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Das Maß an Geschwindigkeit

Abends holte ich noch einen Freund am Autobahnkreuz ab. Die Tankstelle war überfüllt. Es waren nicht die Menschen, die hier üblicherweise ihre Mitfahrgelegenheit suchen oder verabschieden, sondern junge Leute, die mir austauschbar erschienen, in sauber geputzten, mir vage merkwürdigen Autos. Ein paar saßen in Klappstühlen oder umlagerten die parkenden Wagen, andere fuhren in ihren Fahrzeugen hin und her und hin und her. Da begriff ich erst, dass die Tankstelle nicht nur Feierort für junge Leute in Zeiten von Corona war, sondern mehr noch, Anlaufstelle für getunte Autos. Immer mehr Fahrzeuge mit Spoilern und Heckflossen fuhren ein, ließen ihre Motoren heulen, Auspuffe krachten, jeder Fahrer sah ähnlich gegelt und austauschbar aus und für gewöhnliche Tankstellenkunden schien gar kein Platz mehr in diesem Treiben.

Ich parkte neben der Ausfahrt eines Autohauses, kein Ort, an dem ich ein Auto abstellen würde, aber ich wollte es ja gar nicht verlassen, ich wartete nur auf das Fahrzeug aus Leipzig, das einen Freund ausspucken und sich dann wieder auf die Autobahn schwingen würde. Mein linker Arm hing aus dem Fenster hinaus, die rechte Hand tippte auf dem Handy herum, mein Blick ging immer wieder suchend umher, um jedes Mal wieder bei dem absurden, ja mir unfassbar erscheinenden Schauspiel vor mir zu landen. Schon drehten sich ein paar der jungen Leute zu mir um und ich ahnte die Frage, was will der alte Knacker da, vielleicht lachte sogar jemand höhnisch auf, der will doch nicht etwa ein Rennen fahren. Ich fühlte mich an einen todlangweiligen Film erinnert mit dem frühen Harrison Ford, der in den Sechzigerjahren spielt und in dem andauernd junge Leute in Autos hin und herfahren, als bestünde der Sinn ihres Lebens in nichts als dem Cruisen.

Ein Polizeiwagen bog herein und ich fragte mich, wie oft sie an Freitagabenden hier wohl patrouillierten, aber da sah ich N. im schwarzen T-Shirt und mit der Tasche in der Hand, schlank und etwas abgekämpft von der Fahrt und ich winkte ihm durch das offene Fenster zu.

Am nächsten Tag stiegen wir auf den Schönkahler. Eine Genusstour, wie man so sagt, kein großes Ding, nicht einmal 1700 Höhenmeter hat der Berg. Von Genuss erst einmal keine Rede, die meiste Zeit ging es auf Forstwegen hinauf und später wieder auf Forstwegen hinab, öder ist da nur noch Asphalt. Erst ab der Pfrontner Alpe, an der ein paar Hühner auf dem Misthaufen scharrten, dann Pfade über Bergwiesen und Glockengeläut von Vieh, malerisch ein einzelner Laubbaum über einem Felsenband und recht bald der Gipfel. Der Ausblick dort dann doch schön, tatsächlich in jede Richtung sehenswert und netterweise pausierte das Wolkentreiben gerade jetzt und ließ auch mal Sonne durch. Erst als wir wieder abstiegen, machte es wieder zu. Manche Wolken trieben so dunkel, als wollten sie gleich ihre Last abladen, aber nein, ihre sie trugen ihre stumme Drohung weiter, sollten doch noch ein paar weitere Menschen erschrecken.

Wunderbar dann auf dem Rückweg der schmale Pfad ins Himmelreich hinüber, zwischen den beiden Ächsele hindurch, kaum ein Mensch unterwegs, nur ein paar Bremsen, die uns die Waden blutig stachen, sonst Stille, Weg, Gehen.

Der Holderboschen

Räumliche Perspektiven und ihre andauernde Veränderung durch Ortswechsel sind immer wieder überraschend. An der Wasserreserve von Wildberg hatte ich vor ein paar Tagen zum ersten Mal die Pleisspitze bewusst wahrgenommen, und das nur, weil ich ihren Namen auf einer Hinweistafel gefunden hatte und das Auge danach die Erscheinung hinter diesem Namen am Horizont suchte.

Heute erkenne ich den Berg wieder, von unerwarteter Stelle aus. Wie kann es sein, dass ich hier, auf dem Probstrieder Hörnle, eine ganz ähnliche Perspektive einnehme wie ein paar Tage zuvor an einem ganz anderen Ort in einer gefühlt ganz anderen Region?

Erst am Abend begreife ich, was vom ersten Augenblick an irgendwo am Rande meines Bewusstseins war. Die Pleisspitze, das ist ja in Wahrheit nichts anderes als die Bleispitze im Lechtal, ein paar Autominuten vor dem Fernpass, auf der ich doch erst im Spätsommer mit einem Studienfreund war! Also kannte ich diesen Berg längst, stand schon einmal dort oben, was ich nun auf die Ferne zweimal neu entdeckt zu haben glaubte. Der Berg ist bis auf den Gipfel hinauf mit seinen gut 2200 m Höhe von Gras bewachsen. Die letzten Meter des Weges waren brusthoch überwuchert. Wie durch einen Dschungel bahnten wir uns unseren Weg zum Gipfelkreuz. Zwischen summenden Hummeln schlug ich am Kreuz mit seinem Strahlenkranz das Gipfelbuch auf und formulierte dafür um, was mir die jüngste Tochter meines Studienfreundes diktierte. Es war meine letzte Gipfelbesteigung vor der Geburt meiner eigenen Tochter eine Woche später.

Hier auf dem Hörnle, von dem aus wir die Pleisspitze also wiedersehen auf einem Spaziergang mit unserer Tochter, gibt es auch ein Gipfelbuch, obwohl das Hörnle gar kein Gipfel ist, sondern nur eine kleine Anhöhe, ein Buckel, wie man hier sagen würde, und trotzdem schreiben die Menschen – manche ironisch, andere vielleicht weniger – Sätze hinein wie „Berg erklommen“.

Heute zieht hier mal kein Wind durch, oft kann man hier gar nicht sitzen auf dem Bänkchen, weil’s zu schneidend ist. An diesem Januartag geht es aber und wir schauen hinab ins Illertal und die Hügelketten westlich davon und, wenn wir den Kopf drehen, in die Alpen hinein. Schön ist es hier und noch schöner wäre es ohne das Rauschen der Autobahn. Ein Rabe krächzt zwischen Fichten und nackten Eschen, ansonsten nur Autos, Autos, Autos, mal das Knattern eines Hubschraubers, dann das Zischen eines Heißluftballons. Und das Rauschen der Menschen.

Ein älteres Paar kommt herauf, der Mann tastet nach dem Gipfelbuch und trägt – halb in Rücksprache mit seiner Frau, halb in andauerndem Vorwurf in ihre Richtung – etwas ins Buch ein, lobt den Ausblick, das Wetter und all das, verpackt in einem Geschwätz aus Belanglosigkeiten, einem Plätschern von Nichtigkeiten, garniert mit ein paar unnötigen Spitzen und dem Grau von Jahrzehnten einer dumpfen Ehe.

Was bedeutet wohl Glück für diese beiden Menschen? Was treibt sie an, welche Fragen stellen sie sich, wo setzen sie sich ihren Horizont, worin finden sie Erfüllung?

Als sie weiterziehen, sprechen wir es ohne den Drang richten zu wollen, so hoffen wir, aus: Was verbindet uns eigentlich mit diesen Menschen? Mehr als ein paar biologische Funktionen und die gleiche Luft, die wir atmen?

Für den Holunderbusch hinter uns ist die Sache klar: Wir alle sind einfach nur Vertreter der Gattung Mensch. Das ist alles.

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Der Tanz im Formarinsee

Ist er nun blau oder grün, dieser Schmelzwassersee im Lechquellengebirge? Der Himmel spiegelt sich in ihm. Der Fels. Die Bergwiesen und Latschenkieferngesträuche. Wir steigen nackt ins Wasser, es ist so kalt, dass nur rasche Züge hinein in seine Tiefe vor der Aufgabe retten. Die Steine am Grund sind selbst dort noch zu sehen, wo die Zehen den Boden nicht mehr erreichen. Von der Sonne gekrönt, heiligen Lichtbahnen unsere Schatten.

Wir kreisen umeinander, immer und immer wieder, mal erstrahlen Augen grün, dann blau. Küsse über der Wasserlinie, ein Sichfinden an der Grenze des Ertrinkens. Dann Flucht: Blau bricht das Wasser auf um ihren Leib. Dann Pirsch: Grün bleibt ungekräuselt, wohin ich, augenverankert, ihr folge.

Als auch die Küsse die Kälte nicht mehr abhalten, schwimmen wir in den Uferbereich zurück, die Füße suchen einen Stand im schlammigen Grund, wir umarmen uns, halten uns, schwankend wie Bambus im Wind, bis die Fischlein an unseren Beinen knabbern. Dann entsteigen wir, auf die warmen Felsen hinauf, dem Wasser, und ich weiß schon nicht mehr, war es blau oder grün.

Formarinsee_Alpen_Lechquellengebirge_Bergsee_Vorarlberg

Gedanken beim Queren einer Brücke

Gen Bregenz quert die Bahn einen Fluss, er kommt aus den zum Greifen nahen Bergen herab. Gemächlich schwimmen Menschen im grünen Wasser, nicht eiserstarrt wie in den Alpenbächen, sondern als sei es eine absolute Selbstverständlichkeit, im Sommer im Fluss zu schwimmen. Stein, Wasser, Wind, Wärme, Licht an der bloßen Haut und schon ist der Zug weitergerollt, der Fluss verschwunden. Eine ungeheure Sehnsucht bemächtigt sich meiner. So, schreit etwas in mir auf, so will ich leben, nicht tage-, nein wochen-, monatelang.

Im Allgäu loben die Menschen ist das wieder ein guter Sommer und ich, ich verstehe nicht, was sie sagen und warte noch immer auf ihn.

Berge_Alpen_Tirol_Sommer_Bach_Bergbach_Baden_Frische

Reich

Einer in Feuerwehruniform rennt die schmale Straße herab, er kommt zu spät von seinem Hof. Unten im Dorf sammeln sich bereits Trachten und Ehrenuniformen und Paradesäbel für die katholische Prozession. Später rollt der Donner der Fronleichnamsböller über den Bregenzer Wald. Da sind wir bereits 1000 Meter höher in einer anderen Welt.

Die Kühe tragen Hörner, das ist das Erste, was aufällt. Sie dürfen noch ihre in ihnen angelegte Form verkörpern. Wie verkrüppelt und unvollkommen eine enthornte Kuh aussieht, wird einem erst wieder bewusst, wenn man diese Tiere auf einer Alpe oder einem Demeter-Hof in ihrer eigentlichen Erscheinung sieht. Das Zweite ist die Zäunung. Nicht auf ein Feld gebannt hat der Bauer die Tiere, sondern seinen Weiler zum Mittelpunkt des Weidelandes gemacht. Zwischen den Höfen stehen, schlendern die Rinder, grast ein Kalb. Dieser Schönheit können auch die Kuhfladen vor der Haustüre nichts anhaben.

Schwül lastet die Luft an diesem letzten Maientag auf uns. Im Wald ist es noch kühl, der Steig rutschig, und trotzdem drückend feucht. Schweiß kostet jeder Höhenmeter. Als wir aus dem Wald treten, zwischen letzten Schneeresten, werden Luft, Auge, Herz leichter, lichter. Der Blick weitet sich in alle Richtungen: Bodensee, Alpenvorland, Allgäuer Alpen, Vorarlberg, Säntis. Tief in den Bergen nur Wolken, Fels und Schnee. Wir haben gut daran getan, uns am Rand zu halten. Über den Kamm ziehen wir in Schwüngen nach Westen, zur Rechten des Grates fallen die Höhen steil ab, nach Süden schwingt sich die grasbewachsene Flanke ins Tal. Die Wiesen ein Blütenmeer: Rote Lichtnelke und Bergbaldrian, blauer und gelber Enzian, Ehrenpreis in Blasslila und das Hellblau des Vergissmeinnicht, Weißer Hahnenfuß und gelbe Alpen-Kuhschelle. Wie entsetzlich trist die Wiesen zuhause, von vielfacher Mahd verödet – grüne Wüste.

Fast ist es Neid, was die Flasche Bio-Radler weckt, die einer aus dem Rucksack zieht. „Ich hatte mir auch überlegt, ein Bier mitzunehmen“, kommentiert unser Wahlschweizer. „Und du wolltest dich nicht outen?“ „Ich dachte, ich nehme lieber Gras mit.“

Besser als jedes Radler schmeckt unten auf der Alpe das Glas Rohmilch: urwüchsig, satt und fett. Das Risiko von Krankheitskeimen kümmert mich in diesem Augenblick nicht, denn so gut schmeckt Milch nirgends mehr. Arm, wer diesen Geschmack nicht kennt, sinne ich über dem leeren Glas. Und wie viele Jahre lang hatte ich als Kind, als Jugendlicher bei den Nachbarn die Milch geholt und die Kanne auf dem Heimweg bereits angesetzt und war nie krank geworden?

Über der Nagelfluhkette zwei Täler weiter Gewitterwolken und dann Blitz und Donner. „Mama, los! Mama, auf, es regnet!“, schreit ein nicht mehr kleiner Junge fast panisch vom Spielplatz her und wir können nicht anders als zu lachen. Das Gewitter ist weit und Regen ist wahrlich nicht das, was er zu fürchten hätte.

Später dann hinunter in die bewaldete Schlucht, über eine überdachte Balkenbrücke und an ihrer Flanke hinab an den Bergfluss. Ein Gumpen zwischen den rundgeschliffenen Steinen, er ist groß genug, dass wir alle zusammen ins Wasser steigen, sogar einige Züge schwimmen können. Das Wasser ist erstaunlich warm. Ein paar Tage zuvor tauchte ich in den Bergbach drüben an der Nagelfluhkette und zählte die Sekunden – eins, zwei, drei -, die ich die fürchterliche Kälte ertrug, bis ich mich wieder aus dem Bachbett erhob, brennend vor Kälte und mein Leib ein einziger Lebensschrei, so dicht, so echt, so wahrhaftig.

Bei jeder Bergwanderung in ein Gewässer zu steigen, das habe ich mir vorgenommen für dieses Jahr. Denn ich will reicher sein.

Winterstaude_Bregenzer Wald_Alpen_Wanderung_Berge

Träume von der Tiefe

Es ist wohlfeil, einen oft genannten Aphorismus erneut zu zitieren. Trotzdem denke ich später, als ich die Gipfel längst hinter mir habe, an Friedrich Nietzsches Ausspruch. Die Höhe bietet genügend Fläche, vom Kreuz hierhin und dorthin trennen Schritte vom Sturz hinab. Ich bin wachsam, aber nicht unruhig. Die Angst kommt erst später, nachdem ich Minuten auf dem Gipfel sitze, stehe. Stille, ganz stille sammelt sich der Abgrund um mich an und öffnet etwas in mir. Dem Druck der Tiefe halte ich nicht stand. Fast barsch frage ich: „Gehen wir weiter?“ Den Abgrund trage ich mit mir.

*

Da liegen die anderen also auf der Bergwiese und halten ein Nickerchen. Wir haben den Ponten hinter uns, diesen Berg mit seine ganz und gar unallgäuerisch anmutenden Namen. Pons, pontis spuckt die Erinnerung altes Schulwissen aus, aber warum sollte der Berg nach dem lateinischen Wort für „Brücke“ benannt sein? Später lese ich, dass eine Ableitung von „Bann“ als wahrscheinlich gilt, also ein „gebannter Berg oder Wald“, Holzschlag verwehrt. Vor dem Ponten haben wir den Bschießer überquert, und dessen Name passt ja umso besser ins Allgäu, treffender geht es kaum als ein gedehntes, um nicht zu sagen kuhmäuliges „Bschiaßa“. Die Österreicher übrigens – die Grenze nämlich verläuft über die Höhe – schreiben Bscheisser, was zugegebenermaßen auch nicht übel ist.

Da liegen die anderen also auf der Bergwiese und halten ein Nickerchen. W. auf der Seite, vermutlich schläft sie tatsächlich, ihre Beine jedenfalls zucken, M. auf dem Rücken, die Füße aufgestellt, die Kappe übers Gesicht gezogen, eher Ruhen als Schlafen. Einen kleinen Gipfel haben wir noch vor uns, dann geht es wieder hinab in die Welt des Alltags, und das wollen wir noch hinausschieben, wobei ich sagen muss, ich könnte doch jetzt gleich schon weitergehen, statt ins Büchlein zu schreiben, denn Schlummern, das ist nichts, dann wache ich in der Sonne noch völlig benommen auf, hirnweich und knieweich gleichermaßen.

Schwebfliegen und Schmetterlinge über blühenden Kräutern, ein Kreis von Latschenkiefern, Wind weht, weniger frisch als noch zur Mittagszeit, mild war es wirklich nicht. M. hat sich leise aufgerichtet, wir schauen uns an, überlegen, wer es zuerst ausspricht: Gehen wir weiter?

„Ich habe geträumt“, schreckt W. da auf.

Allgäuer Alpen

In der Nachbarschaft des Ponten

Auftreten

„Das Gaishorn“, sagte mein Bruder, „kann man ja ein Stück weit auch mit dem Fahrrad hochfahren“. Im aufkommenden Nebel sei er dann aber auf dem Abstieg vom Gipfel auf einen anderen Weg geraten und musste anschließend eine ungeheure Strecke gehen, um wieder an sein Rad zu gelangen.

Schaut man von Norden auf die Kulisse der Allgäuer Alpen, fällt das Gaishorn als besonders wuchtig auf. Das relativiert sich ein bisschen von anderen Perspektiven aus, das hatte ich bereits erfahren, auf dem Berg selbst aber war ich noch nie. Also nehme ich mein Rad mit und fahre den Schotterweg zum Älpele hoch oder genauer gesagt, schiebe das größte Stück, denn es ist doch verflucht anstrengend. Zwei Bauern treiben Jungvieh durch den Wald zusammen, um es auf eine höhergelegene Weide zu bringen. An den Tieren vorbei schiebe ich sowieso und überhole sie, wuchte vorsichtshalber das Rad ein paar Schritt neben ihnen über den Zaun, vor dem sich das Vieh versammelt, und öffne dann erst für mich den Draht über dem Wirtschaftsweg. Ein dritter Bergbauer steuert rückwärts sein Auto den Berg herab und kurbelt die Scheibe herunter. „Servus“, sagt er. Wenn die Viecher kommen, solle ich halt auf die Seite treten und es vorbeilassen. Aber da war ich ja schon weit vorneweg.

Ein Berg wird immer dann reizvoll, wenn die Waldgrenze überschritten ist. Ein weiter Kessel tut sich auf. Ein paar niedrige Laubbäume sind über das Grün verstreut, in den Hängen wachsen Föhren, Geröll zieht sich in Bahnen die Wiesen hinab. Das Älpele am Rande des Kessels öffnet erst eine Stunde später, also muss ich mit den beiden Wasserflaschen im Rucksack auskommen. Ich binde das Rad an einem Zaun fest, ein Wanderer überholt mich, sonst ist es still. Ich schreite in den Kessel hinein, in diesen Frieden, der monatelang im Jahr von Schnee bedeckt ist. Das Flugzeug am Himmel natürlich nervt.

Erst dann sehe ich das Gaishorn: ein Felsmassiv über Schotterhängen, oben leuchtet das Gipfelkreuz im Sonnenlicht. Mein Weg macht einen Knick, der Grashang, auf den ich gegen die Sonne zuwandere, ist ein von schwarzen Schattenlinien durchzogenes Grün. Oben gehen zwei Menschen. Bald bin auch ich oben auf diesem Kesselrand, passiere den Weg, der vom Vilsalpsee heraufführt und habe das Massiv vor mir. „Trittsicherheit erforderlich“, warnt ein Schild. Das ist, sage ich mir, kein Problem. Das ist alles kein Problem, solange das Schild nichts von Schwindelfreiheit schreibt. Ich lasse das Grün zurück und betrete hartes Grau. Der Pfad quert zur Hälfe ein Schotterfeld, über das im Winter gerne Skitourengeher abfahren, dann geht es dort recht steil hinauf. Im Geröll achte ich auf jeden Schritt, wenn ich einmal nach oben blicke, sehe ich nur Fels aufgetürmt. Wo dort der Pfad hindurchführen wird, kann ich nicht erahnen, aber das ist ja ganz gewöhnlich so, wenn man von unten einen Berg hinaufschaut. Alles kein Problem.

Dann verliere ich die roten Wegmarkierungen. Das da, das sind doch Stiefelspuren? Also muss es dort entlanggehen, orientiere ich mich. Dann verliere ich auch diese Spuren und weiß nur, irgendwo dort hinauf muss es halt gehen. Mein Atem geht noch eine Spur schneller, als er angesichts der körperlichen Anstrengung müsste, und ich denke mir: Alles kein Problem. Noch kann dir nichts passieren.

Endlich entdecke ich wieder einen roten Farbtupfer und rufe ihm stumm mein Hurra zu. Ich erreiche ein Schneefeld, das sich in einer Rinne gehalten hat. Dort hinüber? Ja, eine undeutliche, bräunlich geränderte Linie zieht sich quer hindurch. Das müssen Fußspuren sein. Der Schnee ist weich und sulzig, darunter grobkörnig zäh. Ich trete die hangaufwärts liegenden Kanten meiner Stiefel kräftig in die Masse, um einen sicheren Stand zu haben. Ich steige weiter empor, keine Spur von den Menschen, die ich auf dem grünen Kamm noch vor mir hatte, nur ein ausgelassener Ruf eines Menschen auf einem Grat zur Rechten.

Vor einem zweiten Schneefeld verliere ich wieder die Wegmarkierung. Ich spähe hierhin und dorthin, nirgendwo ein aufgemalter roter Fleck oder Strich. Taste mich zwischen Felsen empor, hoffe auf ein Zeichen. Es kommt von unerwarteter Seite. Eine sportliche Frau überquert unter mir das Schneefeld. Also doch dort hinüber und den steiler gewordenen Hang hinauf? Ich rufe der Frau zu. Sie versteht mich zuerst nicht, antwortet dann auf meine Frage beinahe schnippisch: „Oder hast du einen besseren Weg?“. Ihre Sicherheit wird zur meinen, ich steige wieder hinab und quere den Schnee, gehe dabei auf Nummer sicher und stoße die Spitze meines Stiefels dreimal in den Sulz hinein, bevor ich das Gewicht verlagere. Die Profis würden mich belächeln, aber auslachen würde mich nur ein Narr.

Die Bergfee ist bereits entschwunden, ein Mann kommt mir entgegen, als er mich passiert, warte ich, bis er das Schneefeld erreicht hat, denn ich möchte ihm auf diesem steilen Stück kein Geröll hinterherschicken. Dann keuche ich weiter, sehe die Frau auf dem Endspurt zum Gipfel, quere ein drittes Schneefeld, flacher zwar und trotzdem das aufregendste, denn es ist das höchste, hier zu stürzen, hätte den längsten Weg zur Folge. Dann bin ich oben.

Der Ausblick ist phänomenal und trotzdem beunruhigt mich die Tiefe, die sich überall auftut. Der Wanderer, der mich am Älpele überholt hatte, fotografiert mit viel Geduld: die Aussicht, das Gipfelkreuz, die Bergblumen, die Insekten. Die Bergfee entschuldigt sich bei mir auf Tirolerisch, dass sie mich ihrer Kopfhörer wegen nicht gleich verstanden hatte, und ich bin doch nur froh, dass sie gerade da des Weges gekommen war, als ich jemanden brauchte. Wasser, ein paar Bissen, Fotos und nochmals Wasser und ich mache mich wieder auf, auf der Suche nach festem Grund unter den Füßen.

Ich stehe vor dem Weg, den ich für den Abstieg vorgesehen hatte, und lese „Absturzgefahr! Trittsicherheit erforderlich“ gleich dreimal untereinander. Das ist nicht ganz das, was ich wollte. Trittsicherheit, sage ich mir erneut, das geht doch. Und ich kann jederzeit umkehren, einen anderen Weg nehmen, ein Umweg von ein oder zwei Stunden zwar, aber machbar. Mehr oder weniger über einen Grat führt der ausgesetzte Weg. Ja, abstürzen wäre fatal, aber es sind keine tiefen Abgründe, die sich links und rechts auftun. Behutsam setze ich einen Fuß vor den anderen, greife mit der Hand gerne an den Fels und am Ende war es nur die Sorge vor dem, was kommen könnte, was mich beunruhigt hatte, nicht der Weg, den ich tatsächlich gegangen bin.

Dann ist es nicht mehr weit. In den Kessel hinab, die Sonne brennt, Vögel schlagen zwischen den paar Büschen Alarm, dann das Älpele, die Wirtin spricht Hochdeutsch, wie merkwürdig, und ich fülle meinen Wasserhaushalt wieder auf.

Die Abfahrt dann natürlich ein Heidenspaß.

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Weg gehen

„Eine andere, treffende Wendung für ‚Ich bin gegangen‘ oder ‚Ich bin gefahren‘: ‚Ich bin‘: Ich bin nach Gois. Ich bin in den Karst.“

(Peter Handke, Am Felsfenster morgens)

„Was bringt dich auf den Weg?“

„Die Flucht.“

*

Auch ich bin in den Karst, hier und dann wieder dort: Höhenzüge überwuchert von dunklem Wald, manchmal bricht jäh Fels hervor und schichtet mit seinen grauen, ausgewaschenen Wänden das Land in Stufen. Durchfährt man die Landschaft auf einer Autobahn, wehrt sie ab – verschlossen, unübersichtlich, wenig lieblich. Als Fußgänger aber habe ich den Karst liebgewonnen. Der farblose, südliche, dichte Wald löst sich auf in einer Vielzahl unterschiedlicher Baumarten, in einen Reichtum an Bäumen, oft licht genug für Unterholz und grünes Gras unter den Kronen, ein hübscher Kontrast zu den Heideflächen und der Kargheit der Feldmauern aus hellgrauem Gestein.

Manchmal senkt sich das Land zu Dolinen, eingekreist von Feldsteinmauern wie ein umzirkelter verhexter Flecken, und manchmal sind diese Dolinen längst eingebrochen und formen Höhlen, Tunnel, Brücken, Tore in eine andere, tiefe Welt. Wo eben noch ein angenehmer Windhauch durch den Auenwald fuhr, tropft im Dunkel kühles Wasser. Den Menschen schauert. Tausend Stufen geht es hinter einer Tür hinab, ein Schild warnt, nur das starke Herz wage den Gang hinab.

Reizende Pfade, kieferzapfengeschmückt, ziehen sich durch den Wald, halb zugewucherten Mauern entlang. Ein Radfahrer kommt in der Mittagshitze entgegen, er grüßt buongiorno, Italien ist nahe, gleich dort hinter den trockenen Weiden der Lippizaner. Ein Friedhof vor dem Ort, in ein marmornes Buch slowenische Verse eingemeißelt von John Knittel, am Brunnen statt Gießkannen Waschmittelbehälter altbekannter Markennamen.

Schweißtreibender Aufstieg in die Höhe, an den Felsenfenstern des Teufels vorbei, oben dann die Überraschung: nicht Steppe, nicht korrodierte Steinwüste, sondern Bauernhöfe und Teerstraßen und bewaldete Gipfel. Gleitschirmflieger zirkeln im abendlichen Aufwind, die Sonne stumpf hinter strahlenförmigen Wolken, als drohe ein Unwetter. Hast, Hast, wieder einen Weg hinabzufinden und dann das nächste Wunder: ein grasbewachsener Weg zwischen niedrigen Bäumen hinab, ein selten schöner Pfad, wären im Gras nicht lose Steine verborgen, die vollste Konzentration verlangen, das Entzücken wandelt sich zu Flüchen. Viel später dann Freude über die Pizza, die großzügigen Knoblauchzehen nur grob gehackt, und ein Radler, das genauso heißt wie im Deutschen, aber anders schmeckt.

*

Ich stand unter der Dusche, da knarrte die Tür. Sie knarrte noch einmal und ich wusste, es war der Wind. Ganz allein war ich auf dem Zeltplatz und der Wind erhob sich nach einer stillen Nacht. Aus dem Osten kam er an diesem Morgen, stark, trocken, auszehrend. Ein Wind voller unterdrückter Gewalt und Ankündigung von Unglück. Unruhe überkam mich. Ich floh vor der Bora, nach Norden, höher hinauf in die Berge, in einen bleiernen Himmel hinein, der die Sonne verschluckte.

Stunden später, ich wusste nicht, wie, fand ich mich auf den Tauern wieder.

Für Frau Graugans und Herrn Graugans mit Dank und herzlichen Grüßen.

Heureiter

„Was ‚bei uns‘, in Österreich, meist in den Wiesentalgründen, die Scheunenhütten sind, verschlossen, blickundurchlässig, verbergend, kompakt – dachte ich nicht immer, darin versteckten sich flüchtige Verbrecher? –, das sind jenseits der Grenze, der Karawanken, in Slowenien, in Krain, die durchlässigen, offenen, kein Versteck bietenden, wie schwerelosen Holzgestelle, die treffend ‚Heuhar(p)fen‘ heißen.“

(Peter Handke, Am Felsfenster morgens)

Das Erste, was mir auffiel in dem neuen Land, als ich das Auto zurücklassen und ausschreiten durfte, waren die langen, überdachten Querbalken, über denen das Heu zum Trocknen hing (ganz anders als die Allgäuer „Hoinza“, einfachen Pfählen mit ein paar Querlatten), das zweite war die Schlange. An der sonnenbeschienenen Biege eines sehr steilen Waldweges flüchtete die grüne Natter hangabwärts, als ich noch zwei kurze Schritte von ihr entfernt war. Ich weiß nicht, ob sie erst dann meinen durch Waldboden und Langsamkeit gedämpften Tritt wahrgenommen hatte. Später, in höheren Waldlagen, flohen die Gämsen vor mir. Sie sind, anders als in den Allgäuer Alpen, an Menschen offenbar nicht so sehr gewöhnt.

Merkwürdigerweise erinnere ich mich noch aus dem Schulunterricht, dass Deutschland und Slowenien gleich viel, nämlich jeweils 7 % Anteil an den Alpen haben. Warum habe ich mir gerade diese Prozentzahl gemerkt? Das Gedächtnis ist eine merkwürdige Sache. Der Gipfel entzieht sich lange dem Blick, Wanderern begegne ich keinen, nur Radfahrern, die sich über eine Piste den Berg hochgekämpft haben. Kämpfen muss ich auch, besonders auf dem letzten, grasigen Stück zum Gipfel, die Beine müde vom Vortag. Auf dem Grat verläuft die Grenze zwischen Österreich und Slowenien, dahinter bricht der Berg jäh in schwindelerregende Tiefe ab, als stürze dort alles hinunter ins österreichische Kärnten.

Die Dämmerung ist hereingebrochen über das Tal, vor dem milchig-dunkelnden Himmel sind die Spitzen des Triglavs, Wappenberg Sloweniens, im Süden zu sehen. Eben noch lassen sich dort Fels und Schnee mit dem Auge voneinander unterscheiden, aber allein ein paar Zeilen zu schreiben ist genug, um den letzten Schimmer von lichtem Gelb aus dem westlichen Horizont zu nehmen, irgendwo über Friaul, dort also, wo die Julischen Alpen italienisch werden. Seit einer Viertelstunde leuchtet über der Mežakla hell ein Stern. Das Sonderbare ist, dass er alleine am Himmel prangt. Es wird wohl die Venus sein, aber es wollen und wollen keine anderen Gestirne erscheinen, sie hat das Firmament für sich allein. Grillen zirpen, ein Glühwürmchen lenkt den Blick hinab auf irdische Gefilde. Ja, auch Autos fahren da auf und ab durch die Idylle. Aber die Grillen zirpen, sie machen es mit Hingabe, und irgendwo läuten Kuhglocken und die Füße in den Flipflops frieren nicht, obwohl wir im Grünen zwischen den Bergen sind, und alles ist gut.

Alles ist gut, Euphorie ein paar Abende lang.

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Ein Küstenort, lange venezianisch

„‚Ich bin in Piran‘ ist für mich fast so etwas Helles wie jenes ‚Ich bin da‘, das ich dachte am 1. März 1980 auf dem Hügel von Hellbrunn.“ 

(Peter Handke, Am Felsfenster morgens)

Ich kam aus den Bergen ans Meer herabgestiegen, wie eines jener Völker aus Fernand Braudels histoire totale „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“. Vormittags noch war ich in einem Alpensee geschwommen, nachmittags dann in der Adria an jener schmalen Küste des Landes. Das Schwimmen im Berggewässer hatte mir besser gefallen, weil es, so folgerte ich, rein und lauter war. Das Meer hingegen ist das Ende einer Kette, es atmet bereits Fäulnis und Verwesung.

*

Blond und sonnengerötet steigt sie an der Promenade von ihrem pinken Roller. Sie ist, zeigt ihr Gesicht, nicht mehr so jung, wie Kleidung und Roller vermuten lassen. Sie ist aber deutlich zu jung für die Tonnen an Gold, die sie zu ihren türkisfarbenen Fingernägeln trägt. Sehr laut haut sie die beiden jungen Leute an, die sich auf einem Loungesofa vor dem Restaurant räkeln. „Ihr zwei seht aber sehr relaxed aus“, sagt sie in jenem gedehnten Wiener Tonfall, der es so leicht macht, Arroganz hineinzulegen, wenn man nur will. „Ihr braucht echt mehr Pfeffer im Arsch!“ Sie wiederholt alle Sätze, denn so hervorragend Deutsch können die beiden Slowenen dann doch nicht.

Der Mann verzieht sich in die Küche, die junge Frau tut auch kurz so, als würde sie arbeiten, dann legt sie sich wieder lustlos aufs Sofa und lässt sich Vorhaltungen von der Besucherin machen. „Was ist los? Dann tu doch was. Geh laufen, schwimmen. Geh zurück nach Maribor und suche dir eine vernünftige Arbeit. Ich habe heute auch seit halb sieben gearbeitet. Ich hänge nicht so rum. It‘s good, that it‘s not my business“, fällt sie kurz ins Englische. Dann reicht es auch der jungen Frau und sie verdrückt sich.

Die Besucherin zündet sich eine Zigarette an und schaut sich um. Über die Terrasse hinweg quatscht sie alle Slowenen an, mal auf Deutsch, mal auf Englisch, sie scheint sie alle zu kennen, mischt sich ein, bietet an, ein Kind auf ihrem Roller zu fahren, macht glucksend einem Mann gegenüber einen anzüglichen Witz.

Ihre Gesprächsangebote laufen alle ins Leere.

Sie trat auf wie eine Herrin, doch plötzlich glaube ich, sie ist einsam.

*

Der größte Vorteil des Abendlandes gegenüber der arabischen Welt ist die Plaza. Das denke ich mir, als ich in einem der Cafés an der Piazza Tartini sitze, morgens, wenn die Schwalben das Blau um den Kirchturm im Stile der venezianischen Renaissance durchschneiden, wie in der tintenfarbenen Nacht, in der sich das Gelächter von Kindern mit den Stimmen der Erwachsenen mischt. Nirgendwo sitzt es sich im öffentlichen Raum schöner als an solch einem Platz. Er ist ganz eine große Bühne und Loge zugleich für ein Stück, das sich Tag für Tag wieder entfaltet, gleichermaßen gespielt wie bewundert von den Individuen einer Stadt, die sich hier zusammenfinden, um sich immer wieder als Gemeinschaft zu finden – es ist der Ort für die res publica, die öffentliche Sache, die Angelegenheit also, die uns alle betrifft. Diese Bedeutung sollten wir, die wir in einer Republik leben, nie vergessen.

In der arabisch-islamischen Welt sind solche Plätze vergleichsweise selten. Als die spanischen Christen der Reconquista in die andalusischen Maurenstädte einzogen, waren sie beunruhigt von der Abwesenheit der Plätze.

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