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Gezeitenwechsel

Nach Wochen, ungezählt, in kurzer Bekleidung, den beringten Zeh nackt ins Licht gestreckt, wenn nicht in Stiefel gebettet in felsiger Höhe, gestern noch in den südlichen Alpen geschwitzt, sehe ich heute eine Wolke, wenn ich ausatme in die herbstliche Kühle. Die Jacke ist bis zum Kinn hochgezogen, Regentropfen akupunktieren das Gesicht, Wind schmerzt am Ohr.

Ich schaue hinein in den dunklen Forst, aus dem eben der Greif gellend entwichen, und ich spüre den rauen, moosigen Atem des Wilden Mannes. Dann trete ich in den Tann, ins Reich der Frösche, des Geheimnisses verwesender Vögel und bebender Rehe, und lächle.

Kambium am Heuchelberg

Wann immer möglich, versuche ich eine Reise mit einer Wanderung zu verbinden.

Vereinzelt Schauer, meldete der Wetterbericht. Als ich mich aus dem Haus schleiche, in dem ich übernachtet habe, fallen ein paar Schneeflocken. Ich hatte zwei Freunde für die Wanderung gewinnen können, und in der Morgenkälte eines Novembersonntags treffen wir uns in irgendeinem Vorort von Heilbronn. Menschen gibt es hier kaum, nur stille Häuser. Vom Ausschreiten erhoffen wir uns warme Glieder. Die Zunge hingegen wärmt sich von selbst beim Wiedersehen mit den Freunden aus meinen Stuttgarter Jahren, teure neue Freunde damals in einer Zeit, in der ich bei Null angefangen hatte in der Kesselstadt.

Die schnurgerade Teerstraße führt uns hinaus aus dem Ort und hinüber zum Heuchelberg, einem niedrigen Höhenzug, der feucht im Morgentrüben liegt, kaum Lockung in dieser Jahreszeit. Der Ackerboden links und rechts klumpt in schweren Brocken. Zuckerrüben türmen sich, derbe Früchte zwischen kalten Wasserlachen und umgepflügter Erde. Der Wind ist schneidend. Ich denke an einen anderen November zwischen den Gräben von Verdun.

Die Morgensonne bricht durch eine Wolkenlücke, ihr fremdes Licht legt sich schwer auf ein Feld mit einer Zwischenfrucht. Biographisch haben wir uns wechselseitig auf den neuesten Stand gebracht, wir wechseln zu Themen, zu denen wir alle gerne etwas beitragen: alternative Modelle in der Landwirtschaft, Nischen in der Rockmusik.

Nach den ersten Kilometern über Asphalt wechseln wir auf schlammige Wege. „Das erinnert mich an die Zeiten, als wir als Kinder bei solchem Wetter über die Äcker sind und der Matsch gefühlt kiloweise an den Schuhen kleben blieb. Das war geil. Und gab dann immer einen Anschiss von der Mutter. Verständlich.“ Der Chemiker lacht, Vater und Sohn zugleich, und der Gärtnermeister pflückt an einem Weiher ein paar Hagebutten und saugt ihr Mark. Wir blicken auf das trübe Wasser, Erinnerungen an Horrorfilme, die ich nie gesehen habe, wechseln hin und her.

Zwischen Weinbergen ersteigen wir den Heuchelberg und dann gleich den Wartturm an seiner Schulter. Im späten Mittelalter war der Turm als württembergischer Grenzposten errichtet worden, nur ein paar Jahre, ehe die Grafschaft den Aufstieg zum Herzogtum vollzog. Ein paar Jahrhunderte lang überschaute der Turm die Nordgrenze Württembergs, bis diese in einer deutschen Flurbereinigung von Napoleons Gnaden noch ein bisschen weiter nach Norden geschoben wurde.

Und das dort im Süden, ist das der Stromberg, über den ich einmal an einem anderen Spätherbst gewandert bin? Keiner weiß es, gewiss ist uns nur der Dampf über Neckarwestheim. AKW statt Höhenzüge als Landschaftsmerkmale des modernen Menschen.

Und dann endlich hinein in den Wald. Blätter und Nadeln in den Farben des sterbenden Herbstes – leuchtendes Rotbraun der Buchen, mattes Braun der Eichen, Gelb von Ahorn und Lärche, an den Bäumen das dunkle Grün von Fichte und Kiefer. Tiere sehen und hören wir nicht, nur Menschen: Spaziergänger, Jogger, Mountainbiker.

„Wisst ihr, dass das Kambium der Bäume essbar ist?“, fragt der Gärtner. Er zieht sein Taschenmesser aus der Tasche und schneidet an dem kürzlich gefällten Baum die Rinde ab, dann ein paar Späne der darunter liegenden Schicht. Wir kosten, was wir bis dahin nicht kannten. Es erinnert vage an ungesüßten Kaugummi – herb und zäh und ein bisschen frisch. Wir hoffen, uns nie einen Winter lang davon ernähren zu müssen.

Am Saum einer Wiese zehrt der Wind an uns. Immerhin bleiben die Niederschläge aus. An den Drei Eichen ein Zögern, Wege in alle nur denkbaren Richtungen. „Im Dschungel ist das Problem, einen Weg zu finden. In diesem Wald hier haben wir genau das gegenteilige Problem.“

Einer bückt sich nach einem Eichenblatt. Eine Kugel in Grün und Rot klebt an ihr. Was ist das? Das Taschenmesser schneidet die Kugel entzwei, eine klebrige Substanz, eingebettet in ihr ein Wurm. Die nächste Kugel das gleiche Bild, der Pfad ist voll mit ihnen. „Galläpfel“, murmelt jemand. Ein Rest Zweifel aber bleibt und nährt augenblicklich die immer hungrige Fantasie. Witze über die Saat außerirdischer Lebensformen fallen. Was wir nicht kennen, ordnen wir sogleich einer Sphäre des Äußerstfernen, des Übernatürlichen zu. Wir Menschen sind doch angstbesetzte Wesen. Und ich male mir aus, während wir auf dem Waldweg durch lichtes Gehölz wandern, wie es wäre, käme nun ein Wesen, uns weit überlegen, und würde einen von uns ergreifen und knacken, das Innere betrachten, ihn wegwerfen, den nächsten nehmen und sinnend prüfen …

Zwischen zwei Waldeshöhen setzen wir uns zu einer Rast. „Ich stehe jeden Morgen gerne auf. Weil ich mich aufs Essen freue“, begeistert sich der Gärtner und packt Leckereien aus, öffnet eine Dose Hummus. – „Ich hatte Kichererbsen übrig.“ „Das ist mir noch nie passiert“, entgegnet der Chemiker trocken. – Verteilt dann selbstgebackene Schnecken. Ich verbrenne mich am heißen Tee, gleich darauf ergeht es meinem Gegenüber ebenso. „Die evolutionäre Entwicklung hat es noch nicht über den Tisch hinweg geschafft“, kommentiert der Dritte.

Eine Stunde später geht es über Schichten von Laub auf schmierigem Untergrund nach Eppingen hinab, eine lange Rutschpartie kurz vor unserem Ziel. Jenseits des Waldes dann die Anonymität von Neubausiedlungen, ein Friedhof, Industriehallen. Die Bahn fährt uns vor der Nase ab, jäh setzt der Regen ein, die Füße sind müde. Ein Rentnercafé, auf der entleerten Straße ein paar gegen die Kleinstadttristesse anlärmende Jugendliche. Selbst die hübschen Altstadtfassaden tragen Trauer. Wir sind, als wir uns später voneinander verabschieden, trotzdem glücklich.

Im Abenddunkel dann Schneefall, ein hypnotischer Wirbel im Licht der Scheinwerfer, während die Kurve der Autobahn nicht mehr zu enden scheint, der Abstand zu den Rücklichtern gleich bleibt, die Krümmung der Straße gleich bleibt, der Tanz der Flocken gleich bleibt, und alle Zeit, alle Bewegung aufgehoben wird.

*

Danke an D. und S. und alle anderen.

Lob der Stadt

Ein Paar Scheinwerfer, zwei Rücklichter, das trübe Licht eines Bauernhofes, der Rest ist Dunkelheit.

Novemberabende musst du in der Stadt verbringen. Lichterketten schälen sich aus dem Nebel, ganze Hänge sind illuminiert, allerortens Farben in einer Zahl und Raffinesse, die du vergessen hattest, das Leuchten ein Staunen. Licht reflektiert auf dem regennassen Boden, an Glas, Stahl und Chrom, an Sandsteinfassaden, die dem Auge mit jedem Schritt Neues bieten, ein Kaleidoskop menschengeschaffener Schönheit aus einer Ära der Fußgänger. Durch das vornehme Holz der Raucherbar nach oben, ein Glas Wein, dessen Preis keine Rolle spielt, auf weißem Leinen und der Blick hinab auf die Gasse. Später beim Gang durch vertraute Straßen das Wunder grün belaubter Bäume und Kerzenschein hinter Glasfassaden, um das sich Menschen versammeln, Schatten im Glück, und ich erinnere mich an Küsse, die hier ihren Anfang oder ihr Ende nahmen. Und dann irgendwann stehe ich in der Küche, die mir so winzig vorkommt und wo ich doch so wunderbare Menschen zu so wunderbaren Abenden um mich hatte und nie ist mir Stuttgart so schön erschienen wie an diesem Abend.

Zuhause zwei Rücklichter auf der Landstraße und der Schrei eines sterbenden Tieres in der Finsternis.

Die Kurve

Eglofs war für mich immer eine scharfe Doppelkurve, die sich unter dem Auge eines Kirchturms hinabschwang ins Tal. Den Ort selbst hatte ich meines Wissens nie betreten, bis in meine Lebensmitte hinein blieb der Name nur diese Kurve, ein Bild aus Kindheits- und Jugendtagen, als man vor der Öffnung der A 96 noch diese Strecke nahm zum Bodensee oder vielleicht hinüber nach Dornbirn, wo wir eine Kindheitsfreundin meiner Mutter besuchten. Sie schätzte ich besonders, weil sie auf ihren Besuchen – damals noch von ihrem Studienort im Tirol aus – gern und bereitwillig mit uns Kindern spielte, ganz besonders das von mir geliebte Brettspiel mit den Figuren und den weißen Steinen, was meine Eltern selten taten, und auch, weil sie mit der Welt der Bücher in Verbindung stand, die mir Verheißung war und später lange Jahre ja auch eigener Broterwerb, und weiters deshalb, weil sie Geschichte studiert hatte, damals also in Innsbruck, welches ich lange Zeit ebensosehr und ausschließlich mit ihr verbunden hatte, bis einer meiner Onkel dann einige Jahre dort am Theater arbeitete, die Geschichtswissenschaft also, die ich später selbst studieren sollte. Das also war mir die Kurve von Eglofs.

Der Fußweg führte mich halb um die kleine Große Kreisstadt Wangen herum, zuerst zum Friedhof nach Süden, gut besucht an diesen Allerheiligen, an dem Menschen ihren Verstorbenen einen Besuch abstatteten, obwohl Allerseelen ja erst am nächsten Tag sein würde, aber der war eben kein freier Tag, weshalb Allerheiligen für den Friedhofsbesuch genutzt wurde. An den Eingängen schüttelten Männer in Uniform, hinter großen Brillen die Spendenbüchse. Man kannte sich, nur der Wanderer vor der Mauer war fremd.

Jenseits der Stadt, so dachte ich, würde ich innehalten und lauschen, sobald ich kein Motorengeräusch mehr hörte, aber immer blieb das Rauschen von der Bundesstraße wahrnehmbar, und wenn doch einmal nicht, inmitten eines Wäldchens vielleicht, dann zog ausnahmslos ein Linienflugzeug niedrig über den Himmel. Also ging ich eben, ging weiter, gehe weiter ohne innezuhalten, die Jochbeine glühen kalt, die Handschuhe vermisse ich nicht. Anders als die Straßen schweigen die Wälder, wenn nicht gerade eine Amsel Alarm schlägt. Wie eingefroren die Landschaft bereits, im Windstillen schwebt nicht einmal Laub herab. Greifvögel, Katzen beim Mausen, Jungvieh auf den Wiesen vor dem ersten Schnee, sonst kein Tier.

So quere ich also den Bach, der in seinem Namen den meinen mit sich trägt, passiere den ausgewiesenen Kräutergarten, der so stille ist wie die Wälder, komme den Himmelberg herunter und steige zum Schnaidthöfle wieder hoch und bin immerhin ein paar Mal überrascht, wenn ich Wirklichkeit und Karte wieder in Einklang bringen muss, das immerhin bietet der Weg, den ich sonst nicht innigst ans Herz legen würde. Passiere auf dem Kamm zuletzt den Hof, wo wir im Sommer auf der verwandtschaftlichen Radtour Halt gemacht haben, und bin dann, nach drei Stunden Wegs, in Eglofs.

Das Dorfcafé suche ich auf, um einen Studienfreund auf Besuch zu treffen. In der Uni-Mensa haben wir nicht selten zusammen geschwiegen, im Einvernehmen geschwiegen, und das muss man ja auch erst einmal können, gemeinsam im Guten zu schweigen. Später teilten wir in unserem Berufsleben noch einmal für ein paar Jahre eine andere Stadt, aber das letzte Wiedersehen lag auch bereits den zweiten Sommer zurück, ein herrlich strahlender, reifer Tag war es gewesen im Lautertal der Schwäbischen Alb, zwischen Blatt und Licht und der Herrlichkeit des Lauterwassers.

„Mein Kind“, spottet der Freund und deutet auf den Kinderstuhl neben sich, „mein Auto“, winkt er zum Fenster hinaus, „mein Baugrund“, zeigt er mir auf dem Smartphone eine eingeebnete Fläche. „Eine Fliegerbombe war zum Glück nicht drin“, atmet er auf.

„Vielleicht noch ein paar Alemannenknochen?“, ermuntere ich.

„Unwahrscheinlich. Wir sind auf Sandstein gestoßen. Das erhöht die Kosten zwar noch einmal, aber ein alter Alemanne dürfte sich da darunter jedenfalls nicht verstecken.“

Das Dorfcafé füllt sich. „Ausschließlich mit Butter gebacken“, wirbt das Café, vegan ist hier fehl am Platz bei den vielen selbstgebackenen Torten und Kuchen. „Wie zu Großmutters Zeiten“, da würde clean eating durchaus passen, gute Zutaten frisch verarbeitet, aber wer will sich hier schon ein solches Modelabel umbinden? Die Wirtin eine robuste, herzliche Frau, täglich frisch gebackenes Brot, kein Tisch in der Stube mehr frei, das Café läuft. Ein Schatz für ein solches Dorf, denn welches kann denn ein richtiges Café sein eigen nennen, und das noch mit so viel Leidenschaft, Herzblut und soliden Rezepten geführt?

Geschwiegen haben wir am Tische nicht. Für diesen Luxus sehen wir uns inzwischen dann doch zu selten. Ich stecke den Rest meiner Butterseele ein, klopfe dem Freund auf den Rücken und wende mich wieder gen Osten. Die Kurve bin ich nicht hinabgefahren.

Erinnerung bei der Betrachtung des Raureifs

Weggeräumt den Kot der Fledermäuse, die über dem Dachbalken einen Eingang gefunden haben. Weggeräumt das letzte Waldwesen aus Holz, Draht und roter Zunge von der Schnitzeljagd einst im Februar. Weggeräumt Staub und einen rostigen Schlüssel von den Fliesen. Das Sofa, neu auf dem Balkon, habe ich dann mit Tolstoj eingeweiht. Das kann natürlich nur der Anfang gewesen sein.

„We were talking – about the space between us all“, an einer Stelle hängt die Platte, Henry the Horse galoppiert, bis ich die Nadel anhebe, ein Hi-Hat läuft auf der Zeitachse rückwärts, niemals hatte Ringo Starr das Schlagzeug live so spielen können, wie wir es hören, ein Mückenstich juckt, nur Minuten nach dem Angriff. „Du willst es scharf?“, hatte der Koch heute gefragt und mir eine tückische Chilischote auf den Teller gelegt, zu dritt haben wir sie nicht geschafft, denn sie war die vegetabile Hölle. Wenn nur die Müdigkeit nicht immer wäre, wie das nur juckt, solch ein kleines Tier. Der Tag erlischt hinter den Eschen, es verströmt die Nacht über der Welt, und ich weiß nicht, ist es Anfang oder Ende.

Eine ganze Weile irre ich umher …

Eine ganze Weile irre ich umher, bis ich es finde im Hinterland des Städtchens. Nach vorne hin eine bodenständige Gaststätte, liegt mein Ziel versteckt in einem rückseitigen Gebäude. Eine lange, geschwungene Theke, rot bemalte Wände, runde Tischchen zwischen den Schmucksäulen, zugleich unterkühlt und mit einer Ahnung von Kellergeruch, weil sich nur am Freitagabend Menschen in dem sonst toten Raum aufhalten. Es ist Wahrheit und Fiktion zugleich.

Das Schlagzeug setzt ein, der Kontrabass gesellt sich dazu, dann folgen die anderen Instrumente. Die vier Vollblutmusiker sind sich in einer Weltmetropole über den Weg gelaufen waren und standen in dieser Kombination noch nicht zusammen auf der Bühne. Es kümmert sie nicht, sie spielen einfach, finden sich im Musizieren. Und ich fühle mich wie eine Pflanze nach Monaten der Dürre, die beim ersten Regen spürt, was sie die ganze Zeit so sehr vermisst hat. Weit, ganz weit und offen wird meine Brust und ich hätte weinen können vor Glück.

Am nächsten Abend am entgegengesetzten Ende des Allgäus: ein schmuckes, sympathisches Programmkino, ein Espresso, drei Angestellte und vier Gäste im Vorabendprogramm. Wir schauen einen Dokumentarfilm über einen Geiger und es geschieht erneut: Das Ambiente, die geistige Freiheit, „Der Klang des Lebens“ – wieder werde ich ganz weich und ich frage mich, was mache ich da eigentlich zurück im Allgäu, in dieser Ödnis, in der man so weit fahren muss für solche Erlebnisse, für diese kulturelle Nahrung.

Warum, das begreife ich, als ich am Morgen nur zehn Minuten fahren muss, um in einer wunderbaren Landschaft spazieren zu können: Herbstwälder und Moorwiesen, Kühe über grünen Hügeln und Bäche, in deren Klarheit ich am liebsten untertauchen würde. Und noch einmal nachts, als ich empor schaue in das Funkeln der Milchstraße und der Schmerz in meinem Kopf schwindet.

Und morgen – die Berge?

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Das Lächeln der Chinesin

An der Sonnenseite des Kirchturms hängt das weiße Kreuz auf rotem Grund. Kirchweih ist an diesem Oktobertag. Der Ahorn am Bahnhof leuchtet in einem satten Gelb, ein bisschen Honig, fast schon Ocker. Die Farbe findet sich in den Hinweisschildern des Bahnhofs wieder. Der buckelige Leib der Endmoräne ist ratzekahl abgemäht, praktisch kein Feld, das nicht eben noch geschnitten wurde. Die Zeiten haben sich geändert. Die Bauern, die wenigen, die noch da sind, arbeiten auch nachts. Immer schon sind sie sehr früh auf, aber wenn Nacht wurde, ließen sie die Arbeit ruhen, das war schon Ehrensache. Nun aber leuchten spätabends noch auf den Feldern die Scheinwerfer der immer größer werdenden Traktoren und die mächtigen Strahler an Scheunen und Außenstallungen.

„M. muss zum Handballern nach Gauting fahren und weiß gar nicht, wo das ist“, sagt jemand. „Oh je, das hört sich weit an, wahrscheinlich noch hinter München. Das ist mein Sonntag, hat sie gesagt.“

Am nächsten Bahnhof springt ein chinesisches Pärchen auf. „Halt, halt“, ruft eine ergraute Dame. „Das ist noch nicht Kaufbeuren!“
„Biessenhofen?“, fragt atemlos der Chinese.
„Doch, ja, das ja.“
Das Pärchen wendet sich weiter zur Flucht aus dem Zug und noch einmal ruft die Dame: „Halt, halt!“ Die Jacke auf dem Sitz.
Die Chinesin stößt einen spitzen Schrei aus, stürzt lächelnd zurück zur Jacke und wieder hinfort zur Tür und hinaus und weiter wahrscheinlich nach Füssen, nach Schloss Neuschwanstein. Gelächter erhebt sich im Waggon, milde und wohlwollend und warm. Es macht die Menschen schön und in diesem Lachen hätte jeder jeden gemocht.

Der Zug fährt wieder an. Draußen ist der perfekte Herbst, leuchtend, strahlend, klar. Milde auch hier in seinem Licht.

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Stille Höhen

Im Tal ist es kalt. Handschuhe wären nicht verkehrt, denke ich mir. Wir verpassen den Pfad in die Höhe, aber letztlich ist es egal, denn in eine Richtung müssen wir den Talweg so oder so nehmen. Eine Kuh auf einer Wiese gefällt uns, ein kräftiges, dunkles Rind mit markanten Linien, wir denken beide an ein Urrind. Dann schweigen wir wieder. Ich hänge düsteren Gedanken nach, nach einem Gespräch ist mir nicht.

Oben reden wir. Die Sonne löst die Zunge, lachend schieben wir die Ärmel zum Ellbogen zurück. Es ist warm auf Halbhöhenlage. Weite Hänge aus braunem Gras fallen unter einem blauen Himmel ab, Geröll strahlt im Licht. Unter uns rosten Buchen, die paar Bäume heroben – Bergahorn, Birke – sind bereits kahl, Sattgrün tragen einzig die Latschen. Oben dann weiß der Schnee im grauen Gestein.

Es ist still. Tief unten rauscht der Fluss, eine Dohle krächzt auf, ein Verkehrsflugzeug brummt, leider, aber ansonsten ist es still. Eine Durchgangsstraße kann den Erholungswert eines ganzen Bergtals zunichte machen. Das Stillachtal hin zu Deutschlands südlichstem Flecken aber ist eine Sackgasse. Die Stille ist ein Segen.

Dann ein sehr trockenes, hartes Klacken, gedämpft und doch mit einer Macht, die zum Schweigen verurteilt. Wir halten inne. Stein schlägt auf Stein, Fels fällt, fällt, fällt. Ein Steinschlag, drüben, jenseits des Tals, an den 2500ern. Ein Geräusch bar jeder Gnade. „Hoffentlich ist nichts passiert“, flüstert jemand.

Dann herrscht wieder Stille.

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Hornissenflug

Morgens in der Hölle von IKEA. Ich treffe eigens schon kurz vor Öffnung ein, um rasch wieder gehen zu können. Ich bin nicht allein. Einige Stoßtrupps haben sich für den Sturm auf das Einrichtungshaus bereits gesammelt. Viele von ihnen scherzen und lachen, als wären sie zum Vergnügen hier. Als ich 45 Minuten später wieder hinaustrete, hängt noch immer Nebel über der Donaustadt, aber der Parkplatz ist bereits voll. Ich bin froh, als ich wieder die Kette der Berge vor mir sehe und den Himmel blau hinter dem Allgäuer Tor.

Die Hornissen fliegen immer noch ein und aus. Ein Wesen, das einem Kolibri ähnelt, aber unmöglich einer sein kann, schwirrt um die letzten Blüten des Gartens. In der heißen Jahreszeit verirren sich diese Taubenschwänzchen manchmal über die Alpen nach Norden. Nun geht der Oktober zu Neige und der Falter tanzt noch immer seinen Kolibriflug. Auf der Südseite ist es warm genug, hemdsärmelig dazusitzen, neben den noch grünen Tomaten. Für sie ist jeder Tag ist ein Vabanquespiel. Nochmals einen Tag an den Stauden reifen lassen oder doch schon vor dem drohenden Erfrierungstod retten? Die Winterreifen, erinnere ich mich da. Vergiss die Winterreifen nicht! Ich habe keine Routine eingeübt, mir um Winterreifen Gedanken zu machen. Wie leicht aber lässt sich das auch vergessen unter dem gelben Wein, wo die Hornissen brummen. Bald werden die Insekten sterben. Einzig die neue Königin wird den Winter überstehen, um dann aus sich heraus ein neues Volk zu erschaffen für einen Sommer lang. Welche Kräfte in diesem einen Tier zum Tragen kommen!

Die Erde wurde von den Tropen aus erobert, aus diesem Garten Eden ohne Jahreszeiten, diesem unentwegt gebärenden Schoß. Die Pioniere, aus dem Paradies verstoßen, hatten einen schlimmsten Feind zu bezwingen: den Mangel an Wasser – schiere Trockenheit oder aber die Kälte, die das Wasser gefrieren und so nicht mehr frei strömen lässt in den Kreisläufen der Eroberer. Aber die Pflanzen fanden Wege, mit dieser Not umzugehen. Und so taten es ihnen die Tiere nach, um den Winter, diese Jahreszeit des Todes, zu überstehen. Abzusterben bis auf die Mutter eines künftigen Zeitalters, die tief verkrochen über die Wintermonate dahindämmert, ist einer von vielen Wegen. Eine Logistik aufzubauen, die es einem privilegierten Teil einer Art erlaubt, jederzeit und in unerhörter Geschwindigkeit Nahrungsmittel aus aller Welt herbeizuschaffen, ist das jüngste Kapitel in der Geschichte dieser Strategien. Der Preis dafür lässt sich nicht im Geringsten in den Währungen messen, die wir in unsere Supermärkte tragen …

Ich schiebe die Gedanken beiseite und teile die Teller aus. Es gibt eine Gemüselasagne der Großmutter, wir essen auf der Terrasse, manche suchen freiwillig die Schattenplätze. Dankbar lasse ich mich auf einem Sonnensitz nieder. Noch fliegen die Hornissen, noch fliegen sie …

Als die Teller leer sind, ist der Himmel zugezogen. Nebel nichtet die Welt. Kälte kommt.

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Alberich und Wirsing

Man kann von der Schule halten, was man will, aber ihr weitläufiges Gartengrundstück ist wunderschön. Wege schwingen sich durch die Wiesen, ein Bachlauf mündet in einen Teich mit Birkensaum und Schwanenfamilie, hinter der Baumschule grasen Schafe, Steinsetzungen krönen die Kuppe des Hügels, ein Wagencafé steht da, verschiedene Werkstätten und Schulgebäude im anthroposophischen Baustil. Es sieht ein bisschen aus wie ein ästhetisch ambitioniertes Auenland. Ende des letzten Jahrhunderts war all das noch eine sumpfige Viehweide.

Die „Freie Schule Albris e. V. Einheitliche Volks- und Höhere Schule des Menschen in der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ feiert hier ihr Herbstfest. Früher hieß sie einmal Waldorfschule Kempten, aber wegen Rechtsstreitigkeiten mit dem Bund Freier Waldorfschulen musste sie ihren Namen ändern. Ich bin hier, um jemandem an einem Stand eine Schmerztablette vorbeizubringen, was doppelt komisch ist, weil diese Person solche üblicherweise rundum verweigert.

Dann fällt mir der Rottweiler ein.

Für einen halben Tag zeigt sich der späte Oktober sonnig und ich schreite aus. Ein Baumhaus steht am Hang unter rotem Laub. Ahorn und Birken sterben in Gelb. In den Wäldern droben rostrote Flecken, wo Laubbäume zwischen den Fichten stehen. Die Eschen tarnen sich in Grün: Sie, die doch am längsten nackt bleiben im Jahreslauf, zeigen noch keinen Herbst.

Ich passiere einen kleinen Friedhof, da liegen welche, die ich mal kannte, aber in dem Augenblick komme ich nicht auf die Idee, dort nach den Grabsteinen zu suchen. In jenem Ort mit dem merkwürdigen Namen, der mich immer an Gemüse denken lässt, wohnte einst entfernte Verwandtschaft, in einem Haus schon halb im Walde. Es waren sehr kleine, sehr kompakte Menschen, zumindest die ältere Generation von ihnen, und inzwischen lebt niemand mehr, den ich kennen würde. Ich erinnere mich an einen Besuch, ich saß steif auf einem Stuhl, ein Rottweiler fixierte mich und die Gastgeber sagten nur „Bewegt euch halt nicht schnell, dann passiert schon nichts“. Ich war froh, als wir wieder draußen waren, ohne dass mir der Hund an Hosenbein oder Kehle gegangen war.

Ziervieh scheint inzwischen beliebter als scharfe Hunde. Drollige kleine Ziegen mit gedrehten Hörnern teilen sich eine Wiese mit Mandarinenten. In Wahrheit sind die Ziegen  keine solchen, sondern vermutlich Kamerunschafe, aber das weiß ich in diesem Augenblick noch nicht. Vor dem nächsten Hof stehen kleine Esel mit durchhängendem Rücken und ein winziges Pony, das mit den Nüstern über den Rücken eines liegenden Esels fährt und mich durch den Vorhang aus hellen Haaren hindurch mustert.

Lange führt der Weg über asphaltierte Straßen, auch wenn er auf der Karte als Wanderweg ausgezeichnet ist: den Berg hinab bis an die Autobahn, diese ganz kurze Autobahn, die sich bald zwischen den Hügeln verlieren wird. Der Verkehr ist mäßig, trotzdem immer präsent. Über eine Brücke rollen die Fahrzeuge mit dunklem, hohlen Klang, als würden sie über Holzbohlen fahren. Zwischen Wiese, Birkenhain und gefällten Sträuchern knattert mir ein Zweitakter entgegen, ich nicke dem Bauern zu, ein älterer Herr auf Rollskiern kommt hinterher, ich nicke noch einmal.

Walkarts (noch ein Ort mit erstaunlichem Namen) ist eigentlich nur ein Weiler, trotzdem ragt dort ein Maibaum in die Höhe. Schilder verweisen auf eine Allerseelenausstellung in einem Blumenatelier. Es ist der Hof ganz am Ende des Landsträßchens. Ich zwänge mich an Autos in einem Hohlweg vorbei, brauche auf dem matschigen Weg empor endlich meine Wanderstiefel. Rehe kreuzen, Autos rauschen unten, der Schweiß läuft unter der einer Erkältung wegen festverschlossenen Jacke.

Gen Spießereck ist es endlich schön. Jungvieh auf einer Weide starrt herüber. Im Süden verliert sich das Illertal im Dunst der Voralpen. Die Gipfel sind weiß, auf 1500 Meter vielleicht hat es heruntergeschneit. Es geht in den Wald hinein, wider Erwarten ein Buchenwald, freundlich erstrahlt er im Sonnenlicht. Ein Pfad schlängelt sich am Hang entlang, ein Bach plätschert. Einer Holzbrücke fehlt die Hälfte der Trittbretter. Da unten beginnt der Rohrbachtobel, ein sehenswertes Naturschutzgebiet. Ich aber biege nach Norden ab, in einen bewirtschafteten Forst hinein, sofort wird das Terrain gewöhnlicher: breite Wege für die Fahrzeuge, uniformierter Wald, nur gelegentlich schlammige Pfade und dann ein felsiger Weg hinaus aus dem Wald.

An einem Weiler suche ich einen Feldweg, der auf meiner Karte eingezeichnet ist, ein Hofhund bellt, ich biege ab auf einen anderen Weg zwischen den Häusern hindurch, an einem Verbotsschild vorbei, wie ich es schon mehrmals auf dieser Strecke gesehen habe. Man liebt keine Fremden hier in den Sackgassenhöfen. Ein paar Kinder starren mich an, ich frage sie, ob es dort hinab geht nach Albris, sie bestätigen es und als ich im Plauderton einen weiteren Satz von mir gebe, weiß ich, das war schon zu viel der Worte. Stumm starren sie mich an. 200 Meter von der Hauptstraße entfernt, die ich eben überquert habe, und schon ist ein Fremder ein Fremder. Ich setze meinen Weg fort, an einem weiteren Verbotsschild vorbei, und glaube, die Schritte der Kinder hinter mir zu hören, als behielten sie den Fremden im Blick, dann bin ich auf dem Feld.

*

„I bin aber it Frau …, sondern d‘Rosl. Doa schwätzt sich‘s oifacher.“ Zuhause dann wieder eine Nachbarin getroffen.

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