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Lichter Nebelung

Im Sommer vermisse ich die Glut, das ist wahr. Ein Trost sind die vielen Sonnenstunden in den kalten Monaten. Dann liegt der Nebel oft unter uns, im Flusstal, im Unterland gen Norden. Dieses Jahr zeigt sich der Nebelmonat ganz besonders licht. Ich weiß nicht, ob ich im Allgäu je zuvor einen solch sonnigen November erlebt habe. Dieses Geschenk nehme ich gern an.

Erst recht, wenn es sich mit einem zweiten verbinden lässt. Es ist keine Selbstverständlichkeit mehr, einen Nachmittag alleine draußen zu sein, frei schweifen zu können, um neue Wege zu gehen und sie in Beziehung zu setzen mit Orten, die ich bereits kenne. Heute habe ich eine solche Gelegenheit. Ich suche mir einen Punkt auf einer Linie, die ich bereits einmal gegangen bin, und schreite von diesem weiter aus. Jeder Schritt wird nun zu Entdeckung.

Schattseitig sind die Wiesen weiß, die Grashalme umfangen von Eiskristallen. Wo ein Sonnenstrahl den Boden erreichte, erscheint Farbe: Grün, mit einem Stich von Braun. Überall sind Höfe über die Hügel verstreut, vereinzelt oder in losen Grüppchen zu Weilern geformt. Laufenten watscheln an gefrorenen Teichrändern entlang, Kinderspielzeug steht im Hof. Meist sind es Zugmaschinen – Traktoren – mit Tretpedalen, auch dort, wo die Höfe längst nicht mehr bewirtschaftet sind. Auch unsere Tochter hat Freude an einem solchen Traktor. Sinkt die Popularität dieser Spielzeuge in den Städten?

Ich steige an einer Reihe von Buchen entlang einen Feldweg hinauf. Oben schließt sich ein Teersträßchen an. Ein Mann und drei Buben schlagen Markierungspfähle an den Straßenrand. Nächste Woche soll Schnee kommen. Der Horizont liegt in einem weiten Bogen unter Nebel, sehr dunkel im Norden, grau im Osten bis an die Alpen heran. Erst das Massiv der Zugspitze leuchtet wieder in der Sonne. Ich frage mich, nicht zum ersten Mal, wie viele Tage ich von zuhause aus wandern müsste bis an ihren Fuß.

Im Tal der Rohrach schlage ich einen Bogen zurück. Ein Landwirt hat hier eben noch Gülle ausgebracht auf den gefroreren Boden. Einsickern kann sie kaum. Ich wate hindurch an den nächsten Waldrand, tiefer in die Einsamkeit des Tales hinein, am Wüten von Bibern vorbei, die bereits den halben Baumbestand am Gewässerrand abgeholzt haben. Später an der Sägerei lasse ich den Bach links liegen und steige über einen Pfad auf den nächsten Hügel hinauf.

Gegen Sonnenuntergang bin ich zurück am Wagen. Es ist eiskalt. Ich bekomme die Tür nicht auf, probiere es immer wieder, fluche, spekuliere schon damit, dass mich jemand mit dem Zweitschlüssel abholen müsse. Dann entriegelt sich die Tür doch noch beim zehnten oder zwölften Versuch. Später höre ich, dass Autofahrer angehalten haben, um den prächtigen Sonnenuntergang zu bewundern. Ich bemerkte davon nichts im Schatten des Hügels, als ich endlich den Motor starte. Die Wand im Osten rückt dem schwindenden Lichte nach.

20 Minuten später liegt die ganze Welt unter Nebel. Dann Dunkelheit.

Drinnen im Schein der Kerze gurgelt Tee in die Tasse.

Ein paar Schritte nur

Ein Esel schreit, ein Schaf blökt, ein paar Grillen singen. Die Vögel aber schweigen in der Reife des Sommers. Strohgelbe Felder und goldenes Korn künden von Abschied. Daran ändern auch die Schweißbahnen am Körper nichts. Gluthauch hingegen ist nicht mehr. Das schafft der Sommer nicht mehr, nicht hier draußen außerhalb der Kesselstädte.

Für zwei Tage war ich hinaus, mit alten Freunden wandern, die Familie zuhause. Was ich nicht fand, war Glück, und das Ziehen von Linien mit den eigenen Füßen über die Welt bedeutet mir nichts mehr. Ich spürte es nicht zum ersten Mal, bei den letzten Wanderungen hatte die Freude am langen Gehen, am weiten Ausschreiten bereits zu versiegen begonnen. Anderes steht an.

Diese Entschleunigung aus der Entschleunigung wird noch weitergehen. Je besser die Tochter selbst geht und gehen wird, desto weniger lässt sie sich tragen. Und umso mehr will sie selbst einen Fuß vor den anderen setzen – noch an unserer Hand, aber in ihrem Tempo. In ihrer eigenen Welterkundung, jeder Schritt ein Geschenk aus Entdeckungen. Dann wird sie jeden einzelnen Stein umdrehen, wie das Kinder eben machen. Die Kunst für mich wird sein, die nächste Kurve als Horizont zu akzeptieren lernen. Das heißt dann auch: Die Beobachtung aufs Kleinste richten. Anderen ist das gelungen, selbst beim Abschreiten eines Zimmers nur. (Was sich bei Reisen dieser Art entdecken lässt, zeigte übrigens jüngst der Blog https://alltagseinsichten.com/.)

Ein Esel schreit, ein Schaf blökt, ein paar Grillen singen, das ist dann so etwas wie schwäbische Albidylle. Die beiden Freunde aus Studientagen – bald kennen wir uns länger, als dass wir uns nicht gekannt hatten – sind noch Autos rangieren, damit wir morgen am Ende der Wanderung wieder alle nach Hause kommen. Ich entzünde ein Lagerfeuer und staune wieder einmal, wie leicht das mit Anzündern geht. In meiner Erinnerung an die Kindheits- und Jugendtage, als wir das Haus mit Holz heizten und mit klammen Fingern gespaltenes Holz schichteten in den Öfen, gab es keine Anzünder, jedenfalls war mir das Feuermachen, anders als meinem Vater, verhasst.

Die letzten Sonnenstrahlen des Tages beleuchten den gegenüberliegenden Hang – trockenes Gras, Felsen, Wacholder, Kiefern –, davor schlängelt sich die Lauter. Diesem Bach werden wir am nächsten Tag folgen bis dorthin, wo er am Südrand der Schwäbischen Alb in die Donau mündet. Die Freunde werden anschließend wieder nach Norden fahren und ich in die entgegengesetzte Richtung. Ich freue mich jetzt schon, meine Tochter wiederzusehen und sie auf die Arme zu nehmen. Ich vermisse sie. Nicht durchgehend, aber doch zu der Zeit, in der ich sie vielleicht ins Bett gebracht hätte, wäre ich zuhause. Ich vermisse sie, obwohl ich sie doch erst am Morgen noch gesehen hatte. Das hätte ich früher nicht gedacht, dass ich so empfinden würde. Gestern, als sie unerwartet drei freie Schritte auf mich zugetan hatte, spürte ich vor Ergriffenheit eine Träne im Augenwinkel. Auch das hätte ich nicht erwartet von mir.

Neue Erfahrungen erlauben uns, uns immer wieder selbst zu überraschen. Das, begreife ich, ist ein Schatz, den wir in uns tragen.

Das Maß an Geschwindigkeit

Abends holte ich noch einen Freund am Autobahnkreuz ab. Die Tankstelle war überfüllt. Es waren nicht die Menschen, die hier üblicherweise ihre Mitfahrgelegenheit suchen oder verabschieden, sondern junge Leute, die mir austauschbar erschienen, in sauber geputzten, mir vage merkwürdigen Autos. Ein paar saßen in Klappstühlen oder umlagerten die parkenden Wagen, andere fuhren in ihren Fahrzeugen hin und her und hin und her. Da begriff ich erst, dass die Tankstelle nicht nur Feierort für junge Leute in Zeiten von Corona war, sondern mehr noch, Anlaufstelle für getunte Autos. Immer mehr Fahrzeuge mit Spoilern und Heckflossen fuhren ein, ließen ihre Motoren heulen, Auspuffe krachten, jeder Fahrer sah ähnlich gegelt und austauschbar aus und für gewöhnliche Tankstellenkunden schien gar kein Platz mehr in diesem Treiben.

Ich parkte neben der Ausfahrt eines Autohauses, kein Ort, an dem ich ein Auto abstellen würde, aber ich wollte es ja gar nicht verlassen, ich wartete nur auf das Fahrzeug aus Leipzig, das einen Freund ausspucken und sich dann wieder auf die Autobahn schwingen würde. Mein linker Arm hing aus dem Fenster hinaus, die rechte Hand tippte auf dem Handy herum, mein Blick ging immer wieder suchend umher, um jedes Mal wieder bei dem absurden, ja mir unfassbar erscheinenden Schauspiel vor mir zu landen. Schon drehten sich ein paar der jungen Leute zu mir um und ich ahnte die Frage, was will der alte Knacker da, vielleicht lachte sogar jemand höhnisch auf, der will doch nicht etwa ein Rennen fahren. Ich fühlte mich an einen todlangweiligen Film erinnert mit dem frühen Harrison Ford, der in den Sechzigerjahren spielt und in dem andauernd junge Leute in Autos hin und herfahren, als bestünde der Sinn ihres Lebens in nichts als dem Cruisen.

Ein Polizeiwagen bog herein und ich fragte mich, wie oft sie an Freitagabenden hier wohl patrouillierten, aber da sah ich N. im schwarzen T-Shirt und mit der Tasche in der Hand, schlank und etwas abgekämpft von der Fahrt und ich winkte ihm durch das offene Fenster zu.

Am nächsten Tag stiegen wir auf den Schönkahler. Eine Genusstour, wie man so sagt, kein großes Ding, nicht einmal 1700 Höhenmeter hat der Berg. Von Genuss erst einmal keine Rede, die meiste Zeit ging es auf Forstwegen hinauf und später wieder auf Forstwegen hinab, öder ist da nur noch Asphalt. Erst ab der Pfrontner Alpe, an der ein paar Hühner auf dem Misthaufen scharrten, dann Pfade über Bergwiesen und Glockengeläut von Vieh, malerisch ein einzelner Laubbaum über einem Felsenband und recht bald der Gipfel. Der Ausblick dort dann doch schön, tatsächlich in jede Richtung sehenswert und netterweise pausierte das Wolkentreiben gerade jetzt und ließ auch mal Sonne durch. Erst als wir wieder abstiegen, machte es wieder zu. Manche Wolken trieben so dunkel, als wollten sie gleich ihre Last abladen, aber nein, ihre sie trugen ihre stumme Drohung weiter, sollten doch noch ein paar weitere Menschen erschrecken.

Wunderbar dann auf dem Rückweg der schmale Pfad ins Himmelreich hinüber, zwischen den beiden Ächsele hindurch, kaum ein Mensch unterwegs, nur ein paar Bremsen, die uns die Waden blutig stachen, sonst Stille, Weg, Gehen.

Fährten

Im flachen Uferwasser tummeln sich die Kaulquappen, eine Handbreit tiefer dürfte der Moorsee noch unwirtlich kalt sein. Menschen schwimmen noch nicht darin. Nur auf der Wiese liegen ein paar: Radfahrer bei ihrer Rast, drüben FKKler, denn der Weiher ist eines der wenigen Gewässer in der Region, an dem Nacktbaden geduldet wird seit altersher und immer noch, denn unsere Gesellschaft wird ja prüder.

Ich ziehe meine Hand aus dem Wasser und richte mich auf. Das Kind zappelt vor Freude auf meinem Rücken, es brabbelt ein bisschen vor sich hin, versucht über meine Schulter zu schauen, hat die Augen überall. Es ist gerne draußen. Wenn wir morgens als Erstes an den Gartenrand treten, ist sein Blick vollste Aufmerksamkeit – ganz wach und offen gegenüber den Phänomenen der Welt, den Farben der Blumen, dem Gesang der Vögel, dem Wogen der Zweige. Das registriere ich aus müden, von Furchen umrahmten Augen.

Von hier oben, am Eschacher Weiher, liegt einem das halbe Allgäu zu Füßen, und der Blick reicht frei über die Voralpen hin zu den noch weiß geschmückten Gipfeln. Ein Wölkchen ist als Zier in das Blau über den Bergen gesetzt. Neben blühendem Weißdorn machen wir Rast, ein abgeschiedenes Tal unter uns, Grillen singen, ein frischer Ostwind wütet im Haar, ansonsten Licht.

Interessant wird es, wo wir in den Abgrund hineinblicken, an dem wir stehen, sagte die kluge Graugans zu meinem letzten Eintrag. Wenn wir den Fragen nachgehen, sie erwandern, während wir Fuß vor Fuß setzen, und uns nicht nach ein paar streunenden Stunden abwenden, zurück in den Kreis der Familie. Ich stimme ihr vollkommen zu. Und so ließe sich auch aus den wenigen Beschreibungen und Gedanken der vorausgegangenen Absätze – ich lese die Zeilen noch einmal – etwas erwandern. Spuren sind da. Ich müsste ihnen nur folgen, unbeirrt ihrer Fährte folgen und wohin käme ich dann: Da ist Altern. Da sind Angst, Unfreiheit, Einsamkeit. Welche Düfte!

Aber diese Wanderungen gehören hier nicht hin, sie suchen einen anderen Ort.

Als wir über einen Pfad blühende Wiesen queren, fährt die Hand der Tochter immer wieder über meinen Arm. Es ist, als würde sie mich zärtlich streicheln. Das ist eine Form des Glücks.

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Am Trauf – Eine Wanderung

Das Schönste ist der Gesang der Grillen. Ich liebe den Sommer und ich liebe ganz besonders dieses Zirpen der Insekten, diesen Sound des Sommers. Oben auf den grünen Hügeln des Allgäus höre ich sie nicht. Es mag zu kühl sein, viel mehr noch wird es der Mangel an Lebensraum sein, der sie schweigen lässt. Die industrialisierte Grünlandwirtschaft lässt ihnen wenig Spielraum.

Zwei Autostunden Anfahrt sind ein großer Einsatz für eine Tageswanderung. Der Weg auf die Schwäbische Alb lohnt sich erst dadurch, dass ich mich mit einem Freund aus alten Tagen verabredet habe. An einem Parkplatz, an dem ich einmal eine Etappe beendet hatte, treffen wir uns, und da macht auch der kühle Morgenhimmel endlich auf und lässt etwas Sonne durch. Unser Weg aus dem Städtchen gleich eher einer Flucht. Es ist der Drang des Wanderers, die Zivilisation mit ihrem Asphalt, ihrem Motorenrauschen zu entgehen. Es ist auch der Wunsch, die Coronamasken hinter uns zu lassen. Was noch treibt uns an, frage ich mich im Stillen. Die Frage wird mich in den nächsten Stunden begleiten. Denn etwas hat sich verändert, wird mir klar.

Der Nordrand der Schwäbischen Alb ist oft schroff. Steil fallen die bewaldeten Hänge ab, immer wieder durchbricht Kalkfelsen das Grün. Über Dutzende von Kilometern verlaufen Waldpfade direkt am Albtrauf: gen Norden hin der Absturz, nach Süden hin hinter Bäumen und Büschen eine Ahnung der Hochebene, von Feldern, Äckern, Dörfern, und unter den Füßen Erdreich, Steine, Wurzelwerk, weiches Buchenlaub vom Vorjahr. Man kann Stunden so gehen, ohne zu ermüden, ohne sich zu langweilen. Gehen als Meditation.

Hier oben zwischen Bad Urach und Schloss Lichtenstein reihen sich Güter aneinander. Stolze, alte Pferdehöfe, das lauschige Schafhaus auf der Eninger Weide, der Stahlecker Hof mit seinen urtümlichen, weiten, baumbestandenen Weiden, Yaks grasen hier zwischen dem Bruchholz, Ziegen steigen über Astwerk und Stämme, die nächste Wiese ein Blütenmeer. Man könnte Wurzeln schlagen hier und schauen und schauen, denn so schön sieht man Viehhaltung selten.

Das lässt das Staubecken mit seinen dunklen Ahnungen vergessen, das wir eine Stunde oder so zuvor passiert haben. Drahtgitter, ein gigantisches Rund aus Beton, Warnschilder, drunten dann undurchdringliches Wasser und ein Rumpeln. „Ich weiß, ich habe zu viel The Walking Dead gesehen“, meint mein Begleiter. „Dort wäre es ganz klar, was das Rumpeln ist: ein paar Hundert Zombies, die da irgendwann hineingeraten sind. Man möchte gleich schneller gehen und leise sein dabei.“ Es rumpelt wieder, als wir den nächsten Pfad in den Wald einschlagen, und eine Weile sehe ich Untote hinter dem Gebüsch, ist die Welt reduziert auf das, was man bei sich trägt auf ewiger Flucht.

Nachmittags beginnen die Schmerzen. Für uns ist es beide mehr oder weniger Saisonstart, und da sind 26 oder 28 Kilometer kein Pappenstiel. Eine Ferse schabt am Schuh, die Füße ermüden, die Leiste und die Hüften melden sich, dann auch das Knie. Das Knie, das ist schlecht. Das sollte nicht sein, alles andere ist erwartbar. Unser Gespräch ist schon lange erebbt, wir passieren auf unserem Traufpfad eine aussichtsreiche Felsnadel nach der anderen, fallen in ein Marschdelirium, in dem alles verschwimmt, abfällt.

Freiheit? Nein, eine Frage bleibt, Kilometer für Kilometer: Warum mache ich das hier? Was war früher meine Motivation dafür und warum ist sie schwächer geworden, denn sonst würde ich mir diese Frage nicht stellen? Die Vermessung der Welt durch den eigenen Fußgang hat an Wertigkeit verloren. Zuerst war es mir Flucht, dann Anreiz für eine besondere Form der Welterschließung, auch Weltverbindung. Jetzt zieht es mich zurück in einen engeren, viel engeren Kreis. Ja, der Radius verengt sich mit Familie. Das Ausschreiten, das Streunen, die Verlockung des Horizonts, sie gehören in eine andere Lebensphase.

Und doch war es gut, diesen Weg heute gegangen zu sein. Darüber sind wir uns einig und denken eine gemeinsame Vater-Kind-Wanderung an. Glücklich mache ich mich auf den Heimweg, lasse das warme Land mit seinen Grillen und Buchenwäldern und Schafsweiden und weichen Dialekt zurück, rolle nach Süden, Süden, Süden, jubel schließlich auf, als ich endlich die Alpen vor mir sehe, wie ich es immer ganz unwillkürlich tue, und kehre nach Hause zurück.

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Nachtwanderung

Trug ich sie in der Wohnung, weinte sie, legte ich sie ab, schrie sie. Also beschloss ich, mit ihr in den Abend hinauszuwandern. Noch ehe ich meine Schuhe anhatte, war sie bereits in der Bauchtrage eingeschlafen.

Über den Feldweg spazierte ich weiter den Hügel hinauf. Im Südwesten waren die Gipfel ein Scherenschnitt vor Orange, alles andere war schon Nacht unter Wolken, das Grün der Felder ausgewaschen zu tiefster Farblosigkeit, schwarz die Wälder. Schnee würde erst Stunden später fallen.

Als ich den nächsten Weiler erreichte, bellte der Hund nicht, wie er es tags immer machte. Wir begegneten uns wie Verschwörer in der Nacht, die sich im Moment des Erkennens zunicken und beide für sich wieder mit dem Dunkel verschmelzen. Über Asphalt schwenkte ich nach Süden. Die Umrisse der Berge waren nicht mehr zu erkennen. Ein paar Lichter brannten dort im Himmel, Flutlichter von Hütten oder Skipisten. Zwei leuchtende Kegel bewegten sich auf mich zu, ich wich auf den Seitenstreifen und schlug vor dem blendenden Licht des Autos die Augen nieder. Die Scheinwerfer zogen scharfe Grenzen in den Schotter des Banketts, rissen die Oberfläche aus ihrem Schlummer und schwärzten die Schatten, bereits die kleinste Vertiefung wurde Finsternis, dann war das Fahrzeug an mir vorbei und die Grenzen wurden wieder weicher.

Durch das Wäldchen waren es nur wenige Hundert Schritt. Alleine hätte sich etwas zwischen den Baumstämmen an mich herangeschlichen: eine Urangst, aus Jahrhunderttausenden in unseren Genen verankert. Doch ich trug ein kleines Menschenleben. Die Verantwortung ließ keinen Raum für Ängstlichkeit.

Als mich das Wäldchen entließ, schritt ich auf einen Horizont roter Lichter zu. Windräder schickten ihre Warnung hinaus in die Nacht. Ein einzelnes Windrad ist rätselhaft. Eine ganze Reihe wird zur Drohung. Haben diese roten Morsezeichen auch eine Wirkung auf die Tierwelt? Es ist ganz offensichtlich, dass die Lichtverschmutzung durch unsere illuminierten Ortschaften eine solche hat; so wie es offensichtlich ist, dass es Kraftfahrzeuge tun nicht nur mit ihrem Motorenlärm, sondern auch den schneidenden Scheinwerfern. Ich fragte mich, ob es Augentiere gibt, die, mir vergleichbar, den Blick heben am Waldesrand und hinüberschauen zu den mahnenden roten Lichtern, ihre Fantasie beflügelt.

Ich traf die Hauptstraße und fand über einen Radweg ins Dorf hinein und alles wurde anders. Fahrzeuge waren nicht länger singuläre Ereignisse in der Nacht, sondern ein auf und ab schwellendes, nie ganz versiegendes Geräusch. Wasser rauschte unter Kanaldeckeln. Fenster leuchteten, versprachen Heim oder auch Traurigkeit, wie diese verwaschenen Vorhänge, von einer gealterten Hand zur Seite geschoben und wieder fallen gelassen, warm dann wieder die Anmutung aus dem halb offenen Stall des letzten Bauernhofs im Ortskern, warm und beruhigend jetzt auch auch der wuchtige, aus hellem, hartem Gestein geschichtete Kirchturm, warm der immer noch mit Kerzen beleuchtete Weihnachtsbaum vor dem Gemeindehaus.

Am anderen Ende des Dorfes kam mir ein Mensch entgegen, sein Gesicht im Schatten. Ich würde diesen Menschen grüßen, auch wenn ich ihn vermutlich nicht kannte, denn ich kannte nur wenige im Dorf. Selbstverständlich würde ich grüßen, etwas anderes kam gar nicht infrage. Aber wie, fragte ich mich. „Grüß Gott“, antwortete ich mir, sollte es ein älterer Mensch sein. Der Gang verriet allerdings kein Alter und so entschloss ich mich doch zum Du und sagte, etwas verhalten, „Griaß di“, und im gleichen Augenblick sagte die Person, so unsicher wie ich, „Servus“ und wir waren schon aneinander vorbei, als wir uns doch noch erkannten. Es war die Nachbarin auf dem Weg zu einem Jahresessen im Dorf. Als sie sah, dass ich die Tochter trug, klang ihr Lachen noch heller. „Hosch a Liacht?“, bot sie mir eine Taschenlampe aus ihrer Jackentasche an. Ich lehnte ab, ich brauchte sie nicht, dankte für diese freundliche Geste aus Zeiten, als Nachbarschaft noch Schicksalsgemeinschaft bedeutet und man einander ausgeholfen hatte.

Draußen, gegenüber dem kleinsten aller Gewerbegebiete, schlug ich nicht das Sträßchen auf den Hügel ein, wobei, auch dieses Gewerbegebiet ist inzwischen gar nicht mehr so klein, auch es frisst sich weiter in die Felder hinein, wie in so vielen Gemeinden, wo gierig Wiese um Wiese verschlungen und der Götze Wachstum geopfert wird, und ich frage mich, wo sind eigentlich all die Menschen, die die Produkte dieses Wachstum benötigen.

Auch die zweite Straße hinauf ließ ich außer Acht, ich schlug die Gegenrichtung ein, spazierte, immer noch auf einem Radweg, an der Hauptstraße in den benachbarten Landkreis hinein. Die Senke zeigte sich als Windschneise, mich fröstelte. Bald suchte ich den Feldweg, der irgendwo rechts abzweigen musste, es war nicht leicht, ihn auszumachen. Scheinwerfer blendeten mich. Wenn sie passierten, suchten sich die Augen wieder an das Dunkel zu gewöhnen, doch da war schon das nächste Fahrzeug heran. Aber dann fand ich den Feldweg doch und kein Scheinwerfer erfasste mich und so tappte ich durch den niedrigen Graben hindurch und über die Straße hinüber und spürte Kieselsteine unter meinen Füßen und hinter meinem Rücken sauste das nächste Auto vorbei.

Nicht nahm ich den inzwischen halb zugewachsenen Weg ins Gehölz, über den wir als Kinder zur Großmutter gegangen waren, ohne Erwachsene zwischen den beiden Hügeln hin und zurückspazierten, erst an der Hauptstraße entlang, damals noch ohne Radweg, dann durch das Wäldchen hindurch und über Feldwege hinauf, niemand hatte sich dabei etwas gedacht, ich weiß nicht, ob das heutzutage anders wäre. Aber etwas hatte ich mir dann doch gedacht damals, denn ich erinnere mich, wie mich, den Ältesten, einmal die Verantwortung in die Träume hinein verfolgt hatte. Wir waren wieder einmal zu dritt unterwegs und da kam etwas abgrundtief Böses hinter uns her und wir mussten um unser Leben rennen und mir war klar, so erbarmungslos klar, dass ich nur die Kraft hatte, einen meiner Brüder aufzunehmen und, mit ihm auf meinem Rücken, loszuspurten – und den anderen sich selbst überlassen musste.

Ganz friedlich war der Weg nun, die Straßen weit genug hinter mir, der Waldrand schweigend, der Grund unter meinen Schuhen weich. Dann erreichte ich das Häuschen, an dem ich in all den Jahren nie vorbeigegangen war, weil es nie auf meinem Wege hatte liegen wollen, obwohl ich es doch täglich sah drunten im Tal, besonders nachts, wenn seine Fenster leuchteten in der weiten Dunkelheit. Keiner der Hunde, die ich vorhin noch hatte bellen hören, schlug auf mich an. Und dann war ich vorbei und hatte doch nichts gesehen von dem Haus, weil es ja dunkel war, und ich wusste, ich würde bald wieder einmal daran vorbeigehen müssen am hellichten Tage.

Ich schlug einen Bogen zurück, bog dieses Mal doch auf den Weg auf den Hügel ein, ging erst unter Birken, dann unter Eschen und schließlich unter der Scheunenauffahrt hindurch, wandte mich, bevor ich das Zuhause erreichte, wieder ab und schritt, wenn auch von zwei Stunden Gehen bereits ermüdet, an den Apfelbäumen entlang wieder hinab, erreichte am kleinen Gewerbegebiet die Hauptstraße, fand zum zweiten Mal ins Dorf hinein und nahm vor dem leuchtenden Baum einen neuen Weg.

Ein paar kalte Regentropfen trafen mich, dann hatte ich die Siedlung bereits wieder hinter mir, stieg an dem nun leeren Hühnergehege, an der nun leeren Schafweide vorbei auf die Höhe hinauf, durch den schneidenden Wind hindurch zu dem einzelnen Gehöft, wo hinter einem Fenster ein einsamer Mann an einem einsamen Tische saß, und kehrte, über ebenjenen Feldweg, auf dem ich vor fast drei Stunden aufgebrochen war, und zuletzt an der knarzenden, im Winterwind immer singenden Esche vorbei, nach Hause zurück. Das Kind schlief immer noch an meiner Brust.

Der Holderboschen

Räumliche Perspektiven und ihre andauernde Veränderung durch Ortswechsel sind immer wieder überraschend. An der Wasserreserve von Wildberg hatte ich vor ein paar Tagen zum ersten Mal die Pleisspitze bewusst wahrgenommen, und das nur, weil ich ihren Namen auf einer Hinweistafel gefunden hatte und das Auge danach die Erscheinung hinter diesem Namen am Horizont suchte.

Heute erkenne ich den Berg wieder, von unerwarteter Stelle aus. Wie kann es sein, dass ich hier, auf dem Probstrieder Hörnle, eine ganz ähnliche Perspektive einnehme wie ein paar Tage zuvor an einem ganz anderen Ort in einer gefühlt ganz anderen Region?

Erst am Abend begreife ich, was vom ersten Augenblick an irgendwo am Rande meines Bewusstseins war. Die Pleisspitze, das ist ja in Wahrheit nichts anderes als die Bleispitze im Lechtal, ein paar Autominuten vor dem Fernpass, auf der ich doch erst im Spätsommer mit einem Studienfreund war! Also kannte ich diesen Berg längst, stand schon einmal dort oben, was ich nun auf die Ferne zweimal neu entdeckt zu haben glaubte. Der Berg ist bis auf den Gipfel hinauf mit seinen gut 2200 m Höhe von Gras bewachsen. Die letzten Meter des Weges waren brusthoch überwuchert. Wie durch einen Dschungel bahnten wir uns unseren Weg zum Gipfelkreuz. Zwischen summenden Hummeln schlug ich am Kreuz mit seinem Strahlenkranz das Gipfelbuch auf und formulierte dafür um, was mir die jüngste Tochter meines Studienfreundes diktierte. Es war meine letzte Gipfelbesteigung vor der Geburt meiner eigenen Tochter eine Woche später.

Hier auf dem Hörnle, von dem aus wir die Pleisspitze also wiedersehen auf einem Spaziergang mit unserer Tochter, gibt es auch ein Gipfelbuch, obwohl das Hörnle gar kein Gipfel ist, sondern nur eine kleine Anhöhe, ein Buckel, wie man hier sagen würde, und trotzdem schreiben die Menschen – manche ironisch, andere vielleicht weniger – Sätze hinein wie „Berg erklommen“.

Heute zieht hier mal kein Wind durch, oft kann man hier gar nicht sitzen auf dem Bänkchen, weil’s zu schneidend ist. An diesem Januartag geht es aber und wir schauen hinab ins Illertal und die Hügelketten westlich davon und, wenn wir den Kopf drehen, in die Alpen hinein. Schön ist es hier und noch schöner wäre es ohne das Rauschen der Autobahn. Ein Rabe krächzt zwischen Fichten und nackten Eschen, ansonsten nur Autos, Autos, Autos, mal das Knattern eines Hubschraubers, dann das Zischen eines Heißluftballons. Und das Rauschen der Menschen.

Ein älteres Paar kommt herauf, der Mann tastet nach dem Gipfelbuch und trägt – halb in Rücksprache mit seiner Frau, halb in andauerndem Vorwurf in ihre Richtung – etwas ins Buch ein, lobt den Ausblick, das Wetter und all das, verpackt in einem Geschwätz aus Belanglosigkeiten, einem Plätschern von Nichtigkeiten, garniert mit ein paar unnötigen Spitzen und dem Grau von Jahrzehnten einer dumpfen Ehe.

Was bedeutet wohl Glück für diese beiden Menschen? Was treibt sie an, welche Fragen stellen sie sich, wo setzen sie sich ihren Horizont, worin finden sie Erfüllung?

Als sie weiterziehen, sprechen wir es ohne den Drang richten zu wollen, so hoffen wir, aus: Was verbindet uns eigentlich mit diesen Menschen? Mehr als ein paar biologische Funktionen und die gleiche Luft, die wir atmen?

Für den Holunderbusch hinter uns ist die Sache klar: Wir alle sind einfach nur Vertreter der Gattung Mensch. Das ist alles.

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Reich

Einer in Feuerwehruniform rennt die schmale Straße herab, er kommt zu spät von seinem Hof. Unten im Dorf sammeln sich bereits Trachten und Ehrenuniformen und Paradesäbel für die katholische Prozession. Später rollt der Donner der Fronleichnamsböller über den Bregenzer Wald. Da sind wir bereits 1000 Meter höher in einer anderen Welt.

Die Kühe tragen Hörner, das ist das Erste, was aufällt. Sie dürfen noch ihre in ihnen angelegte Form verkörpern. Wie verkrüppelt und unvollkommen eine enthornte Kuh aussieht, wird einem erst wieder bewusst, wenn man diese Tiere auf einer Alpe oder einem Demeter-Hof in ihrer eigentlichen Erscheinung sieht. Das Zweite ist die Zäunung. Nicht auf ein Feld gebannt hat der Bauer die Tiere, sondern seinen Weiler zum Mittelpunkt des Weidelandes gemacht. Zwischen den Höfen stehen, schlendern die Rinder, grast ein Kalb. Dieser Schönheit können auch die Kuhfladen vor der Haustüre nichts anhaben.

Schwül lastet die Luft an diesem letzten Maientag auf uns. Im Wald ist es noch kühl, der Steig rutschig, und trotzdem drückend feucht. Schweiß kostet jeder Höhenmeter. Als wir aus dem Wald treten, zwischen letzten Schneeresten, werden Luft, Auge, Herz leichter, lichter. Der Blick weitet sich in alle Richtungen: Bodensee, Alpenvorland, Allgäuer Alpen, Vorarlberg, Säntis. Tief in den Bergen nur Wolken, Fels und Schnee. Wir haben gut daran getan, uns am Rand zu halten. Über den Kamm ziehen wir in Schwüngen nach Westen, zur Rechten des Grates fallen die Höhen steil ab, nach Süden schwingt sich die grasbewachsene Flanke ins Tal. Die Wiesen ein Blütenmeer: Rote Lichtnelke und Bergbaldrian, blauer und gelber Enzian, Ehrenpreis in Blasslila und das Hellblau des Vergissmeinnicht, Weißer Hahnenfuß und gelbe Alpen-Kuhschelle. Wie entsetzlich trist die Wiesen zuhause, von vielfacher Mahd verödet – grüne Wüste.

Fast ist es Neid, was die Flasche Bio-Radler weckt, die einer aus dem Rucksack zieht. „Ich hatte mir auch überlegt, ein Bier mitzunehmen“, kommentiert unser Wahlschweizer. „Und du wolltest dich nicht outen?“ „Ich dachte, ich nehme lieber Gras mit.“

Besser als jedes Radler schmeckt unten auf der Alpe das Glas Rohmilch: urwüchsig, satt und fett. Das Risiko von Krankheitskeimen kümmert mich in diesem Augenblick nicht, denn so gut schmeckt Milch nirgends mehr. Arm, wer diesen Geschmack nicht kennt, sinne ich über dem leeren Glas. Und wie viele Jahre lang hatte ich als Kind, als Jugendlicher bei den Nachbarn die Milch geholt und die Kanne auf dem Heimweg bereits angesetzt und war nie krank geworden?

Über der Nagelfluhkette zwei Täler weiter Gewitterwolken und dann Blitz und Donner. „Mama, los! Mama, auf, es regnet!“, schreit ein nicht mehr kleiner Junge fast panisch vom Spielplatz her und wir können nicht anders als zu lachen. Das Gewitter ist weit und Regen ist wahrlich nicht das, was er zu fürchten hätte.

Später dann hinunter in die bewaldete Schlucht, über eine überdachte Balkenbrücke und an ihrer Flanke hinab an den Bergfluss. Ein Gumpen zwischen den rundgeschliffenen Steinen, er ist groß genug, dass wir alle zusammen ins Wasser steigen, sogar einige Züge schwimmen können. Das Wasser ist erstaunlich warm. Ein paar Tage zuvor tauchte ich in den Bergbach drüben an der Nagelfluhkette und zählte die Sekunden – eins, zwei, drei -, die ich die fürchterliche Kälte ertrug, bis ich mich wieder aus dem Bachbett erhob, brennend vor Kälte und mein Leib ein einziger Lebensschrei, so dicht, so echt, so wahrhaftig.

Bei jeder Bergwanderung in ein Gewässer zu steigen, das habe ich mir vorgenommen für dieses Jahr. Denn ich will reicher sein.

Winterstaude_Bregenzer Wald_Alpen_Wanderung_Berge

Der Semmelkrieg

„Eine Butterbreze, bitte“, bestellte ich kürzlich. Aber was als solche ausgeschrieben war, beinhaltete genau das nicht. Da war keine Butter drauf. Sondern ein Butterersatz, irgendeine fade Margarine.

Bis dahin hatte ich Butterbrezen für das letzte Refugium gehalten, wo eine Bäckerei noch Butter aufs Gebäck streicht. Belegte Semmeln gibt‘s ja meist nur noch mit einer Fertigremoulade, und zwar nicht nur in sogenannten Backshops und anderen Abfüllstationen. Sondern auch in Cafés, die damit werben, dass sie ihr Brot und ihre Kuchen noch selber machen. Kommt also statt der Butter eine Remouladenpampe drauf, die ich mir nie im Leben kaufen würde. Und das auch – ein Blick durchs Fenster genügt – in einer Region mit Grünlandwirtschaft, sprich Milchkühen.

Der Grund für die Remoulade kann nur ein ökonomischer sein (lässt sich leichter streichen, wird nicht so schnell ranzig) und kein gesundheitlicher (da möchte ich bittesehr erst einmal die Zutatenliste der Remoulade sehen) und auch kein kulinarischer (nein, wirklich nicht). Übrigens, mit vegan hat es auch nichts zu tun. (Was war da nochmals alles in der Zutatenliste?) Liegt ja auch noch eine Scheibe Käse drauf, und der ist natürlich auch vorgeschnitten aus dem Plastik geholt und nicht vom Bergkäse einer regionalen Käserei gehobelt. Und der Weizen? Ein hochgezüchtetes Produkt, das viel abwirft, aber nach nichts mehr schmeckt.

Bitte, ich möchte einen Semmel, der auch ohne irgendetwas drauf gut und unverwechselbar schmeckt (ja, das gibt es – ich erinnere mich an eine kleine Stuttgarter Bio-Bäckerei, in der die rund zehn Sorten von Weckle alle ihren jeweils ganz eigenen, unvergleichlichen und guten Geschmack hatten) und an gscheiten Käs und drunter echte Butter von Hörnerkühen. Teuer? Nein: Teuer finde ich, für Nahrungsmittel zu bezahlen, die keinen Geschmack mehr haben.

*

Über den Felsen gischtet das Wasser weiß auf. Unterhalb schimmert der Fluss in einem blassen Blaugrün, stromaufwärts aber in einem milchigen Grün, das an bestimmte Schieferarten erinnert. Im Schatten spannt sich noch Eis über die Pfützen, die Wange wärmt die Sonne schon. Am Wegesrand Standbilder von Johann Nepomuk, dem Schutzheiligen der Flößer. Die Suche nach Beistand war erklärlich: „ertrunken in den reißenden Wellen des Lechs“ war ein geläufiger Vermerk. Die letzten Flößer fuhren 1914, zwei Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, den Fluss hinab, Holz nach Augsburg zu bringen, manchmal noch weiter: Regensburg, Wien, Budapest. Heute ist der Fluss gebändigt. Der Marsch auf dem Lechdamm macht wenig Freude.

Zumindest ein wenig wilder darf sein Zufluss am Fuß der Berge sein. Kommt man über den wundersam warm wirkenden Buchberg herab, durch den Weiler mit dem an diesem Tage so passenden Namen Ostern hindurch und dann in einem Bogen erst in den Wald und dann zum Fluss hinunter, dann könnte man dort vermuten, das Gewässer sei ungezähmt dem Gebirge entsprungen. Hand und Seele tauchen in die Klarheit des rauschenden Wassers. Und es hätte nicht viel gefehlt, und die Füße wären ihnen gefolgt an diesem 2. April.

*

In Wirklichkeit geht es natürlich nicht um einen Krieg gegen die Brötchen. Sondern, viel umfassender, gegen unseren guten Geschmack.

Halblech_Fluss_Allgäu_Ostallgäu_Frühling

Ganz als wäre es Ostern

„… und zu wandern, weil er das als das Richtigste und seinem unzufriedenen, zweifelvollen, ja gequälten Zustande Angemessenste empfunden hatte.“ (Thomas Mann, Joseph und seine Brüder)

Unterhalb der Steilwand bricht der Fluss durch die Hügel, Gänse rufen aus der Tiefe, jenseits verstreut ein paar Höfe namens Sack, Loch und Graben. An ihnen waren gewiss auch die schwedischen Landsknechte vorübergezogen.

Die kleine Hand an meiner, Trompetenduette, morgens Warten auf das Licht. Schnee, Regen, ein Streifen Blau und schon wieder zerhaut es alles, ein Wetter, ganz als wäre es Ostern.

Ostern_Osterei_Naturfarben