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Der Gesang der Stille

„Sind da Buchstaben drin?“, fragte mich meine Tochter, als ich das Buch auspackte.

Um halb Sechs kroch ich zwischen den träumenden Leibern der Meinen hervor, es war dunkel. Unten machte ich ein paar Übungen, um nicht zu zerbrechen. Stille und ich in ihr, schönste Eins-amkeit.

Spät am Abend, als endlich alle Pflichten erfüllt, findet ein Gedichtband in meine Hände. Lyrik zu lesen ist eine Art von Meditation. Innehalten, Einlassen, Ruhigwerden, bis ich die Stille höre.

„langsam fließt das denken ab“, schreibt Lutz Seiler in seinen Gedichten „schrift für blinde esel“. Meditation kann auch Ausschreiten sein, schweigend in der Natur, im „langsam atmenden schatten der Bäume“, „abzusacken im geflüster der moränen“.

In der Stille höre ich den erstarrten Strom der Moräne, auf der ich lebe. Den Gesang der Sterne. Die Welle meines lautlosen Atems. Ich denke an Adolf Endler, auch er ein ‚Ostautor‘ wie Lutz Seiler, doch seine Lyrik eine ganz, ganz andere, und trotzdem liebe ich seinen Titel „Dies Sirren“, in dem ich nicht Mücken höre, sondern die Nacht selbst, das Gestein, den Baum oder auch den Sommer, in dessen Korn es knackt und flüstert wie das „susurrus“ bei Terry Pratchett und auch ich gehöre zu denen, die diesem Wort verfallen sind.

Welch merkwürdige Kombination von Autoren, denke ich mir, und da geht der Kühlschrank an und zerstört den Gesang der Stille und ich weiß wieder, wie spät es ist.

Die grüne Hölle

Hinein in die Provinzstadt, an der Höhe vorbei, wo vor 2000 Jahren römische Verwaltungskräfte ihre Villen gebaut haben, als der Ort tatsächlich für einige Jahre Provinzhauptstadt war, heute aber Möchtegernmetropole der „Grünen Hölle“, wie ein Schriftsteller einmal das Allgäu genannt hat, ein hiesiger, und das darf und muss er ja auch sagen, sonst wäre er nicht Schriftsteller, sondern Panegyriker.

Ein paar Flocken fallen, an der Einfallsstraße meterlange Eiszapfen, trotzdem Tauwetter, zumindest sackt der Schnee zusammen. Bücher sind gegangen, andere kommen schon nach, es ist, rede ich mir ein, das Ideal, nicht eine stetig größer werdende Sammlung aufzubauen, sondern eine immer bessere, treffendere, mir angemessenere Auswahl an Büchern zur Hand zu haben. Das ist selbstredend ein Prozess, der nie aufhört, solange man lebt, sich bewegt.

Die weltbeste Butterbreze – sie gehört zur Habenseite der Möchtegernmetropole der Grünen Hölle – lasse ich links liegen. Bis zum Ende des Monats werde ich kein Getreide essen. Dampfig ist es in dem Café, obwohl, vielleicht auch nur warm, die Scheiben sind nicht beschlagen. Es läuft zu einem Brei unkenntlich gemachte Hintergrundmusik, sie bedrängt mich, lieber wäre mir, nur das Stimmengewirr und die klirrenden Gläser und den Schlag des Kaffeelöffels an Keramik und das Stapeln der Espressotassen zu hören.

Wie schön war doch die Stille, als ich morgens die Augen nach der Meditation öffnete. Die Verschmutzung unserer Welt findet auf unzähligen Ebenen statt, denke ich mir auf meinem Barhocker und schaue hinaus.

Ich nehme den letzten Schluck und mache mich auf, ein Dach von Schnee zu befreien. Das aber ist eine andere Geschichte.

Stille Höhen

Im Tal ist es kalt. Handschuhe wären nicht verkehrt, denke ich mir. Wir verpassen den Pfad in die Höhe, aber letztlich ist es egal, denn in eine Richtung müssen wir den Talweg so oder so nehmen. Eine Kuh auf einer Wiese gefällt uns, ein kräftiges, dunkles Rind mit markanten Linien, wir denken beide an ein Urrind. Dann schweigen wir wieder. Ich hänge düsteren Gedanken nach, nach einem Gespräch ist mir nicht.

Oben reden wir. Die Sonne löst die Zunge, lachend schieben wir die Ärmel zum Ellbogen zurück. Es ist warm auf Halbhöhenlage. Weite Hänge aus braunem Gras fallen unter einem blauen Himmel ab, Geröll strahlt im Licht. Unter uns rosten Buchen, die paar Bäume heroben – Bergahorn, Birke – sind bereits kahl, Sattgrün tragen einzig die Latschen. Oben dann weiß der Schnee im grauen Gestein.

Es ist still. Tief unten rauscht der Fluss, eine Dohle krächzt auf, ein Verkehrsflugzeug brummt, leider, aber ansonsten ist es still. Eine Durchgangsstraße kann den Erholungswert eines ganzen Bergtals zunichte machen. Das Stillachtal hin zu Deutschlands südlichstem Flecken aber ist eine Sackgasse. Die Stille ist ein Segen.

Dann ein sehr trockenes, hartes Klacken, gedämpft und doch mit einer Macht, die zum Schweigen verurteilt. Wir halten inne. Stein schlägt auf Stein, Fels fällt, fällt, fällt. Ein Steinschlag, drüben, jenseits des Tals, an den 2500ern. Ein Geräusch bar jeder Gnade. „Hoffentlich ist nichts passiert“, flüstert jemand.

Dann herrscht wieder Stille.

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