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Unendlich schön

Das Wetter kalt, aber nicht eiskalt, nur morgens die Scheiben am Auto freigekratzt.

Schnee immer noch keiner. So etwas kenne ich aus den Jahren in Stuttgart, da war es ja normal, dass der erste und auch nur kurze Schnee pünktlich zur Antiquariatsmesse Ende Januar fiel, aber doch nicht hier im Allgäu. Die Langlaufsüchtigen fahren alle nach Balderschwang hinein, über einen Pass sozusagen ins hinterste Tal Deutschlands, in Zeiten der Zombieapokalypse würde ich dorthin flüchten, auch wenn das – Riedbergpass hin oder her – am Ende gar nichts bringen würde, weil die Untoten ganz gemütlich aus dem Vorarlberg her einmarschieren könnten. So wie der Braunbär, der vor ein paar Monaten dort seine Spuren hinterlassen hatte. Kothaufen von Bären findet jetzt keiner in Balderschwang, dafür aber Massen an Langläuferinnen und -läufern, der reinste Irrsinn, die Apokalypse also schon angebrochen.

Jetzt weiß ich auch nicht so recht, wie ich von Zombies und Braunbären überleite zu Peter Handke. Will auch nichts schreiben über Nobelpreisdebatte, „Eine winterliche Reise“ und Balkankrieg. Das haben andere schon ausreichend getan und ich argumentiere jetzt gewissermaßen mit Peter Handke aus dem feingeistig Apolitischen heraus, was mir allerdings auch leichter fällt als Handke, denn ich habe schließlich auch keine Grabrede für Milošević gehalten und deswegen stehen auch keine Journalisten vor meiner Gartentür und stellen mir „solche Fragen“.

Gut, für die Abwesenheit der Journalisten vor meiner Tür gibt es auch noch andere Gründe, aber ich will auf etwas anderes hinaus. In Handkes Journalen lese ich gerne. Bei ihnen geht es mir wie mit Gedichtbänden: Zwischen zehn oder fünfzehn nichtssagenden, aber immerhin dankbar kurzen Einträgen findet sich eine Perle, und diese macht das Leben reich. „Ein (tief) wahrer Ausdruck, dachte ich gerade am Fluß in der Dämmerung, ist: ‚Unendlich schön‘. Also verewige das unendlich Schöne“, notiert Peter Handke in seinem zweiten Journalband, „Am Felsfenster morgens“, im Februar 1987.

Und das ist es, denke ich mir, was mich anspornt, hier weiterzuschreiben.

Kalt also am Morgen, doch nicht eiskalt, Wolken droben, der östliche Horizont frei, daher schönes Licht. Noch immer leuchtet das Morgenrot über den Bergen auf, also bis aus dem Süden heraus. Als würde die Sonne im Süden aufgehen – im Süden!, sage ich mir immer wieder, während ich das Fahrzeug in den Morgen hineinsteuere –, und das ist mir ein Wunder. Das ist das Magische an dieser Jahreszeit, die gerade zu Ende geht.

24 T. – Mutmaßungen über das Fremde, Tag 6

Ein Gastbeitrag ist erschienen auf „Graugans. Notizen zwischen Himmel und Erde“.

Liebe Graugans, schön, dass du gefragt hast, und ganz besonders auch, wie du gefragt hast. Ich hätte nicht gedacht, dass hier in diesem Jahr nochmals etwas Neues stehen würde.

Die Weisheit der Perser

Jetzt sind sie auch hier angekommen: Heute sehe ich meine ersten Schneeglöckchen. Vor zwei Tagen hatte sich der Schnee nochmals weiß über alles gelegt, und schon ist alles wieder anders unter dieser frühlingshaften Sonne. Die bräunlichgrünen Wiesen, die warmen Waldränder, die glänzende Kette der Berge, das alles ist von einer das Fassungsvermögen geradezu übersteigenden Schönheit. So muss sich ein Genesender fühlen, der nach langem Krankenlager wieder hinaustritt in die Welt.

Reiten, Bogenschießen, die Wahrheit sagen, das war laut Herodot das Ethos der alten Perser, die angemessene Art, wie ein Mann – und gelegentlich durchaus auch eine Frau – das Leben zu führen hatte. Eine andere mag sein, den Blick an den Horizont zu heften und den Lockungen des Windes zu folgen, ausschreiten, ausschreiten. Ich stehe auf der Höhe und schaue hinüber, wo der Großvater seine Sitzbank hatte, einen rostigen Flaschenöffner an einer Schnur – oder war es eine dünne Kette? – immer griffbereit. Heute wäre er 90 Jahre alt geworden. Eine Brise aus West, die Sonne scheint, das Alpenpanorama ist die reinste Verführung.

Ich wende mich von den Gipfeln ab und mache mich ans Werk. Winterschäden beheben, einen Säugling tragen, im Garten werkeln. Werte ändern sich bisweilen. Das Glück ist überall.

Vor dem Mittagessen drei Paar Schneeschuhe …

Vor dem Mittagessen drei Paar Schneeschuhe und vier Hundepfoten in unberührtem Weiß. Der vergrößerte Fuß sinkt in den weichen, tiefen Schnee und presst ihn zusammen, stößt dann auf den Harsch der vergangenen Woche, durchbricht ihn knackend, sinkt noch eine Winzigkeit tiefer und hebt sich dann wieder leicht und mühelos. Es ist fast, als könne man über Wasser schreiten.

Wir nehmen Wege, die keine Karte kennt, auch das Auge nicht, sondern einzig unser Entschluss, querfeldein, das Tal zwischen den stummen, dunklen Fichten hinunter, durch Holundergebüsch hindurch, einen Hang empor, eine Senke hinab, in der einst wohl die Schmelzwasser der Eiszeitgletscher zur Seite flossen, die Steigung wieder hinauf. Für einen Augenblick verschwindet alles Land hinter der Kuppe, der Hang scheint wie eine makellose Mauer aufzuragen in einen drohenden, schneebeladenen Himmel. Und nur eine einsame Anflugstange für die Greifvögel durchbricht diese Gewalt, einem Miniaturgalgen gleich in vollkommener Wintereinsamkeit.

Der Himmel zieht sich weiter zusammen. Der Hund drüben im Schnee ein tiefes, ganz und gar körperliches Schwarz, ansonsten nur zerfließende Schichten von Weiß und Grau, die Wälder jenseits der Felder auf blasse Schemen reduziert. Schneefall setzt ein, der Wind beißt in die Wange, alles wird zu einem Wirbel aus Flocken. Atem fließt, ein Kristall zerschmilzt an den Wimpern, Fuß für Fuß geht es tiefer in dieses lautlose Stürmen hinein. Ist irgendeine andere Gewalt derart stille? Nie erschien mir Winter schöner, das Leben richtiger. Wie froh ich bin, der Kesselstadt entkommen zu sein, als hätte ich Jahre ein Leben im Falschen geführt.

Später lodert im Westen eine andere Art von Weiß auf. Das Illertal ist in ganzer Breite zu überblicken, über den jenseitigen Höhen lässt die Sonne die dünne Wolkendecke erstrahlen. Eine Dorfglocke schlägt 12. Rauch aus einem Kamin.

Als wir die Schneeschuhe abschnallen, schiebt sich von Westen her bereits die nächste Wolkenfront heran. Wieder wird die Welt zu weißem Fallen.

Das Lächeln der Chinesin

An der Sonnenseite des Kirchturms hängt das weiße Kreuz auf rotem Grund. Kirchweih ist an diesem Oktobertag. Der Ahorn am Bahnhof leuchtet in einem satten Gelb, ein bisschen Honig, fast schon Ocker. Die Farbe findet sich in den Hinweisschildern des Bahnhofs wieder. Der buckelige Leib der Endmoräne ist ratzekahl abgemäht, praktisch kein Feld, das nicht eben noch geschnitten wurde. Die Zeiten haben sich geändert. Die Bauern, die wenigen, die noch da sind, arbeiten auch nachts. Immer schon sind sie sehr früh auf, aber wenn Nacht wurde, ließen sie die Arbeit ruhen, das war schon Ehrensache. Nun aber leuchten spätabends noch auf den Feldern die Scheinwerfer der immer größer werdenden Traktoren und die mächtigen Strahler an Scheunen und Außenstallungen.

„M. muss zum Handballern nach Gauting fahren und weiß gar nicht, wo das ist“, sagt jemand. „Oh je, das hört sich weit an, wahrscheinlich noch hinter München. Das ist mein Sonntag, hat sie gesagt.“

Am nächsten Bahnhof springt ein chinesisches Pärchen auf. „Halt, halt“, ruft eine ergraute Dame. „Das ist noch nicht Kaufbeuren!“
„Biessenhofen?“, fragt atemlos der Chinese.
„Doch, ja, das ja.“
Das Pärchen wendet sich weiter zur Flucht aus dem Zug und noch einmal ruft die Dame: „Halt, halt!“ Die Jacke auf dem Sitz.
Die Chinesin stößt einen spitzen Schrei aus, stürzt lächelnd zurück zur Jacke und wieder hinfort zur Tür und hinaus und weiter wahrscheinlich nach Füssen, nach Schloss Neuschwanstein. Gelächter erhebt sich im Waggon, milde und wohlwollend und warm. Es macht die Menschen schön und in diesem Lachen hätte jeder jeden gemocht.

Der Zug fährt wieder an. Draußen ist der perfekte Herbst, leuchtend, strahlend, klar. Milde auch hier in seinem Licht.

Lech_Landsberg am Lech_Herbst_Fluss_Licht

Kreischen unterm Brunnenbogen

Die Wolkengebirge am schwäbischen Himmel wirken wie gemalt oder nein, vielleicht eher wie ein Scherenschnitt und rückseitig illuminiert, wo die untergehende Sonne ihre Kanten erstrahlen lässt. Der Abend ist zu genießen. Menschen bevölkern den Platz bei einem Weizenbier vor dem Rohrbecks. Springbrunnen plätschern, ein blonder Pferdeschwanz läuft barfuß über den augustwarmen Asphalt und die Welt könnte so schön sein.

Aber das hysterische Schreien einer Frau – vielleicht von ihrem Mann betrogen oder von ihrem Kleinkind bis zur völligen seelischen Erschütterung erschöpft – aus einem weit geöffneten Fenster zerstört die Illusion. Das Glühen der Wolkenränder erlischt, gegenüber an der Filiale der Drogeriekette rumpeln die Warenboxen des Lieferanten, ein provinzieller Sportwagen röhrt und das alkoholfreie Weizen ist doch nur ein Franziskaner.

Dann kreischt ein gelockter Knabe vor Entzücken unter dem Brunnenbogen auf und alles ist wieder gut für diesen Augenblick.

Unter der Burgmauer die schwäbische Toskana …

Unter der Burgmauer die schwäbische Toskana. Das liegt natürlich in erster Linie an der Reihe Zypressen dort drüben. Aber auch an der hügeligen, kleinteiligen, malerischen Landschaft: Äcker, Haine, Streuobstwiesen, kurzgefressene Schafsweiden. Die steilen Hänge der Schwäbischen Alb, wie scharf abgeschnitten, sind von Mischwäldern bedeckt, oben auf dem Traufrand reihen sich Burgen, dahinter erstreckt sich die Hochebene der Alb. Dem Mittelgebirge zu Füßen, nach Westen und Norden hin, ziehen sich Hügel Linie um Linie in den bläuenden Dunst.

Es ist die Landschaft, die ich verlassen habe, um in meine Heimat zurückzukehren. Rückkehr kann so schön sein – in beide Richtungen.

Ich stehe seit Stunden schon in Wolken ausschwärmender Flugameisen, droben im Himmel das Dröhnen historischer Flugzeuge, der September brennt heiß wie ein Sommer, doch das Herbstlicht sinkt schwere nieder. Glücklich sind die Hochzeitsgäste, ergraute Männer duzen mich auf Augenhöhe, was mir gefällt, Hände liegen auf warmem Stein oder an kühlem Glas.

Grillen rufen die Dämmerung herbei, dieser Sommergesang warmer Landstriche, der im Allgäu viel verhaltener ist, und Wind kommt auf. Wüsste man, dass man morgen stürbe, könnte die Antwort nur lauten: „Ach, aber jetzt ist es schön.“