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Träume von der Tiefe

Es ist wohlfeil, einen oft genannten Aphorismus erneut zu zitieren. Trotzdem denke ich später, als ich die Gipfel längst hinter mir habe, an Friedrich Nietzsches Ausspruch. Die Höhe bietet genügend Fläche, vom Kreuz hierhin und dorthin trennen Schritte vom Sturz hinab. Ich bin wachsam, aber nicht unruhig. Die Angst kommt erst später, nachdem ich Minuten auf dem Gipfel sitze, stehe. Stille, ganz stille sammelt sich der Abgrund um mich an und öffnet etwas in mir. Dem Druck der Tiefe halte ich nicht stand. Fast barsch frage ich: „Gehen wir weiter?“ Den Abgrund trage ich mit mir.

*

Da liegen die anderen also auf der Bergwiese und halten ein Nickerchen. Wir haben den Ponten hinter uns, diesen Berg mit seine ganz und gar unallgäuerisch anmutenden Namen. Pons, pontis spuckt die Erinnerung altes Schulwissen aus, aber warum sollte der Berg nach dem lateinischen Wort für „Brücke“ benannt sein? Später lese ich, dass eine Ableitung von „Bann“ als wahrscheinlich gilt, also ein „gebannter Berg oder Wald“, Holzschlag verwehrt. Vor dem Ponten haben wir den Bschießer überquert, und dessen Name passt ja umso besser ins Allgäu, treffender geht es kaum als ein gedehntes, um nicht zu sagen kuhmäuliges „Bschiaßa“. Die Österreicher übrigens – die Grenze nämlich verläuft über die Höhe – schreiben Bscheisser, was zugegebenermaßen auch nicht übel ist.

Da liegen die anderen also auf der Bergwiese und halten ein Nickerchen. W. auf der Seite, vermutlich schläft sie tatsächlich, ihre Beine jedenfalls zucken, M. auf dem Rücken, die Füße aufgestellt, die Kappe übers Gesicht gezogen, eher Ruhen als Schlafen. Einen kleinen Gipfel haben wir noch vor uns, dann geht es wieder hinab in die Welt des Alltags, und das wollen wir noch hinausschieben, wobei ich sagen muss, ich könnte doch jetzt gleich schon weitergehen, statt ins Büchlein zu schreiben, denn Schlummern, das ist nichts, dann wache ich in der Sonne noch völlig benommen auf, hirnweich und knieweich gleichermaßen.

Schwebfliegen und Schmetterlinge über blühenden Kräutern, ein Kreis von Latschenkiefern, Wind weht, weniger frisch als noch zur Mittagszeit, mild war es wirklich nicht. M. hat sich leise aufgerichtet, wir schauen uns an, überlegen, wer es zuerst ausspricht: Gehen wir weiter?

„Ich habe geträumt“, schreckt W. da auf.

Allgäuer Alpen

In der Nachbarschaft des Ponten

Auftreten

„Das Gaishorn“, sagte mein Bruder, „kann man ja ein Stück weit auch mit dem Fahrrad hochfahren“. Im aufkommenden Nebel sei er dann aber auf dem Abstieg vom Gipfel auf einen anderen Weg geraten und musste anschließend eine ungeheure Strecke gehen, um wieder an sein Rad zu gelangen.

Schaut man von Norden auf die Kulisse der Allgäuer Alpen, fällt das Gaishorn als besonders wuchtig auf. Das relativiert sich ein bisschen von anderen Perspektiven aus, das hatte ich bereits erfahren, auf dem Berg selbst aber war ich noch nie. Also nehme ich mein Rad mit und fahre den Schotterweg zum Älpele hoch oder genauer gesagt, schiebe das größte Stück, denn es ist doch verflucht anstrengend. Zwei Bauern treiben Jungvieh durch den Wald zusammen, um es auf eine höhergelegene Weide zu bringen. An den Tieren vorbei schiebe ich sowieso und überhole sie, wuchte vorsichtshalber das Rad ein paar Schritt neben ihnen über den Zaun, vor dem sich das Vieh versammelt, und öffne dann erst für mich den Draht über dem Wirtschaftsweg. Ein dritter Bergbauer steuert rückwärts sein Auto den Berg herab und kurbelt die Scheibe herunter. „Servus“, sagt er. Wenn die Viecher kommen, solle ich halt auf die Seite treten und es vorbeilassen. Aber da war ich ja schon weit vorneweg.

Ein Berg wird immer dann reizvoll, wenn die Waldgrenze überschritten ist. Ein weiter Kessel tut sich auf. Ein paar niedrige Laubbäume sind über das Grün verstreut, in den Hängen wachsen Föhren, Geröll zieht sich in Bahnen die Wiesen hinab. Das Älpele am Rande des Kessels öffnet erst eine Stunde später, also muss ich mit den beiden Wasserflaschen im Rucksack auskommen. Ich binde das Rad an einem Zaun fest, ein Wanderer überholt mich, sonst ist es still. Ich schreite in den Kessel hinein, in diesen Frieden, der monatelang im Jahr von Schnee bedeckt ist. Das Flugzeug am Himmel natürlich nervt.

Erst dann sehe ich das Gaishorn: ein Felsmassiv über Schotterhängen, oben leuchtet das Gipfelkreuz im Sonnenlicht. Mein Weg macht einen Knick, der Grashang, auf den ich gegen die Sonne zuwandere, ist ein von schwarzen Schattenlinien durchzogenes Grün. Oben gehen zwei Menschen. Bald bin auch ich oben auf diesem Kesselrand, passiere den Weg, der vom Vilsalpsee heraufführt und habe das Massiv vor mir. „Trittsicherheit erforderlich“, warnt ein Schild. Das ist, sage ich mir, kein Problem. Das ist alles kein Problem, solange das Schild nichts von Schwindelfreiheit schreibt. Ich lasse das Grün zurück und betrete hartes Grau. Der Pfad quert zur Hälfe ein Schotterfeld, über das im Winter gerne Skitourengeher abfahren, dann geht es dort recht steil hinauf. Im Geröll achte ich auf jeden Schritt, wenn ich einmal nach oben blicke, sehe ich nur Fels aufgetürmt. Wo dort der Pfad hindurchführen wird, kann ich nicht erahnen, aber das ist ja ganz gewöhnlich so, wenn man von unten einen Berg hinaufschaut. Alles kein Problem.

Dann verliere ich die roten Wegmarkierungen. Das da, das sind doch Stiefelspuren? Also muss es dort entlanggehen, orientiere ich mich. Dann verliere ich auch diese Spuren und weiß nur, irgendwo dort hinauf muss es halt gehen. Mein Atem geht noch eine Spur schneller, als er angesichts der körperlichen Anstrengung müsste, und ich denke mir: Alles kein Problem. Noch kann dir nichts passieren.

Endlich entdecke ich wieder einen roten Farbtupfer und rufe ihm stumm mein Hurra zu. Ich erreiche ein Schneefeld, das sich in einer Rinne gehalten hat. Dort hinüber? Ja, eine undeutliche, bräunlich geränderte Linie zieht sich quer hindurch. Das müssen Fußspuren sein. Der Schnee ist weich und sulzig, darunter grobkörnig zäh. Ich trete die hangaufwärts liegenden Kanten meiner Stiefel kräftig in die Masse, um einen sicheren Stand zu haben. Ich steige weiter empor, keine Spur von den Menschen, die ich auf dem grünen Kamm noch vor mir hatte, nur ein ausgelassener Ruf eines Menschen auf einem Grat zur Rechten.

Vor einem zweiten Schneefeld verliere ich wieder die Wegmarkierung. Ich spähe hierhin und dorthin, nirgendwo ein aufgemalter roter Fleck oder Strich. Taste mich zwischen Felsen empor, hoffe auf ein Zeichen. Es kommt von unerwarteter Seite. Eine sportliche Frau überquert unter mir das Schneefeld. Also doch dort hinüber und den steiler gewordenen Hang hinauf? Ich rufe der Frau zu. Sie versteht mich zuerst nicht, antwortet dann auf meine Frage beinahe schnippisch: „Oder hast du einen besseren Weg?“. Ihre Sicherheit wird zur meinen, ich steige wieder hinab und quere den Schnee, gehe dabei auf Nummer sicher und stoße die Spitze meines Stiefels dreimal in den Sulz hinein, bevor ich das Gewicht verlagere. Die Profis würden mich belächeln, aber auslachen würde mich nur ein Narr.

Die Bergfee ist bereits entschwunden, ein Mann kommt mir entgegen, als er mich passiert, warte ich, bis er das Schneefeld erreicht hat, denn ich möchte ihm auf diesem steilen Stück kein Geröll hinterherschicken. Dann keuche ich weiter, sehe die Frau auf dem Endspurt zum Gipfel, quere ein drittes Schneefeld, flacher zwar und trotzdem das aufregendste, denn es ist das höchste, hier zu stürzen, hätte den längsten Weg zur Folge. Dann bin ich oben.

Der Ausblick ist phänomenal und trotzdem beunruhigt mich die Tiefe, die sich überall auftut. Der Wanderer, der mich am Älpele überholt hatte, fotografiert mit viel Geduld: die Aussicht, das Gipfelkreuz, die Bergblumen, die Insekten. Die Bergfee entschuldigt sich bei mir auf Tirolerisch, dass sie mich ihrer Kopfhörer wegen nicht gleich verstanden hatte, und ich bin doch nur froh, dass sie gerade da des Weges gekommen war, als ich jemanden brauchte. Wasser, ein paar Bissen, Fotos und nochmals Wasser und ich mache mich wieder auf, auf der Suche nach festem Grund unter den Füßen.

Ich stehe vor dem Weg, den ich für den Abstieg vorgesehen hatte, und lese „Absturzgefahr! Trittsicherheit erforderlich“ gleich dreimal untereinander. Das ist nicht ganz das, was ich wollte. Trittsicherheit, sage ich mir erneut, das geht doch. Und ich kann jederzeit umkehren, einen anderen Weg nehmen, ein Umweg von ein oder zwei Stunden zwar, aber machbar. Mehr oder weniger über einen Grat führt der ausgesetzte Weg. Ja, abstürzen wäre fatal, aber es sind keine tiefen Abgründe, die sich links und rechts auftun. Behutsam setze ich einen Fuß vor den anderen, greife mit der Hand gerne an den Fels und am Ende war es nur die Sorge vor dem, was kommen könnte, was mich beunruhigt hatte, nicht der Weg, den ich tatsächlich gegangen bin.

Dann ist es nicht mehr weit. In den Kessel hinab, die Sonne brennt, Vögel schlagen zwischen den paar Büschen Alarm, dann das Älpele, die Wirtin spricht Hochdeutsch, wie merkwürdig, und ich fülle meinen Wasserhaushalt wieder auf.

Die Abfahrt dann natürlich ein Heidenspaß.

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Die Schlacht unter dem Eis

Die Geräusche hören wir erst, als wir den See fast umrundet haben.

Der Himmel ist rein und lauter wie der Schnee auf den steinernen Gipfeln. Die tiefer liegenden Fichtenhänge hingegen sind vollkommen schneefrei. Es ist der trockenste Dezember, der je im Allgäu gemessen wurde. Was den Geist beunruhigt, geht er dieser Nachricht nach, freut die Beine bei einem Winterspaziergang in den Alpen.

Der Seitenarm des Tannheimer Tals liegt noch in Schatten, es ist schneidend kalt, eine dicke Eisschicht spannt sich über den Vilsalpsee. An den Rändern wirft sich das Eis auf und bricht wie weiße Gischt am Meeresufer. Linien ziehen sich durch das gefrorene Nass – geformt von Licht und Schatten und Wassertiefen, von Strömungen vielleicht, von Lebewesen, die ihre Spuren auf der Oberfläche hinterlassen haben. Von der Blässe herab war ein seit Jahren erwarteter Steinschlag endlich heruntergegangen und der Weg nun wieder freigegeben worden; dem Berg fehlt ein Stück, der steile Hang gleicht einer furchtbaren Wunde, tiefrot der Fels, wo das Gliedmaß abgeschlagen.

Endlich erreicht die Sonne doch noch den Grund des Tals, ihr Stand eben hoch genug, um ihr Feuer über die Schulter zwischen zwei steinernen Häuptern zu schicken. Ein fernes Geräusch irritiert mich, auf- und abschwellend. Schneekanonen jenseits des Berges? Etwas Besseres fällt mir nicht ein. „Spannungsrisse im Eis“, verbessert mich mein Bruder. Ich horche und denke an kurze Frequenzen von Walgesang. Wir treten näher an das sonnenbeschienene Ufer, auf das Eis. Und hinein in eine Schlacht.

Die Synthieklänge von Laserschüssen aus Science Fiction-Filmen dringen aus der Tiefe des Sees. Ein Kampf zwischen Neckern und Nixen, in bunten Sternenuniformen und wallenden 70er-Jahre-Mähnen, muss dort unten toben, wachgerufen vom Licht der Sonne. Immer wieder rollen die merkwürdigen Geräusche durch den See, manche Schüsse kommen näher, schrecken auf. Dann ein Knacken, Knistern, Bersten. Scharf ziehen sich unsichtbare neue Risse durchs Eis. Auch die Feuersequenzen entstehen so – nur der längere Weg des Schalls durch das Eis verformt das Reißen zu den synthetischen Klängen.

Ein paar Eishockeyspieler in Jeans kurven gelassen über das Eis. Es ist nicht ihr Krieg, der unter ihnen tobt. Ich hoffe, es wird auch dabei bleiben, solange sie mit ihren Kufen über den See gleiten.

Einen kleinen akustischen Eindruck gibt es unter diesem Link – Ton an und bitte laut aufdrehen.
Vilsalpsee_Eis_Tannheimer Tal_Allgäuer Alpen_Winter

Stille Höhen

Im Tal ist es kalt. Handschuhe wären nicht verkehrt, denke ich mir. Wir verpassen den Pfad in die Höhe, aber letztlich ist es egal, denn in eine Richtung müssen wir den Talweg so oder so nehmen. Eine Kuh auf einer Wiese gefällt uns, ein kräftiges, dunkles Rind mit markanten Linien, wir denken beide an ein Urrind. Dann schweigen wir wieder. Ich hänge düsteren Gedanken nach, nach einem Gespräch ist mir nicht.

Oben reden wir. Die Sonne löst die Zunge, lachend schieben wir die Ärmel zum Ellbogen zurück. Es ist warm auf Halbhöhenlage. Weite Hänge aus braunem Gras fallen unter einem blauen Himmel ab, Geröll strahlt im Licht. Unter uns rosten Buchen, die paar Bäume heroben – Bergahorn, Birke – sind bereits kahl, Sattgrün tragen einzig die Latschen. Oben dann weiß der Schnee im grauen Gestein.

Es ist still. Tief unten rauscht der Fluss, eine Dohle krächzt auf, ein Verkehrsflugzeug brummt, leider, aber ansonsten ist es still. Eine Durchgangsstraße kann den Erholungswert eines ganzen Bergtals zunichte machen. Das Stillachtal hin zu Deutschlands südlichstem Flecken aber ist eine Sackgasse. Die Stille ist ein Segen.

Dann ein sehr trockenes, hartes Klacken, gedämpft und doch mit einer Macht, die zum Schweigen verurteilt. Wir halten inne. Stein schlägt auf Stein, Fels fällt, fällt, fällt. Ein Steinschlag, drüben, jenseits des Tals, an den 2500ern. Ein Geräusch bar jeder Gnade. „Hoffentlich ist nichts passiert“, flüstert jemand.

Dann herrscht wieder Stille.

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