Nachtwanderung

Trug ich sie in der Wohnung, weinte sie, legte ich sie ab, schrie sie. Also beschloss ich, mit ihr in den Abend hinauszuwandern. Noch ehe ich meine Schuhe anhatte, war sie bereits in der Bauchtrage eingeschlafen.

Über den Feldweg spazierte ich weiter den Hügel hinauf. Im Südwesten waren die Gipfel ein Scherenschnitt vor Orange, alles andere war schon Nacht unter Wolken, das Grün der Felder ausgewaschen zu tiefster Farblosigkeit, schwarz die Wälder. Schnee würde erst Stunden später fallen.

Als ich den nächsten Weiler erreichte, bellte der Hund nicht, wie er es tags immer machte. Wir begegneten uns wie Verschwörer in der Nacht, die sich im Moment des Erkennens zunicken und beide für sich wieder mit dem Dunkel verschmelzen. Über Asphalt schwenkte ich nach Süden. Die Umrisse der Berge waren nicht mehr zu erkennen. Ein paar Lichter brannten dort im Himmel, Flutlichter von Hütten oder Skipisten. Zwei leuchtende Kegel bewegten sich auf mich zu, ich wich auf den Seitenstreifen und schlug vor dem blendenden Licht des Autos die Augen nieder. Die Scheinwerfer zogen scharfe Grenzen in den Schotter des Banketts, rissen die Oberfläche aus ihrem Schlummer und schwärzten die Schatten, bereits die kleinste Vertiefung wurde Finsternis, dann war das Fahrzeug an mir vorbei und die Grenzen wurden wieder weicher.

Durch das Wäldchen waren es nur wenige Hundert Schritt. Alleine hätte sich etwas zwischen den Baumstämmen an mich herangeschlichen: eine Urangst, aus Jahrhunderttausenden in unseren Genen verankert. Doch ich trug ein kleines Menschenleben. Die Verantwortung ließ keinen Raum für Ängstlichkeit.

Als mich das Wäldchen entließ, schritt ich auf einen Horizont roter Lichter zu. Windräder schickten ihre Warnung hinaus in die Nacht. Ein einzelnes Windrad ist rätselhaft. Eine ganze Reihe wird zur Drohung. Haben diese roten Morsezeichen auch eine Wirkung auf die Tierwelt? Es ist ganz offensichtlich, dass die Lichtverschmutzung durch unsere illuminierten Ortschaften eine solche hat; so wie es offensichtlich ist, dass es Kraftfahrzeuge tun nicht nur mit ihrem Motorenlärm, sondern auch den schneidenden Scheinwerfern. Ich fragte mich, ob es Augentiere gibt, die, mir vergleichbar, den Blick heben am Waldesrand und hinüberschauen zu den mahnenden roten Lichtern, ihre Fantasie beflügelt.

Ich traf die Hauptstraße und fand über einen Radweg ins Dorf hinein und alles wurde anders. Fahrzeuge waren nicht länger singuläre Ereignisse in der Nacht, sondern ein auf und ab schwellendes, nie ganz versiegendes Geräusch. Wasser rauschte unter Kanaldeckeln. Fenster leuchteten, versprachen Heim oder auch Traurigkeit, wie diese verwaschenen Vorhänge, von einer gealterten Hand zur Seite geschoben und wieder fallen gelassen, warm dann wieder die Anmutung aus dem halb offenen Stall des letzten Bauernhofs im Ortskern, warm und beruhigend jetzt auch auch der wuchtige, aus hellem, hartem Gestein geschichtete Kirchturm, warm der immer noch mit Kerzen beleuchtete Weihnachtsbaum vor dem Gemeindehaus.

Am anderen Ende des Dorfes kam mir ein Mensch entgegen, sein Gesicht im Schatten. Ich würde diesen Menschen grüßen, auch wenn ich ihn vermutlich nicht kannte, denn ich kannte nur wenige im Dorf. Selbstverständlich würde ich grüßen, etwas anderes kam gar nicht infrage. Aber wie, fragte ich mich. „Grüß Gott“, antwortete ich mir, sollte es ein älterer Mensch sein. Der Gang verriet allerdings kein Alter und so entschloss ich mich doch zum Du und sagte, etwas verhalten, „Griaß di“, und im gleichen Augenblick sagte die Person, so unsicher wie ich, „Servus“ und wir waren schon aneinander vorbei, als wir uns doch noch erkannten. Es war die Nachbarin auf dem Weg zu einem Jahresessen im Dorf. Als sie sah, dass ich die Tochter trug, klang ihr Lachen noch heller. „Hosch a Liacht?“, bot sie mir eine Taschenlampe aus ihrer Jackentasche an. Ich lehnte ab, ich brauchte sie nicht, dankte für diese freundliche Geste aus Zeiten, als Nachbarschaft noch Schicksalsgemeinschaft bedeutet und man einander ausgeholfen hatte.

Draußen, gegenüber dem kleinsten aller Gewerbegebiete, schlug ich nicht das Sträßchen auf den Hügel ein, wobei, auch dieses Gewerbegebiet ist inzwischen gar nicht mehr so klein, auch es frisst sich weiter in die Felder hinein, wie in so vielen Gemeinden, wo gierig Wiese um Wiese verschlungen und der Götze Wachstum geopfert wird, und ich frage mich, wo sind eigentlich all die Menschen, die die Produkte dieses Wachstum benötigen.

Auch die zweite Straße hinauf ließ ich außer Acht, ich schlug die Gegenrichtung ein, spazierte, immer noch auf einem Radweg, an der Hauptstraße in den benachbarten Landkreis hinein. Die Senke zeigte sich als Windschneise, mich fröstelte. Bald suchte ich den Feldweg, der irgendwo rechts abzweigen musste, es war nicht leicht, ihn auszumachen. Scheinwerfer blendeten mich. Wenn sie passierten, suchten sich die Augen wieder an das Dunkel zu gewöhnen, doch da war schon das nächste Fahrzeug heran. Aber dann fand ich den Feldweg doch und kein Scheinwerfer erfasste mich und so tappte ich durch den niedrigen Graben hindurch und über die Straße hinüber und spürte Kieselsteine unter meinen Füßen und hinter meinem Rücken sauste das nächste Auto vorbei.

Nicht nahm ich den inzwischen halb zugewachsenen Weg ins Gehölz, über den wir als Kinder zur Großmutter gegangen waren, ohne Erwachsene zwischen den beiden Hügeln hin und zurückspazierten, erst an der Hauptstraße entlang, damals noch ohne Radweg, dann durch das Wäldchen hindurch und über Feldwege hinauf, niemand hatte sich dabei etwas gedacht, ich weiß nicht, ob das heutzutage anders wäre. Aber etwas hatte ich mir dann doch gedacht damals, denn ich erinnere mich, wie mich, den Ältesten, einmal die Verantwortung in die Träume hinein verfolgt hatte. Wir waren wieder einmal zu dritt unterwegs und da kam etwas abgrundtief Böses hinter uns her und wir mussten um unser Leben rennen und mir war klar, so erbarmungslos klar, dass ich nur die Kraft hatte, einen meiner Brüder aufzunehmen und, mit ihm auf meinem Rücken, loszuspurten – und den anderen sich selbst überlassen musste.

Ganz friedlich war der Weg nun, die Straßen weit genug hinter mir, der Waldrand schweigend, der Grund unter meinen Schuhen weich. Dann erreichte ich das Häuschen, an dem ich in all den Jahren nie vorbeigegangen war, weil es nie auf meinem Wege hatte liegen wollen, obwohl ich es doch täglich sah drunten im Tal, besonders nachts, wenn seine Fenster leuchteten in der weiten Dunkelheit. Keiner der Hunde, die ich vorhin noch hatte bellen hören, schlug auf mich an. Und dann war ich vorbei und hatte doch nichts gesehen von dem Haus, weil es ja dunkel war, und ich wusste, ich würde bald wieder einmal daran vorbeigehen müssen am hellichten Tage.

Ich schlug einen Bogen zurück, bog dieses Mal doch auf den Weg auf den Hügel ein, ging erst unter Birken, dann unter Eschen und schließlich unter der Scheunenauffahrt hindurch, wandte mich, bevor ich das Zuhause erreichte, wieder ab und schritt, wenn auch von zwei Stunden Gehen bereits ermüdet, an den Apfelbäumen entlang wieder hinab, erreichte am kleinen Gewerbegebiet die Hauptstraße, fand zum zweiten Mal ins Dorf hinein und nahm vor dem leuchtenden Baum einen neuen Weg.

Ein paar kalte Regentropfen trafen mich, dann hatte ich die Siedlung bereits wieder hinter mir, stieg an dem nun leeren Hühnergehege, an der nun leeren Schafweide vorbei auf die Höhe hinauf, durch den schneidenden Wind hindurch zu dem einzelnen Gehöft, wo hinter einem Fenster ein einsamer Mann an einem einsamen Tische saß, und kehrte, über ebenjenen Feldweg, auf dem ich vor fast drei Stunden aufgebrochen war, und zuletzt an der knarzenden, im Winterwind immer singenden Esche vorbei, nach Hause zurück. Das Kind schlief immer noch an meiner Brust.

16 Gedanken zu „Nachtwanderung

  1. Eberhard Rapp

    Also das Schreiben hast du nicht verlernt, lieber Holger, wunderschön und präzise zugleich … Immer noch wünsche ich dir einen gescheiten Verlag und dann dein erstes Buch. Und dann dein zweites … Es ist ein Genuss, das zu lesen.

    Viele Grüße aus dem hohen Norden Eberhard

    Eines von (fast) unendlich vielen …

    … und noch eines …

    … und noch eines …

    … kann meine Geschichten leider nur fotografieren :–)

    >

    Gefällt 3 Personen

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    1. zeilentiger Autor

      Lieber Eberhard, das ist ja schön, von dir zu hören! Danke dir für deine guten Wünsche. Mir wäre es nur recht, wenn es dazu käme.

      Deine Fotografien werden im Kommentar leider nicht angezeigt. Magst du sie mir per E-Mail nochmals schicken? Ich würde mich freuen.

      Gefällt 2 Personen

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  2. Ulli

    Seitdem ich dir und deinem Blog folge, habe ich schon einige Wanderungen mit dir gemacht. So, wie du schreibst, wachsen Landschaften, Dörfer vor meinem inneren Auge, so auch heute wieder, nun angereichert mit dem Licht- und Schattenspiel der vorbeifahrenden Autos.
    Kleine Menschlein können tief und gut schlafen, wenn sie vor Vaters oder Mutters Brust getragen werden, sie hören dann den vertrauten Herzschlag und alles ist gut.
    Liebe Grüße und immer nur Gutes für euch,
    Ulli

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    1. zeilentiger Autor

      Es ist sehr schön und gar nicht selbstverständlich, liebe Ulli, dass du schon so einige Wanderungen mit mir über den Blog gemacht hast. Danke fürs Mitgehen – in jeder Hinsicht!

      Sei herzlich gegrüßt
      Holger

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  3. Savion

    Beeindruckende Zeilen, vielen Dank, dass du uns daran teilhaben lässt! Erschien mir der vergangene Text in so versöhnlicher Stimmung, so war es das Phänomen der Notwendigkeit, das mir bei der Lektüre dieser Worte in den Sinn kam. Nicht aufdrängend, nein, eher eine Gelassenheit angesichts des Sogs der Schritte (und der Worte!). Vielleicht auch ein Vertrauen auf und in den Weg, den es zu beschreiten gilt. Wandern und Schreiben haben so viel gemein scheint mir.

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    1. zeilentiger Autor

      Ah, „Notwendigkeit“, das ist interessant. Es gibt ja ein paar Bücher übers Wandern und Schreiben, aber das, was ich davon gelesen habe, hat mich nicht so umgehauen. Also weiterwandern, weiterschreiben …

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  4. Herr Ärmel

    Eine berührend erzählte Begebenheit. Und so schön erzählt, so langsam, leise, so voller Atem und Bedacht. Und die Achtsamkeit. Ich danke Ihnen für Ihre Mitteilungen.
    Herzliche Grüsse,
    Herr Ärmel

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