grüß Gott“, antwortete ich mir, sollte es ein älterer Mensch sein. Der Gang verriet allerdings kein Alter und so entschloss ich mich doch zum Du und sagte, etwas verhalten, „Griaß di“, und im gleichen Augenblick sagte die Person, so unsicher wie ich, „Servus“ und wir waren schon aneinander vorbei, als wir uns doch noch erkannten. Es war die Nachbarin auf dem Weg zu einem Jahresessen im Dorf. Als sie sah, dass ich die Tochter trug, klang ihr Lachen noch heller. „Hosch a Liacht?“, bot sie mir eine Taschenlampe aus ihrer Jackentasche an. Ich lehnte ab, ich brauchte sie nicht, dankte für diese freundliche Geste aus Zeiten, als Nachbarschaft noch Schicksalsgemeinschaft bedeutet und man einander ausgeholfen hatte.

Draußen, gegenüber dem kleinsten aller Gewerbegebiete, schlug ich nicht das Sträßchen auf den Hügel ein, wobei, auch dieses Gewerbegebiet ist inzwischen gar nicht mehr so klein, auch es frisst sich weiter in die Felder hinein, wie in so vielen Gemeinden, wo gierig Wiese um Wiese verschlungen und der Götze Wachstum geopfert wird, und ich frage mich, wo sind eigentlich all die Menschen, die die Produkte dieses Wachstum benötigen.

Auch die zweite Straße hinauf ließ ich außer Acht, ich schlug die Gegenrichtung ein, spazierte, immer noch auf einem Radweg, an der Hauptstraße in den benachbarten Landkreis hinein. Die Senke zeigte sich als Windschneise, mich fröstelte. Bald suchte ich den Feldweg, der irgendwo rechts abzweigen musste, es war nicht leicht, ihn auszumachen. Scheinwerfer blendeten mich. Wenn sie passierten, suchten sich die Augen wieder an das Dunkel zu gewöhnen, doch da war schon das nächste Fahrzeug heran. Aber dann fand ich den Feldweg doch und kein Scheinwerfer erfasste mich und so tappte ich durch den niedrigen Graben hindurch und über die Straße hinüber und spürte Kieselsteine unter meinen Füßen und hinter meinem Rücken sauste das nächste Auto vorbei.

Nicht nahm ich den inzwischen halb zugewachsenen Weg ins Gehölz, über den wir als Kinder zur Großmutter gegangen waren, ohne Erwachsene zwischen den beiden Hügeln hin und zurückspazierten, erst an der Hauptstraße entlang, damals noch ohne Radweg, dann durch das Wäldchen hindurch und über Feldwege hinauf, niemand hatte sich dabei etwas gedacht, ich weiß nicht, ob das heutzutage anders wäre. Aber etwas hatte ich mir dann doch gedacht damals, denn ich erinnere mich, wie mich, den Ältesten, einmal die Verantwortung in die Träume hinein verfolgt hatte. Wir waren wieder einmal zu dritt unterwegs und da kam etwas abgrundtief Böses hinter uns her und wir mussten um unser Leben rennen und mir war klar, so erbarmungslos klar, dass ich nur die Kraft hatte, einen meiner Brüder aufzunehmen und, mit ihm auf meinem Rücken, loszuspurten – und den anderen sich selbst überlassen musste.

Ganz friedlich war der Weg nun, die Straßen weit genug hinter mir, der Waldrand schweigend, der Grund unter meinen Schuhen weich. Dann erreichte ich das Häuschen, an dem ich in all den Jahren nie vorbeigegangen war, weil es nie auf meinem Wege hatte liegen wollen, obwohl ich es doch täglich sah drunten im Tal, besonders nachts, wenn seine Fenster leuchteten in der weiten Dunkelheit. Keiner der Hunde, die ich vorhin noch hatte bellen hören, schlug auf mich an. Und dann war ich vorbei und hatte doch nichts gesehen von dem Haus, weil es ja dunkel war, und ich wusste, ich würde bald wieder einmal daran vorbeigehen müssen am hellichten Tage.

Ich schlug einen Bogen zurück, bog dieses Mal doch auf den Weg auf den Hügel ein, ging erst unter Birken, dann unter Eschen und schließlich unter der Scheunenauffahrt hindurch, wandte mich, bevor ich das Zuhause erreichte, wieder ab und schritt, wenn auch von zwei Stunden Gehen bereits ermüdet, an den Apfelbäumen entlang wieder hinab, erreichte am kleinen Gewerbegebiet die Hauptstraße, fand zum zweiten Mal ins Dorf hinein und nahm vor dem leuchtenden Baum einen neuen Weg.

Ein paar kalte Regentropfen trafen mich, dann hatte ich die Siedlung bereits wieder hinter mir, stieg an dem nun leeren Hühnergehege, an der nun leeren Schafweide vorbei auf die Höhe hinauf, durch den schneidenden Wind hindurch zu dem einzelnen Gehöft, wo hinter einem Fenster ein einsamer Mann an einem einsamen Tische saß, und kehrte, über ebenjenen Feldweg, auf dem ich vor fast drei Stunden aufgebrochen war, und zuletzt an der knarzenden, im Winterwind immer singenden Esche vorbei, nach Hause zurück. Das Kind schlief immer noch an meiner Brust.