Archiv für den Monat März 2018

Das Leben will

An einem solchen Tage entfällt jeder Grund zum Schreiben. Das erste frühlingshafte Sonnenwochenende dieses Jahres, die erste Biene, die durchs Fenster fliegt. Stundenlanges Dahinziehen über Hügel, den wintermüden Füßen Auslauf geben, stundenlanges Sitzen in Gärten, in Gesellschaft oder mit einem Buch, Vogelsang und Bergblick, gemeinsame Gipfelpläne, Handwerkermarkt, Kuchen, aber die Liebe. Da, Schneeglöckchen! Endlich ist der Vorfrühling Fakt. Ein Dompfaff wäscht sich, seine Gefährtin wirbelt das Wasser silbrig auf. Der Onkel schleift das Bogenholz, „ein krummer Hund“. Marc Moulin, Placebo Sessions im Sonnenuntergang. Das Gesicht glüht von der Ernte des Tages.

Leben als Glück – auch das ist möglich.

Don‘t you mind people grinnin‘ in your face

Den Goetz angefangen. Eine Karte lag bei – „intellektuelles Futter für dich auf dem Berg“ – und ein Exemplar der Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe natürlich, und ich fühlte mich wirklich wie auf einem Posten im Busch, einem Herzen der Finsternis, schwarz und träge wie Melasse, auch wenn da keine Schrumpfköpfe auf den Pfählen stecken, denn hier wird ja alles niedergemacht, Baumgemetzel, bevor der Frühling kommt, und letzte Woche zur gleichen Zeit schon wieder die immer größer werdenden Traktoren, die immer größere Mengen Gülle ausfahren in ihrer mörderischen Logik eines Größerwerdens, Wachse oder weiche, und es ist ja ein Witz, dass die Leute immer noch ins Allgäu in den Urlaub fahren, denn das ist nur noch die Parodie einer Landschaft. Und dann also der Goetz, Dekonspiratione, von den Feuilletonisten verrissen damals, und ich komme kaum mehr los von dem Buch, und ich notiere mir, auf dem Rücken liegend: Ich will gegen die Mauern anschreiben, die mich hier einengen. Such dir alles, was Widerstand bietet, und dann schreib darüber.

Der nächste Tag dann wieder Müdigkeit, Broterwerb, Kopfschleimkanäle, draußen Schnee. Die Knoblauchsoße mittags genial immerhin.

Der Kontrapunkt des kleinen Glücks

Der Kopf zerstört wieder einmal nach der Woche, das Wetter – in der Früh noch sonnig – verspricht kalten Wind, Schnee und Regen. Nicht das, was einen hinauslockt zu fünf, sechs Stunden Fußmarsch, nach denen ich mich sehne.

*

Die Einladung der selten gesehenen Nachbarn zum Mittagessen.

Die Heiterkeit des jungen Mannes, der sich, seit morgendunkler Stunde tätig, auf dem Marktstand des heimischen Biogärtners ein Taschengeld dazuverdient.

Die Freundlichkeit des Baristas, der sein Tun ganz offensichtlich liebt.

Die Herzlichkeit der beiden Damen im dörflichen Bioladen. Arbeit und Sorgen haben sie genug, aber jeder Einkauf ist hier echte Begegnung.

Der Frohsinn der Kundin, die auf die Frage „Du bist zu Fuß da? Ist der Korb nicht zu schwer?“ in ihrem Dialekt antwortet: „Ach, das geht gut. Und wenn er zu schwer wird, stell ich ihn eben ab und schaue mich ein bisschen um.“

Und der Tag hat erst angefangen.

*

Der Himmel zieht zu, die Schlechtwetterfront rollt heran, begräbt alles unter sich. Der Kopf lichtet sich.

P.S. Weil es bei Herrn Ärmel und Frau Lakritze eben um das Glück ging.

Gott liebt Sie

„Ah, ich höre Schritte!“
Sie dreht sich um und lächelt mich durch die Dämmerung an.
„Ich habe einen Zettel für Sie!“
„Einen Zettel?“
„Ja, von einem Gottesdienst. Mit Gospelliedern.“
„Danke, das brauche ich nicht.“
„Was brauchen Sie nicht? Keinen Zettel?“
„Keinen Gottesdienst.“
„Glauben Sie schon an ihn?“
„Nein, nicht mehr.“
„Oh nein, was ist passiert???“
„Ach, nichts ist passiert, nur eine Entwicklung über das Leben hin.“
„Aber wissen Sie, er liebt Sie. Er liebt uns alle! Das ist die Wahrheit.“
„Das ist Ihre Überzeugung.“
„Ich habe einen anderen Zettel für Sie. Hier!“
„Na gut. Ihnen alles Gute.“
„Alles Gute und einen schönen Abend!“

Der Zettel war dann nicht so toll. Schuld und Verderben und solche Sachen.

Der Gott der Lemminge

Am Abend nehme ich das erste Mal den Gesang der Amsel war, nachts träume ich, der kommende Sommer sei ohne Hitze bereits vergangen, feuer- und lichtlos schon wieder Herbst. Vielleicht deshalb das Ziehen in Knien und Knöcheln, als ich erwache.

Um Viertel nach Sieben eine Schlange vom Dorfbäcker auf die Straße hinaus. Ich halte nicht. Es ist einer dieser Widersprüche, dass ich mit dem Dorf nichts zu tun habe. „Ein Integrationsprogramm?“, schlägt die Studentin aus dem Nachbarweiler vor, die ich in einem ganz anderen Kontext kennengelernt habe. Von dort, dem Nachbarweiler, hat man einen fantastischen Ausblick auf die Alpen, von Irgendwo-in-Oberbayern – ich kenne die Gipfel nicht – bis in die Ostschweiz. Der Wind dafür umso dringlicher dort oben, versteht sich.

Dazwischen ein einsamer Hof, der Sohn war der einzige, der mit mir aus der Volksschule hinübergewechselt war ins Gymnasium in der Stadt. Die Dritte, die von unserer Klassenlehrerin die Empfehlung bekommen hatte, zu wechseln – völlig zu Recht natürlich -, zögerte und kniff. Da fühle sie sich überfordert, das brauche sie doch nicht. Es waren andere Zeiten als heute. Unsere Mütter hatten sich dann eingesetzt, dass wir zwei Wechsler in der neuen Schule nebeneinander saßen, uns Stütze und Orientierung sein konnten in der fremden, großen Welt. (In der ich, nebenbei, zum ersten Mal Protestanten kennenlernte, bewusst wahrnahm jedenfalls, denn davor war alles katholisch gewesen mit ein paar Sprengseln Esoterik und Yogitum, in dem man zuhause halt lieber ein Mantra sang als das Vaterunser.) Eine förderliche Entscheidung war es nicht, uns zusammenzusetzen, denn der andere tat das, was man später vermutlich Mobbing genannt hätte, und unsere Wege trennten sich bald und gründlich.

Die Berge treten überklar hervor, wie vergrößert. Schneeweiß die Rinne am Gaishorn, die ich im Sommer hochgestiegen bin. Auf dem Wochenmarkt der Stadt kaufe ich das, was ich am Vorabend im Bioladen nicht mehr bekommen habe, gönne mir ein Frühstück, das erst dann wieder voller Genuss sein wird, wenn der Markt nach Ostern aus der Halle wieder auf den Platz wandern wird, und weil ich Zeit zu überbrücken habe – Frühform einer senilen Bettflucht -, trinke ich einen zweiten Cappuccino drüben in Paulas Cucina Toscana, die sich natürlich mit Apostroph schreibt wie die meisten, weil der Genitiv ja aussterbend und damit offenbar keinem Gast mehr zumutbar ohne Apostroph, was übrigens, wie mir ein Philosophiedozent einmal erzählt hat, in „Klau‘s Würstchenbude“ seinen aberwitzigen Höhepunkt findet. Es ist zu viel Koffein, das weiß ich, bevor ich die Bestellung aufgegeben habe, das ist mir völlig klar, und trotzdem steuere ich einfach weiter geradeaus, ich weiß, wie unsinnig es ist, was ich tue und ändere doch nichts.

Ich denke zurück an den Vortrag der Psychologin auf dem Forum Fairer Handel darüber, weshalb wir nicht das tun, was wir wissen – was wir also rational als folgerichtig erkannt haben. Nehmen wir eine Alltagsentscheidung, deren ethische Sinnhaftigkeit wir rational vollkommen erfasst haben und die umzusetzen wir alle Mittel haben, auch wenn sie ein wenig mehr von uns abverlangt. Werden wir diese Entscheidung also in diesem Sinne treffen? Nein, eben nicht! Die Wahrscheinlichkeit, dass wir unsere Entscheidung tatsächlich gemäß unserer Erkenntnis fällen, liegt – wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe – nur bei 30 %. Und sinkt durch vielerlei alltägliche Faktoren – etwa die Müdigkeit nach einem Arbeitstag – noch weiter. (Fun fact: Untersuchungen haben ergeben, dass Ethiker – Professoren der Ethik oder andere Menschen, die sich beruflich mit ethischen Begründungen, Fragestellungen und Handlungsanweisungen befassen, nicht ethischer handeln als andere Menschen.)

Um unser Gefühl eines freien Falls etwas abzumildern, gab uns die Psychologin anschließend Ansätze an die Hand, wie wir diese Wahrscheinlichkeit etwas erhöhen können. Fatalerweise erinnere ich mich genau an diese Strategien nicht mehr, als habe der Gott der Lemminge, diese blinde und in letzter Konsequenz selbst- und fremdvernichtende Bequemlichkeit, Zensur geübt in meinem Erinnerungsspeicher.

Der Sache werde ich nachgehen. Zuerst aber zum Frisör, die Zunge zu bitter, der Puls vom schwarzen Gold in die Höhe getrieben.

P.S. Auch wenn ich weniger in Blogs lese (und weniger schreibe), abonniere ich manchmal trotzdem einen neuen. In diesem Sinne unbedingt empfehlenswert:

https://libralop.de/ – ein Chronist des Alltags

https://athenmosaik.wordpress.com/ – Stadtflaneurin

Oder selbst die Strukturen schaffen

Der Hof ist eine Falle und der Wind hat uns hineingetrieben. Verschlossen ist das Gattertor zum Steg, ein Sprung zu weit, alles zu kalt. Ein Fenster öffnet sich und die heimliche Beobachterin zeigt sich als Engel. „Ihr wollt über den Bach? Dann geht dort hinter die Hütte, da ist eine Brücke.“ Wir finden ein Schalbrett überm Gewässer, die Enden auf Ziegeln aufgelegt, mit Schraubzwingen fixiert. Eis liegt auf der Planke. Ich trete auf das Brett, es knackt im Holz, es knackt im Eis, beides trägt. Die anderen folgen, über die weiße Wiese schwärmen wir aus.

In einem russischen Auto werde ich zur Arbeit gefahren von einer blonden Frau mit blassgrünen Augen und blasser Haut, in ihrem Haar hängt Eis. Kühl und nordisch sieht sie aus, aus dem Winter kommend, aber doch, das ginge auch, aus dem russischen Winter, mit jenem Gesichtsausdruck einer unbeeindruckbaren Agentin. Das Auto ist direkt, ungeschminkt und ursprünglich: die Motorengeräusche kernig, die Technik Mechanik, am Handgriff über der Tür hängt ein Karabinerhaken. An den Knien ist es kalt. Die Sonne geht auf, sie wärmt nicht, aber es ist gut.

„Oder selbst die Strukturen schaffen“, sagte ein Kollege am Mittagstisch. Verzweifeln ließe sich leicht an der Welt. Und wenn einen dies und das bearbeitet hat, reicht manchmal der Anblick einer niedergeholzten Hecke, der nun nackten Kreuzung, um in alttestamentarischer Verzweiflung die Hände in die Höhe zu werfen. Das Heilmittel haben wir immer selbst in der Hand. Jeder unserer Einkäufe, jede unserer Begegnungen, jedes unserer Worte ist eine Entscheidung, die wir treffen. Daran denke ich mir, als ich die Hände aus der Höhe sinken lasse und mein Panzerhemd abstreife und den Rock darunter und mit offenem Herzen da stehe und Menschen Worte schenke, die kein Richter auf Erden verlangen würde und die die Welt trotzdem schöner machen.

Es liegt an uns.