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Kreischen unterm Brunnenbogen

Die Wolkengebirge am schwäbischen Himmel wirken wie gemalt oder nein, vielleicht eher wie ein Scherenschnitt und rückseitig illuminiert, wo die untergehende Sonne ihre Kanten erstrahlen lässt. Der Abend ist zu genießen. Menschen bevölkern den Platz bei einem Weizenbier vor dem Rohrbecks. Springbrunnen plätschern, ein blonder Pferdeschwanz läuft barfuß über den augustwarmen Asphalt und die Welt könnte so schön sein.

Aber das hysterische Schreien einer Frau – vielleicht von ihrem Mann betrogen oder von ihrem Kleinkind bis zur völligen seelischen Erschütterung erschöpft – aus einem weit geöffneten Fenster zerstört die Illusion. Das Glühen der Wolkenränder erlischt, gegenüber an der Filiale der Drogeriekette rumpeln die Warenboxen des Lieferanten, ein provinzieller Sportwagen röhrt und das alkoholfreie Weizen ist doch nur ein Franziskaner.

Dann kreischt ein gelockter Knabe vor Entzücken unter dem Brunnenbogen auf und alles ist wieder gut für diesen Augenblick.

Wein vom bayerischen Bodensee …

Wein vom bayerischen Bodensee wird hier verkauft – ich wusste nicht einmal, dass es dort solche Reben gibt -, samstags und am Dienstagabend im ersten Stock. Das Haus daneben wird die Stadt ab Herbst mit Biokäse verwöhnen. Noch ist alles hinter den Schaufenstern Baustelle, unverhüllt und offen wie als erster Beweis der Transparenz und Authentizität, die Bio verspricht. Aber noch ist ja Sommer, irgendwie, an diesem 2. September. Die kurz abgeschnittene Hose freut sich in der Abendluft trotzdem schon auf dem Winterschrank.

Die Beine darunter aber, noch immer blass, auf den nächsten Sommer schon.

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Durch die Heidengasse

Durch die Heidengasse der schwäbischen Altstadt kommen mir zwei Araber entgegen. Ich schmunzele. Der Ungläubige, das bin hier wohl ich.

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Sanft legt sich der Abend über die Stadt und vor der evangelisch-lutherischen Kirche Unsere Frauen – ihre Wurzeln reichen bis in die Karolingerzeit zurück – sitzt ein Grüppchen von Frauen auf der Bank, den Hidschab auf dem Kopf, munter auf Arabisch schwatzend. Und dem Agnostiker stiehlt sich ein Lächeln ins Gesicht, als er das Brückchen über den Kanal betritt.

Die Stadt zeigt ein Herz für Nerds, scheint es …

Die Stadt zeigt ein Herz für Nerds, scheint es (40 000 Einwohner, keine klassische Hochschule). Die Altstadtstraße runter gibt es einen schmuddligen Tabletop-Laden – aus beruflichen Gründen nur freitags geöffnet, aber manchmal schieben abends nachdenkliche junge Männer Armeen über den Tisch.

Zwei Gassen weiter eine Flucht von Räumen voll mit gebrauchten Stereoanlagen und einem umfangreichen, hochpreisigen Schallplattensortiment. Kunden scheinen unerwünscht. Verirrt sich jemand in das Geschäft, wird er ignoriert und die zwei Männer im Hinterzimmer erzählen sich mit dieser leicht schleppenden, anstrengenden Stimme von Filmen, die sie gesehen haben. Weicht der Kunde und ruft noch freundlich einen Gruß nach hinten, kommt nur ein verzögertes „bitte“.

Hatte ich mich denn für irgendetwas bedankt?

Es ist doch merkwürdig, denke ich mir später …

Es ist doch merkwürdig, denke ich mir später, als ich aus dem Dachgeschossfenster hinunter auf die Stadtmauer schaue. Da fühle ich mich wie an einem ersten Urlaubstag und dabei beginnt morgen für mich eine neue Arbeit in einer neuen Branche. Aber vielleicht passt das in Wahrheit ganz gut zu einem ersten Urlaubstag: diese Erschöpfung von der Anreise, überreizt von den vielen Eindrücken, nervös vor dem, was da kommen wird. Und diese Wohnung, die ich eben betreten habe, ist mein Feriendomizil – sie wirkt tatsächlich so mit ihrem Holz und ihren Fliesen und ihren Terrakottafarben – und das da draußen ist eine mediterrane Illusion.

An den Busbahnsteigen sind Dörfer und Marktgemeinden des Allgäus und Mittelschwabens angeschrieben, aber der einzige Bus, der zu dieser abendlichen Stunde fährt, ist der Fernbus nach Berlin. Ob darin diese Schwaben sitzen, die in der fernen Hauptstadt ihr Glück zu machen versuchen, Prenzlauer Berg, Schwabenhass? („Es ist selten, dass einer aus Stuttgart nicht nach Berlin zieht“, hatte mein Vinylhändler zum Abschied gestaunt.) Ich erkenne die Gesichter hinter den Scheiben nicht, es ist bereits zu dunkel dafür.

Die Lichter über mir springen an. Ich sitze nach einigen furchtbar kalten Sommertagen auf einer Bank des Busbahnhofes und friere nicht, und ich zögere diesen Moment des Aufbruchs noch hinaus, wenn ich hinübergehen und den Schlüssel im Schloss drehen und die Wohnung betreten und die Taschen abstellen und mich umschauen und wissen werde, wenn ich mich in das fremde Bett lege und die Augen wieder aufschlage, wird eine neue Zeit angebrochen sein. Es schmeckt nach Spanien, nach Andalusien.

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