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Der Gott der Lemminge

Am Abend nehme ich das erste Mal den Gesang der Amsel war, nachts träume ich, der kommende Sommer sei ohne Hitze bereits vergangen, feuer- und lichtlos schon wieder Herbst. Vielleicht deshalb das Ziehen in Knien und Knöcheln, als ich erwache.

Um Viertel nach Sieben eine Schlange vom Dorfbäcker auf die Straße hinaus. Ich halte nicht. Es ist einer dieser Widersprüche, dass ich mit dem Dorf nichts zu tun habe. „Ein Integrationsprogramm?“, schlägt die Studentin aus dem Nachbarweiler vor, die ich in einem ganz anderen Kontext kennengelernt habe. Von dort, dem Nachbarweiler, hat man einen fantastischen Ausblick auf die Alpen, von Irgendwo-in-Oberbayern – ich kenne die Gipfel nicht – bis in die Ostschweiz. Der Wind dafür umso dringlicher dort oben, versteht sich.

Dazwischen ein einsamer Hof, der Sohn war der einzige, der mit mir aus der Volksschule hinübergewechselt war ins Gymnasium in der Stadt. Die Dritte, die von unserer Klassenlehrerin die Empfehlung bekommen hatte, zu wechseln – völlig zu Recht natürlich -, zögerte und kniff. Da fühle sie sich überfordert, das brauche sie doch nicht. Es waren andere Zeiten als heute. Unsere Mütter hatten sich dann eingesetzt, dass wir zwei Wechsler in der neuen Schule nebeneinander saßen, uns Stütze und Orientierung sein konnten in der fremden, großen Welt. (In der ich, nebenbei, zum ersten Mal Protestanten kennenlernte, bewusst wahrnahm jedenfalls, denn davor war alles katholisch gewesen mit ein paar Sprengseln Esoterik und Yogitum, in dem man zuhause halt lieber ein Mantra sang als das Vaterunser.) Eine förderliche Entscheidung war es nicht, uns zusammenzusetzen, denn der andere tat das, was man später vermutlich Mobbing genannt hätte, und unsere Wege trennten sich bald und gründlich.

Die Berge treten überklar hervor, wie vergrößert. Schneeweiß die Rinne am Gaishorn, die ich im Sommer hochgestiegen bin. Auf dem Wochenmarkt der Stadt kaufe ich das, was ich am Vorabend im Bioladen nicht mehr bekommen habe, gönne mir ein Frühstück, das erst dann wieder voller Genuss sein wird, wenn der Markt nach Ostern aus der Halle wieder auf den Platz wandern wird, und weil ich Zeit zu überbrücken habe – Frühform einer senilen Bettflucht -, trinke ich einen zweiten Cappuccino drüben in Paulas Cucina Toscana, die sich natürlich mit Apostroph schreibt wie die meisten, weil der Genitiv ja aussterbend und damit offenbar keinem Gast mehr zumutbar ohne Apostroph, was übrigens, wie mir ein Philosophiedozent einmal erzählt hat, in „Klau‘s Würstchenbude“ seinen aberwitzigen Höhepunkt findet. Es ist zu viel Koffein, das weiß ich, bevor ich die Bestellung aufgegeben habe, das ist mir völlig klar, und trotzdem steuere ich einfach weiter geradeaus, ich weiß, wie unsinnig es ist, was ich tue und ändere doch nichts.

Ich denke zurück an den Vortrag der Psychologin auf dem Forum Fairer Handel darüber, weshalb wir nicht das tun, was wir wissen – was wir also rational als folgerichtig erkannt haben. Nehmen wir eine Alltagsentscheidung, deren ethische Sinnhaftigkeit wir rational vollkommen erfasst haben und die umzusetzen wir alle Mittel haben, auch wenn sie ein wenig mehr von uns abverlangt. Werden wir diese Entscheidung also in diesem Sinne treffen? Nein, eben nicht! Die Wahrscheinlichkeit, dass wir unsere Entscheidung tatsächlich gemäß unserer Erkenntnis fällen, liegt – wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe – nur bei 30 %. Und sinkt durch vielerlei alltägliche Faktoren – etwa die Müdigkeit nach einem Arbeitstag – noch weiter. (Fun fact: Untersuchungen haben ergeben, dass Ethiker – Professoren der Ethik oder andere Menschen, die sich beruflich mit ethischen Begründungen, Fragestellungen und Handlungsanweisungen befassen, nicht ethischer handeln als andere Menschen.)

Um unser Gefühl eines freien Falls etwas abzumildern, gab uns die Psychologin anschließend Ansätze an die Hand, wie wir diese Wahrscheinlichkeit etwas erhöhen können. Fatalerweise erinnere ich mich genau an diese Strategien nicht mehr, als habe der Gott der Lemminge, diese blinde und in letzter Konsequenz selbst- und fremdvernichtende Bequemlichkeit, Zensur geübt in meinem Erinnerungsspeicher.

Der Sache werde ich nachgehen. Zuerst aber zum Frisör, die Zunge zu bitter, der Puls vom schwarzen Gold in die Höhe getrieben.

P.S. Auch wenn ich weniger in Blogs lese (und weniger schreibe), abonniere ich manchmal trotzdem einen neuen. In diesem Sinne unbedingt empfehlenswert:

https://libralop.de/ – ein Chronist des Alltags

https://athenmosaik.wordpress.com/ – Stadtflaneurin

Ein Dozent der Altstadtgassen

Die türkische Dönerfrau steht unter Belagerung eines bierfreudigen Graubarts. Der doziert und rechnet – stockend, dann hochkonzentriert – vor, wie viele Generationen unser Atommüll strahlen wird. Auf 40 000 Generationen kommt er. So lange sind wir für den strahlenden Müll verantwortlich. Aber vielleicht gibt es bis dahin schon gar keine Menschen mehr. „Also was soll der Scheiß?“

Da kann ich nur zustimmen. Der Dozent der Altstadtgassen freut sich über die Resonanz und findet in diversen zeitgenössischen Führungspersönlichkeiten sein nächstes Thema. „Abschießen werd i den Sauhund“, bedenkt er einen gewissen Politiker einer anderen Nation. Da gehe ich nicht mehr mit. Ein paar Minuten fruchtlose ethische Diskussion folgen, dann mache ich mich auf, den Döner längst in der Hand.

„Verschießen will i jedenfalls koin“, sage ich zum Abschied. Die Dönerfrau lacht froh vor Zustimmung. Der Dozent der Altstadtgasse aber ruft mir hinterher: „Wenn du die it abschießen willsch, wirsch du halt irgendwann ihre Schuah putza.“

Das könnte natürlich blühen.