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Winterfarben

Im Tal ist der Schnee schwer und nass, die Bäume sind schwer und nass, alles ist schwer und nass und kalt und unter Wolken begraben. Ich mag den Monat meiner Geburt nicht.

Über einen bewaldeten Kamm stapfen wir den Hang empor, immer wieder an starken Bäumen vorbei, die geknickt sind wie Streichhölzer von Männerhand, und wir reden über einen, der einen Achttausender ohne Sauerstoff in 16 Stunden bestiegen hat. Er ist so schnell hinauf und wieder herab, dass er sich wegen Höhenkrankheit keine Gedanken machen musste. Und wir keuchen bereits auf dieser Steigung im Wald.

An der Dolde einer Engelwurz haben sich Eiskristalle festgesetzt. Spuren von Has und Fuchs im Schnee, wir sind die ersten Stiefelträger seit Tagen. Oben am Rand der kleinen Hochebene strecken sich starke Tannen zwischen den Fichten, Misteln sammeln sich im Geäst, drüben die Silhouetten nackter Laubbäume vor dem Wolkenhimmel. Dort wird der Weiler Gerstland sein. „Wo die Laubbäume stehen, sind die Menschen nicht weit.“ Auf der weißen Wiese ist ein Haufen aufgestapelt für das Funkenfeuer am Abend. Eine Mopedspur im Schnee, immer wieder rechts davon ein Fußabdruck, wo der Fahrer seinen schlingernden Kurs abzusichern hatte.

Am ersten Hof ein Fuhrpark aus drei Fendt-Traktoren, in der Wiese vor dem Haus ist ein Schneepflug abgestellt mit vielen bunten Handabdrücken, der Hof eine Fassade aus Holzschindeln und Klinkerbau, man sieht an ihm schon das Westallgäu. Am nächsten Hof der Geruch von Funkenküchle – in Fett ausgebratenen Krapfen für den Abend. Die Frauen also sind fleißig, und die jungen Männer werden sich abends betrinken, und wo der Funken wetterbedingt abgesagt wird, betrinken sich die jungen Männer halt auch ohne das wintervertreibende Feuer aus alter Zeit.

Der Schritt ist schwer im Schnee, manchmal knackt Eis, da ist ein Mensch, ein Hund. Abgesetzt vom Tann wacht eine Tanne mit Zweigen so dicht, ein Mensch könnte sich darin verstecken und nicht gesehen werden. Unter den tiefen Ästen kein Schnee, der Baum ehrwürdiger Schirmherr über einen Flecken Wiese.

Ein Hohlweg, dann am Waldrand entlang, winterleere Hütten, die Fußspuren fallen ab, der Weg windet sich zwischen Holz und Hang dahin. Es ist ganz still und einsam. Dann zwischen mächtigen Nadelbäumen ein Pfad, zugeweht im schweigenden Wald, es ist ganz Winter, ganz Menschenferne, als läge er jenseits der Mauer, die Westeros durchtrennt. Jenseits eine halb verschneite Spur, ein schlankes Kreuz auf einer baumfreien Höhe, dann durch tiefen Schnee hinab. Er löst sich bei jedem Tritt und rollt in hastiger Flucht den Schritten voraus, kreuz und quer springen und hüpfen die Kügelchen vor uns her. So klein ist eine Lawine etwas Heiteres.

*

„Doa bin i numm gradelt, doa waret scheene Kiah dinn.“ In der Stube der Königsalpe tickt eine Uhr, ein Kachelofen wärmt, schwarzweiß blickt von der Wand der einstige Besitzer Bonaventura König herab, eine historische Karte klärt über die Zeiten auf, als das Land noch nicht zu Bayern gehörte. Nur an einem Tisch sitzen noch Leut‘, als wir eintreten. Es ist 16 Uhr, vielleicht sind wir die letzten Gäste auf Wochen hin, ab Ostern ist dann wieder sicher offen. Am Holztisch neben dem Ofen lassen wir uns nieder und es ist gar nicht zu vermeiden in solch einer Stube, dass man das Gespräch der anderen hört. Die Wirtin, der Wirt, ein Besucher, in der Färbung eines gelebten Dialekts geht es um die ewigen Themen des Bauernstandes: um die Rinder und das Bauen, Beziehungen und Suizid, Glück und Unglück. „Da willst du für 20 Kühe bauen und dann wird dir der Platz für 40 vorgeschrieben. Immer bauen und bauen, das kannst du doch auch nicht.“ „Sie ist bei ihm eingezogen, sie hat halt einen Unterschlupf gesucht. Aber das ist ja auch recht.“

Die Ohren glühen ganz warm. Ich ziehe den Wollpullover aus, über das Shirt darunter ziehen sich Salzstreifen. Den Rücken an die warmen Kacheln gelehnt, lausche ich, lausche den Worten am Nebentisch, ihrer Farbe, dem Tosen des Feuers im Ofeninnern, ein beruhigendes Geräusch, ein Klang der Kindheit.

*

Und auf dem Abstieg dann die Farben: unendlich viele Töne Grau, das dunkle Grün der Nadelbäume, ins Schwarz versinkend, das zu Blau wird, je ferner die Wälder stehen, das Weiß des Schnees und über allem ein metallischer Glanz. Was auf dem Aufstieg Eintönigkeit war, ist nun Reichtum. Und da liebe ich den Monat meiner Geburt.

Allgäu_Winter_Westallgäu_Königsalpe_Gschwend

Itinerar an der Jagst

Die historische Altstadt im Nirgendwo ist so schön und einsam, dass sie verdächtig wirkt, der Blick hinab in die Windungen des Flusstals so lauschig und traumumwoben, man möchte weglaufen. Es ist, als wäre man nach einem halben Leben in einem alten und ‚wahren‘ Deutschland der Märchen und romantischen Dichter angekommen. Die Schattenseite dieser Welt will ich nicht wissen. Ob die Dark Zone mit Totenkopf auch dazu gehört? Oder nur ein überlebenswichtiges Ventil in dieser Idylle ist?

Im hübschen Schlosscafé will ich zuerst nichts und bestelle dann doch einen Käseteller, während S. einen Kaffee trinkt. Eine Einkehr, bevor wir uns überhaupt auf den Weg gemacht haben. Als der Teller kommt – üppige Stücke aus der weithin bekannten Bio-Käserei in Geifertshofen und viel Drumherum – erschrecke ich. Wie soll ich das alles essen? Und dann noch wandern? Die Chefin, zuerst ein wenig grob zu ihrer Mitarbeiterin, dann entwaffnend ehrlich gegenüber ihren Gästen, steht in meiner Sichtlinie. Ich mustere sie: ihren starken Rücken, der ein gutes Stück älter ist als meiner, ihren Hintern, den Stand ihrer Beine und merke plötzlich, wie es mir kribbelig wird, während ich mit meinem Käseteller kämpfe.

Schöneck nach der ersten Steigung – ein müder Bärtiger rollt die Mülltonne an die Straße.

Ein letzter Blick auf die entrückte Altstadt aus dem hölzernen Aussichtspunkt heraus, dann geht es in Serpentinen hinab durch Auenmischwald. Immer wieder liegen Baumstämme quer. Manchmal umgehen wir sie auf rutschigen Böden, manchmal klettern wir über sie hinweg. Der Jahresausklang ist kalt und schneefrei. Kein Mensch auf den Wegen außer uns.

Ein weißer Reiher tief unter uns flieht davon. Schaden könnten wir ihm auf diese Entfernung nicht zufügen, womit auch immer. Außer vielleicht mit Zauberei, mag der Vogel denken, und erhebt sich ungelenk in die Lüfte.

Eine Parallele zum Fluss, dann eine Biegung hinweg: ein sehr kurzer Hohlweg, eine Schautafel des geologischen Aufbaus, Ruhm prähistorischer Fossilien. Die Schichtungen des Steins sind scharf in den Hang gezeichnet.

Bevor wir aufs offene Feld treten, schlage ich Wasser ab, aber dann führt uns der Weg doch nicht dort hinaus, wo ferne Menschen schlendern, sondern am Hang entlang auf Pfaden halb um das kleine Dorf herum. Es ist ein weiterer verwunschen-schöner Ort: Hammerhämmern, ein Kinderruf, Stille zwischen Höfen. Mir gefällt die Vorstellung, den Weg im Sommer zu gehen – verborgen im belaubten Wald und doch stets den Flecken im Blick zu haben, unsichtbarer Beobachter einer anderen Welt. Ein archaischer Blick, der von Indianern oder von Feen vielleicht.

Brückenorte. Immer wieder führen flache Brücken über den Fluss und ein paar Häuser werfen sich drumherum. Ein Bauer wirft den Unimog an und zieht seinen Holzschlepper an uns vorbei. Wir biegen ab, an den allgegenwärtigen Apfel- und Birnbäumen vorüber, krüppelig wie aus einer vergangenen Zeit und dabei so wunderschön. Wir schwenken am Waldrand nach links, statt gerade übers Feld zu ziehen, und kommen in eckigen Bahnen um ein Feld herum dann doch dorthin, wo wir geradeaus gelandet wären. Immer wieder macht der Weg an der Jagst Umwege, Schleifen, Bögen, auf und ab. Auf der Lichtung ist die nackte Erde gefroren.

Über kantiges Gestein sucht der Weg die Höhe, freigewaschen von aller Erde, nur schlüpfriges Laub schichtet sich darüber und dann geht es schon wieder hinaus aus dem Wald, auf die Hochebene. Der strenge Wind weht uns Schweinegeruch entgegen, eine Windung des Weges bringt uns in Sicherheit. Heroben sind die Wege schlammig, der Frost ist am Fluss geblieben.

Ein Bauer spielt mit seinem großen Hund, einem Kalb. Als das Tier uns sieht, springt es mächtig auf uns zu. Ich bleibe stehen, hinter mir höre ich ein „oh nein, das brauche ich nicht“, und ich, der so rasch zur Furcht bereit ist vor unbekannten Hunden, weiß augenblicklich, dass es an mir liegt, der Stärkere zu sein. Und so lasse meine Hände entspannt hängen und spreche einen freundlichen Satz zu dem Hund, und Angst spüre ich keine, denn ich habe die Aufgabe, sie nicht zu haben. Der Hund umrundet uns einmal, lässt dann von uns ab. Der Landwirt, der uns nicht grüßt, klatscht dem Tier unter Tadel auf die Flanken.

Wieder hinab zum Fluss. Wie herrlich müssen die Auen im Sommer sein, wenn sich Äste grün über das Wasser beugen. Moos leuchtet am Hang auf, leuchtet auf den Steinen selbst noch am trübsten Spätdezembertag. Bei Hochwasser sind diese Wege geflutet.

Von der einstigen Heinzenmühle steht nur noch das Grundgemäuer. Ein Grillplatz, dort ein überdachter Steg hinüber aufs andere Ufer, die Talwände drüben Schichtgestein. Bald Ruinen am Wegesrand, nur noch Mauerreste, im Fenster noch nutzlos ein rostiges Gitter.

Unter der Autobahn hindurch, oben klappert es, wann immer ein Fahrzeug über die Brücke fährt. Im Fluss Inseln, bekiest und baumbestanden, wandelbares Land, geologisches Amphib.

Ein Bachlauf zweigt ab zur Hammermühle, das schmale Tal lockt. Wir aber bleiben am Flussufer. Schönheit hier wie dort, falsch kann keine Entscheidung sein. Der Uferweg wird noch wilder, wir bücken uns unter Ästen, weichen Schlammpfützen aus, balancieren auf schmalen Grasstegen.Wie viele Menschen gehen diese Wege? Das Wasser neben uns dunkelgrün. Der Wunsch, in der lichten Jahreszeit im Kanu hinabzutreiben oder auch schwimmend.

Gegenüber einer Kiesgrube wieder empor. Ein Schild – „permanender Weg“, ein Schreibfehler oder ein Fachbegriff, den nicht einmal das Internet kennt? – erklärt uns, dass wir den Weg, den wir hinter uns haben, gefahrlos gehen können, an diesem Tage frei von Hochwasser.

Oben in der Wiese zwei Menschen und zwei Hunde. Ein Fragezeichen zittert, dann spannt sich eine Leine am Rottweiler, das Tier steht stille.

Zur Kernmühle hinab, „Privatweg“ und schon der nächste Brückenort, es geht seitlich ins Tal hinein in Märchenschlaf, noch ein schattiger Grund mehr auf dem Weg. „Eichendorff hätte sich hier wohlgefühlt“. „Er war wohl nur hier für seine Gedichte“, hoch zum Schloss.

Dann gebändigte Wege; ein, zwei alte Menschen, die uns entgegenkommen, Crailsheim zu sehen, westlich davon auf einer Höhe ein Turm, eine Kirche vielleicht, die ich auf der Karte nicht finde. Im Osten fällt ein langer, gerader Höhenzug ab, es mag der Hesselberg sein. Und da kommt bereits der nächste schlammige Feldweg, der nächste Waldweg hinab zum Fluss, die nächste weite Wegschleife am Fluss.

Am Wasser ein lauschiger Hof, die nächste Mühle, der Fluss fällt über eine Staustufe ab. Inselchen und Enten, drüben Ziegen, auf der Wiese ein kleiner schützender Kreis von Bäumen, er ist das Gegenteil eines Hexenrings, vollkommener Schutz, eine Verkörperung jeden Kindertraums. Nichts Böses, nichts Unverständliches kann hier im engen Kreis dieser Bäume widerfahren. Nieselregen setzt ein, ganz mild, er formt Kreise auf dem Wasser, die Tropfen vom Himmel stimmen mich heiter, alles ist ein großer Frieden.

Am Auhof steht ein Hänger auf dem Feldweg, ein älterer Bauer und ein nicht so alter laden lange Holzscheite auf den Wagen. Sie schauen uns an, von Weitem schon, Zögern in ihren Gesichtern. Wir grüßen und sind schon vorbei. Wundersame alte Bäume, eine Wasserreserve mit Blick auf die Stadt, ein großes Pferd.

Am Kieswerk noch einmal eine einstige Mühle, die Stadt ist schon sehr nahe. Ein Mann kehrt sehr gemächlich vom Fluss zu seinem Handkarren zurück, Werkzeug in den Händen. Er hatte Uferbäume beschnitten im Nieselregen.

Über Gleise hinweg, die Schienen lange Fluchten, so gerade wie nichts bisher auf diesem Wege, dann in eine uniforme, verwechselbare Siedlung hinein. Ein Geländewagen Hidalgo rebelliert mit seinen Länderplaketten und Safariklebern und einem Sticker „n‘Scheiß muss ich“. Der Traum der großen Freiheit im bürgerlichen Vorort.

Am Friedhof lassen wir die Wegweiser und queren hinüber ins Zentrum der Stadt, suchen den Treffpunkt, von dem S. eine Beschreibung erhalten hat, und finden ihn nicht. Wir irren hin und her und ich frage mich, wieso wir nicht einfach einen Menschen auf der Straße fragen, als wären wir in einem merkwürdigen Spiel, das vorschreibt, andere zu ignorieren. Und dann breche ich diese Regel und frage doch jemanden und gleich sind wir am Ziel.

Kambium am Heuchelberg

Wann immer möglich, versuche ich eine Reise mit einer Wanderung zu verbinden.

Vereinzelt Schauer, meldete der Wetterbericht. Als ich mich aus dem Haus schleiche, in dem ich übernachtet habe, fallen ein paar Schneeflocken. Ich hatte zwei Freunde für die Wanderung gewinnen können, und in der Morgenkälte eines Novembersonntags treffen wir uns in irgendeinem Vorort von Heilbronn. Menschen gibt es hier kaum, nur stille Häuser. Vom Ausschreiten erhoffen wir uns warme Glieder. Die Zunge hingegen wärmt sich von selbst beim Wiedersehen mit den Freunden aus meinen Stuttgarter Jahren, teure neue Freunde damals in einer Zeit, in der ich bei Null angefangen hatte in der Kesselstadt.

Die schnurgerade Teerstraße führt uns hinaus aus dem Ort und hinüber zum Heuchelberg, einem niedrigen Höhenzug, der feucht im Morgentrüben liegt, kaum Lockung in dieser Jahreszeit. Der Ackerboden links und rechts klumpt in schweren Brocken. Zuckerrüben türmen sich, derbe Früchte zwischen kalten Wasserlachen und umgepflügter Erde. Der Wind ist schneidend. Ich denke an einen anderen November zwischen den Gräben von Verdun.

Die Morgensonne bricht durch eine Wolkenlücke, ihr fremdes Licht legt sich schwer auf ein Feld mit einer Zwischenfrucht. Biographisch haben wir uns wechselseitig auf den neuesten Stand gebracht, wir wechseln zu Themen, zu denen wir alle gerne etwas beitragen: alternative Modelle in der Landwirtschaft, Nischen in der Rockmusik.

Nach den ersten Kilometern über Asphalt wechseln wir auf schlammige Wege. „Das erinnert mich an die Zeiten, als wir als Kinder bei solchem Wetter über die Äcker sind und der Matsch gefühlt kiloweise an den Schuhen kleben blieb. Das war geil. Und gab dann immer einen Anschiss von der Mutter. Verständlich.“ Der Chemiker lacht, Vater und Sohn zugleich, und der Gärtnermeister pflückt an einem Weiher ein paar Hagebutten und saugt ihr Mark. Wir blicken auf das trübe Wasser, Erinnerungen an Horrorfilme, die ich nie gesehen habe, wechseln hin und her.

Zwischen Weinbergen ersteigen wir den Heuchelberg und dann gleich den Wartturm an seiner Schulter. Im späten Mittelalter war der Turm als württembergischer Grenzposten errichtet worden, nur ein paar Jahre, ehe die Grafschaft den Aufstieg zum Herzogtum vollzog. Ein paar Jahrhunderte lang überschaute der Turm die Nordgrenze Württembergs, bis diese in einer deutschen Flurbereinigung von Napoleons Gnaden noch ein bisschen weiter nach Norden geschoben wurde.

Und das dort im Süden, ist das der Stromberg, über den ich einmal an einem anderen Spätherbst gewandert bin? Keiner weiß es, gewiss ist uns nur der Dampf über Neckarwestheim. AKW statt Höhenzüge als Landschaftsmerkmale des modernen Menschen.

Und dann endlich hinein in den Wald. Blätter und Nadeln in den Farben des sterbenden Herbstes – leuchtendes Rotbraun der Buchen, mattes Braun der Eichen, Gelb von Ahorn und Lärche, an den Bäumen das dunkle Grün von Fichte und Kiefer. Tiere sehen und hören wir nicht, nur Menschen: Spaziergänger, Jogger, Mountainbiker.

„Wisst ihr, dass das Kambium der Bäume essbar ist?“, fragt der Gärtner. Er zieht sein Taschenmesser aus der Tasche und schneidet an dem kürzlich gefällten Baum die Rinde ab, dann ein paar Späne der darunter liegenden Schicht. Wir kosten, was wir bis dahin nicht kannten. Es erinnert vage an ungesüßten Kaugummi – herb und zäh und ein bisschen frisch. Wir hoffen, uns nie einen Winter lang davon ernähren zu müssen.

Am Saum einer Wiese zehrt der Wind an uns. Immerhin bleiben die Niederschläge aus. An den Drei Eichen ein Zögern, Wege in alle nur denkbaren Richtungen. „Im Dschungel ist das Problem, einen Weg zu finden. In diesem Wald hier haben wir genau das gegenteilige Problem.“

Einer bückt sich nach einem Eichenblatt. Eine Kugel in Grün und Rot klebt an ihr. Was ist das? Das Taschenmesser schneidet die Kugel entzwei, eine klebrige Substanz, eingebettet in ihr ein Wurm. Die nächste Kugel das gleiche Bild, der Pfad ist voll mit ihnen. „Galläpfel“, murmelt jemand. Ein Rest Zweifel aber bleibt und nährt augenblicklich die immer hungrige Fantasie. Witze über die Saat außerirdischer Lebensformen fallen. Was wir nicht kennen, ordnen wir sogleich einer Sphäre des Äußerstfernen, des Übernatürlichen zu. Wir Menschen sind doch angstbesetzte Wesen. Und ich male mir aus, während wir auf dem Waldweg durch lichtes Gehölz wandern, wie es wäre, käme nun ein Wesen, uns weit überlegen, und würde einen von uns ergreifen und knacken, das Innere betrachten, ihn wegwerfen, den nächsten nehmen und sinnend prüfen …

Zwischen zwei Waldeshöhen setzen wir uns zu einer Rast. „Ich stehe jeden Morgen gerne auf. Weil ich mich aufs Essen freue“, begeistert sich der Gärtner und packt Leckereien aus, öffnet eine Dose Hummus. – „Ich hatte Kichererbsen übrig.“ „Das ist mir noch nie passiert“, entgegnet der Chemiker trocken. – Verteilt dann selbstgebackene Schnecken. Ich verbrenne mich am heißen Tee, gleich darauf ergeht es meinem Gegenüber ebenso. „Die evolutionäre Entwicklung hat es noch nicht über den Tisch hinweg geschafft“, kommentiert der Dritte.

Eine Stunde später geht es über Schichten von Laub auf schmierigem Untergrund nach Eppingen hinab, eine lange Rutschpartie kurz vor unserem Ziel. Jenseits des Waldes dann die Anonymität von Neubausiedlungen, ein Friedhof, Industriehallen. Die Bahn fährt uns vor der Nase ab, jäh setzt der Regen ein, die Füße sind müde. Ein Rentnercafé, auf der entleerten Straße ein paar gegen die Kleinstadttristesse anlärmende Jugendliche. Selbst die hübschen Altstadtfassaden tragen Trauer. Wir sind, als wir uns später voneinander verabschieden, trotzdem glücklich.

Im Abenddunkel dann Schneefall, ein hypnotischer Wirbel im Licht der Scheinwerfer, während die Kurve der Autobahn nicht mehr zu enden scheint, der Abstand zu den Rücklichtern gleich bleibt, die Krümmung der Straße gleich bleibt, der Tanz der Flocken gleich bleibt, und alle Zeit, alle Bewegung aufgehoben wird.

*

Danke an D. und S. und alle anderen.

Ins Licht

Grau, alles grau, wahrscheinlich über Hunderte von Kilometer hinweg. Über den Alpen aber ein dünner, lichter Streifen, ein Hoffnungsschimmer. Die Richtung ergibt sich also von selbst. Licht lockt nicht nur die Motten, und so machen sich die einen in die Berge auf, um Ski zu fahren oder Schlitten und sich dabei den Knöchel zu brechen auf vereisten Hängen, andere, um ein Stück Blau zu ergattern, an einem Südhang der Voralpen zum Beispiel, der ausreichend schneefrei sein sollte für eine Wanderung, bevor – morgen, übermorgen – wieder Schnee fallen würde.

Einmal auf dem Wege bricht die Wolkendecke auf für einen Augenblick. Ein Strahlenfächer senkt sich vom gleißenden Himmel herab, als offenbarte sich ein Gott aus der Höhe. Später dann Jubel, als der Schleier ein zweites Mal reißt und alle Hoffnung bestätigt: dort oben die grasige Höhe, leuchtend in der Sonne. Als der Fußweg beginnt, ist alles längst wieder begraben. Raureif wuchert auf den Gräsern und Zweigen, streckt seine mineralischen Fühler aus, als würden die Kristalle hineinwachsen in diese Stille des Winters.

Winter_Jungholz_Voralpen

Dichter Schnee erst auf dem Waldweg. Die meisten gehen geradeaus, bleiben auf dem halbwegs freien Asphalt, wo sich gleich hinter der Kuppe eine Alpe zeigen würde. Der Waldweg hingegen macht einen weiten Bogen durch den Tann. Tief waren Wanderer im Schnee eingesunken vor Tagen, die Ränder der Löcher sind hart vereist. In der Zärte des Neuschnees darüber kaum Spuren, da ging nach dem Fall nur ein Mensch mit Hund, groß der Mensch, klein der Hund, Seite an Seite. Das Gehen wird anstrengender, der Harsch aber trägt die meiste Zeit. Ein Glücksgefühl jeder Schritt, der nicht versinkt, gehalten von einer nur halb begreiflichen Macht. Über Wasser gehen für Anfänger.

Fichten liegen dahingeschlachtet von den Winterstürmen, zersplitterte Stümpfe ragen aus dem Forstboden. Die schnell wachsenden Flachwurzler in Monokultur sind leichte Beute für Gefahren: Windwurf, Borkenkäfer, Luftverschmutzung. Mittelfristig – und wo Bäume im Spiel sind, bemisst sich „mittelfristig“ schnell in Jahrzehnten – werfen sie eine höhere Rendite ab. Langfristig würden der Bergwald und alle von ihm abgeleiteten Größen von einem gesunden Mischwald profitieren.

Eisblumen zerbrechen unter den Fingern, ich weiß nicht, ob sich im schmelzenden Eis noch die Essenz einer pflanzlichen Struktur verbirgt oder andere Kräfte die Winterkristalle so formten. Schneewehen, zu tragendem Harsch verbacken, Lichtstrahlen zwischen vermoosten Stämmen, Wipfel in Helligkeit getaucht, dann das Blau wieder verschleiert, verhangen, verschwunden. Auf der spurenreichen Schneepiste ist der Himmel dann vollends frei. Mützen wandern in Jackentaschen, eine Eisfläche noch, dann der Aufstieg zwischen dürrem Gras, der Pfad eine Schlammspur, rutschiger als aller Schnee.

Oben schließlich ganz Licht und Wind und Weite. Gleitschirmsegler stoßen sich ab von der Bindung an die Erdenkruste und schweben hinaus in diese Weite, leuchten auf und verschwinden schon wieder in den Schwaden aus Weiß und Grau, ein Blindflug in die Niederungen der Welt.

Der Abstieg dorthin droht uns allen. Erst aber heißt es sich niederlassen auf Büscheln von Gras zwischen ausgetrocknetem Dung und Kalkgestein. Die Tiefe, sie darf noch ein bisschen warten.

Winter_Reuterwanne_Grünten_Allgäu

Die Kurve

Eglofs war für mich immer eine scharfe Doppelkurve, die sich unter dem Auge eines Kirchturms hinabschwang ins Tal. Den Ort selbst hatte ich meines Wissens nie betreten, bis in meine Lebensmitte hinein blieb der Name nur diese Kurve, ein Bild aus Kindheits- und Jugendtagen, als man vor der Öffnung der A 96 noch diese Strecke nahm zum Bodensee oder vielleicht hinüber nach Dornbirn, wo wir eine Kindheitsfreundin meiner Mutter besuchten. Sie schätzte ich besonders, weil sie auf ihren Besuchen – damals noch von ihrem Studienort im Tirol aus – gern und bereitwillig mit uns Kindern spielte, ganz besonders das von mir geliebte Brettspiel mit den Figuren und den weißen Steinen, was meine Eltern selten taten, und auch, weil sie mit der Welt der Bücher in Verbindung stand, die mir Verheißung war und später lange Jahre ja auch eigener Broterwerb, und weiters deshalb, weil sie Geschichte studiert hatte, damals also in Innsbruck, welches ich lange Zeit ebensosehr und ausschließlich mit ihr verbunden hatte, bis einer meiner Onkel dann einige Jahre dort am Theater arbeitete, die Geschichtswissenschaft also, die ich später selbst studieren sollte. Das also war mir die Kurve von Eglofs.

Der Fußweg führte mich halb um die kleine Große Kreisstadt Wangen herum, zuerst zum Friedhof nach Süden, gut besucht an diesen Allerheiligen, an dem Menschen ihren Verstorbenen einen Besuch abstatteten, obwohl Allerseelen ja erst am nächsten Tag sein würde, aber der war eben kein freier Tag, weshalb Allerheiligen für den Friedhofsbesuch genutzt wurde. An den Eingängen schüttelten Männer in Uniform, hinter großen Brillen die Spendenbüchse. Man kannte sich, nur der Wanderer vor der Mauer war fremd.

Jenseits der Stadt, so dachte ich, würde ich innehalten und lauschen, sobald ich kein Motorengeräusch mehr hörte, aber immer blieb das Rauschen von der Bundesstraße wahrnehmbar, und wenn doch einmal nicht, inmitten eines Wäldchens vielleicht, dann zog ausnahmslos ein Linienflugzeug niedrig über den Himmel. Also ging ich eben, ging weiter, gehe weiter ohne innezuhalten, die Jochbeine glühen kalt, die Handschuhe vermisse ich nicht. Anders als die Straßen schweigen die Wälder, wenn nicht gerade eine Amsel Alarm schlägt. Wie eingefroren die Landschaft bereits, im Windstillen schwebt nicht einmal Laub herab. Greifvögel, Katzen beim Mausen, Jungvieh auf den Wiesen vor dem ersten Schnee, sonst kein Tier.

So quere ich also den Bach, der in seinem Namen den meinen mit sich trägt, passiere den ausgewiesenen Kräutergarten, der so stille ist wie die Wälder, komme den Himmelberg herunter und steige zum Schnaidthöfle wieder hoch und bin immerhin ein paar Mal überrascht, wenn ich Wirklichkeit und Karte wieder in Einklang bringen muss, das immerhin bietet der Weg, den ich sonst nicht innigst ans Herz legen würde. Passiere auf dem Kamm zuletzt den Hof, wo wir im Sommer auf der verwandtschaftlichen Radtour Halt gemacht haben, und bin dann, nach drei Stunden Wegs, in Eglofs.

Das Dorfcafé suche ich auf, um einen Studienfreund auf Besuch zu treffen. In der Uni-Mensa haben wir nicht selten zusammen geschwiegen, im Einvernehmen geschwiegen, und das muss man ja auch erst einmal können, gemeinsam im Guten zu schweigen. Später teilten wir in unserem Berufsleben noch einmal für ein paar Jahre eine andere Stadt, aber das letzte Wiedersehen lag auch bereits den zweiten Sommer zurück, ein herrlich strahlender, reifer Tag war es gewesen im Lautertal der Schwäbischen Alb, zwischen Blatt und Licht und der Herrlichkeit des Lauterwassers.

„Mein Kind“, spottet der Freund und deutet auf den Kinderstuhl neben sich, „mein Auto“, winkt er zum Fenster hinaus, „mein Baugrund“, zeigt er mir auf dem Smartphone eine eingeebnete Fläche. „Eine Fliegerbombe war zum Glück nicht drin“, atmet er auf.

„Vielleicht noch ein paar Alemannenknochen?“, ermuntere ich.

„Unwahrscheinlich. Wir sind auf Sandstein gestoßen. Das erhöht die Kosten zwar noch einmal, aber ein alter Alemanne dürfte sich da darunter jedenfalls nicht verstecken.“

Das Dorfcafé füllt sich. „Ausschließlich mit Butter gebacken“, wirbt das Café, vegan ist hier fehl am Platz bei den vielen selbstgebackenen Torten und Kuchen. „Wie zu Großmutters Zeiten“, da würde clean eating durchaus passen, gute Zutaten frisch verarbeitet, aber wer will sich hier schon ein solches Modelabel umbinden? Die Wirtin eine robuste, herzliche Frau, täglich frisch gebackenes Brot, kein Tisch in der Stube mehr frei, das Café läuft. Ein Schatz für ein solches Dorf, denn welches kann denn ein richtiges Café sein eigen nennen, und das noch mit so viel Leidenschaft, Herzblut und soliden Rezepten geführt?

Geschwiegen haben wir am Tische nicht. Für diesen Luxus sehen wir uns inzwischen dann doch zu selten. Ich stecke den Rest meiner Butterseele ein, klopfe dem Freund auf den Rücken und wende mich wieder gen Osten. Die Kurve bin ich nicht hinabgefahren.

Totenglocken

„Jetz isch as halt so, bloß andersch.“ Aufschrift in verblasster Fraktur an einem Westallgäuer Bauernhof. Hinter dem Haus geht es sofort hinab in den Bregenzer Wald, ins Vorarlberg.

*

Ich komme vom Berg herunter und aus dem Wald heraus und da lehnt ein Mann an einem Anhänger hinter seinem Haus und raucht und schaut mich an.

„Griaß di“, entscheide ich mich für die offensivste Möglichkeit.

„Servus“, antwortet er.

Als ich ihn bereits passiert habe, sagt er noch etwas. „Ich hätte da eine Bergtour.“

Ich drehe mich um und weiß nicht, was er meint. „Ja, da komme ich runter“, entgegne ich.

„Nein, nicht über den Weg. Sondern dort.“ Er deutet auf die Wiese, die sich steil hochzieht bis zum Wald.

„Ja, aber auf dem Weg war es auch ganz schön.“ Noch immer begreife ich nicht.

Nach einer kurzen Pause ergänzt der Mann: „Ich hätte auch eine Gabel dazu.“

„Ach so!“, lache ich über das Arbeitsangebot. „Das nächste Mal.“

*

Katzenmühle, steht da angeschrieben mit einer Speisekarte und dem Verweis auf eine Schmuggelstube. Der Weg führt hinab in Waldesdickicht entlang eines Bachlaufs, dahinter nur Wipfel und Berghang und mitten in diesem Nirgendwo eine unsichtbare Grenze. Dort will noch etwas anderes sein? Ich schlage den Weg ein.

„Selbstbedienung“ steht da angeschrieben auf einem Schild auf der Terrasse. Ich grüße die kleine Runde am Tisch und gehe hinein, eine Frau schneidet einer anderen die Haare, ich biege ab und unter einem niedrigen Türsturz hindurch. Da ist eine kleine Küche, ein Schauraum mit Kuchen, Kaffeemaschine und Delikatessen, dahinter eine Stube, viel Holz, keine Gäste hier drinnen. Dann stehe ich da und weiß nicht weiter und irgendwann kommt der Mann aus der kleinen Gruppe draußen herein. „Jetzt wollte ich doch mal schauen, ob du zurecht kommst.“

Selbstbedienung ist wirklich ganz wörtlich gemeint, lerne ich. „Schüchtern darf man bei uns nicht sein.“ Also hole ich eine Flasche aus dem Kühlschrank und ein Glas vom Regal, suche den Flaschenöffner und schließlich die Kasse. Die gibt kein Wechselgeld, denn sie ist ein Holzkästchen mit einem Schlitz für Geldeinwurf. Ich habe das Geld nicht passend, es wird mein teuerstes alkoholfreies Weizen, das ich je getrunken habe, aber es tut nicht so sehr weh, denn längst hat die Katzenmühle mein Herz erobert. Ich spaziere hinaus, bewundere das viele Holz, die Heiterkeit der Betreiber, die verwinkelte Galerie, sehe, dass die Katzenmühle auch an manchen Abenden geöffnet hat.

„Pfiat di“, ruft mir der Betreiber fröhlich hinterher, als ich weiterziehe. Ich werde wiederkommen eines Abends und dann, versteht sich, nicht allein.

*

Über einen Graspfad geht es den Hang hinab, dann schwenke ich scharf auf einen Feldweg. Er führt direkt auf ein Dorf zu, auf eine Kirche am Ortsrand, zwei Autos sind in der Wiese geparkt, gegenüber steht ein Bauernhof mit Holz und frischen Farben im Sonnenschein. Und dann läuten auch noch die Glocken.

Eine unerhörte Idylle rückt dem Wanderer näher. Hier ist Deutschland noch in Ordnung, ist da plötzlich in meinem Kopf, und dabei will ich damit weder eine Aussage treffen, dass Deutschland nicht mehr in Ordnung, noch dass es früher je in Ordnung gewesen sei. Es ist nur eine spontane Reaktion auf diese ungeschminkte Schönheit.

Warum aber läuten die Glocken an diesem Nachmittag? Schwarzgekleidete Gestalten auf dem Friedhof belegen meinen Verdacht. Dann, als ich die Kirche passiere und den Bauernhof und den Brunnen, füllen sich die Straßen mit immer mehr Menschen in Trauerfarben. Alle sind sie jung, beinahe alle sind sie elegant und selbstsicher und schön und schlank. Die Autokennzeichen sind aus der Fremde: Stuttgart, München, Starnberg, immer wieder wiederholen sich diese Kennzeichen, da ist kein einheimisches Kennzeichen darunter, so wenig wie ich ältere und alte Menschen sehe, und aus den Autos steigen immer noch mehr junge, elegante Frauen und junge, elegante Männer. Eine Frau lächelt mich an, einer anderen laufen Tränen übers Gesicht, das Gasthaus, in dem ich eine Einkehr erwogen hatte, ist einer geschlossenen Gesellschaft vorbehalten, der Wirt zieht mürrisch an einer Zigarette auf dem Treppenaufgang.

Benommen bewege ich mich gegen diesen schwarzen Strom. Benommen von dem Kontrast dieser ungeheuren Idylle und dem Tod eines offenbar noch jungen Menschen, den Dorfhäusern und all diesen eleganten, erfolgreichen Menschen aus einer anderen Welt. Stuttgart, München, Starnberg in diesem Tal ganz am Ende von Deutschland, und dann bin ich am anderen Ende des Dorfes, steige aus der Flut wieder ans Ufer einer einsamen Gemeinde und hätte so gerne gefragt und wage es doch nicht, hätte gerne gefragt nach dieser Geschichte, die ich da eben hinter mir gelassen habe und nur nach ihr hätte zu greifen brauchen.

Ich setze mich auf eine Bank, neben mir eine Scheune mit der Beschilderung „Reifenwechsel“ und einem Haindlingplakat und einem Plakat einer Vielhundertjahresfeier des Dorfes. Zwei Männer laden aus der Werkstatt Reifen in einen Lieferwagen, sie unterhalten sich angeregt, der eine ist hell und blond und der andere afrikanisch schwarz und ich weiß, dass ich es bereuen werde, nicht nach den Totenglocken gefragt zu haben, und wage es aus Scham doch nicht.

Vielleicht, sinne ich auf der Bank, war da einst ein sehr junger Mann, eine sehr junge Frau ausgezogen aus diesem 800-Seelen-Dorf am äußersten Rande Deutschlands, nur noch eine Siedlung liegt unterhalb im Tal vor der Grenze, das Tal ein Keil, ein Dreieck, dessen beide Schenkel österreichisch sind. Ist also von dort ausgezogen und hat Karriere gemacht in den Landeshauptstädten des Südens und nun als Toter zurückgekehrt in seine einstige Heimat. Ist zurückgekehrt in diese Idylle, die doch zugleich ein Kaff ist, ein Kaff sein muss, immer ein Kaff war und ein Kaff bleiben wird für die Jungen, vielleicht das allerschrecklichste Kaff sogar, einem Gefängnis gleich, und der junge Mensch also ging nach München und Stuttgart, ging in die Wirtschaft vielleicht, machte Karriere, eine Frau oder ein Mann mit Zukunft, lobten vielleicht die Älteren, halb stolz, halb missgünstig auf den Nachwuchs, und am Wochenende tanzten die Jungen und Erfolgreichen in München oder Stuttgart und feierten und die Zukunft ein ausgebreitetes Feld vor ihnen, eine Verheißung, die es zu erobern gilt, ein goldener Apfel am Baum.

Und jetzt liegt dieser Mensch tot da drinnen in dieser schönen Kirche zwischen all den schönen Menschen an diesem schönen Sonnentag und verwest.

Sinus

Den Tag über gehen, keine Straße, keine Siedlung, nur die eigenen Schritte. Gehen im Licht, auf Stein, über Wurzeln, die Aufmerksamkeit auf jeden Tritt gerichtet. Den Tag über gehen, bis die Muskeln schmerzen, und aus Quellbächen trinken, einfach den Durst löschen mit dem, was da aus dem Felsen fließt als ein Geschenk.

*

Ob Tanken bei Gewitter gefährlich ist, frage ich mich. Der Wind reißt an den kurzen Hemdsärmeln, ich finde keine Antwort. Spurensuche nach einem bestimmten musikalischen Genre aus einer gewissen Lebensphase. Im Subway hatte ich damals dazu getanzt und zuhause Radiosessions auf Kassette aufgenommen. Auf dem Videoportal höre ich mich durch R’n’B, R’n’B in allen möglichen Kombinationen, House, Deep House, lande irgendwie beim Trip Hop. Aber eine Antwort finde ich nicht. Der Tribut an die Herrin des Turms lässt die Hand sinken, irgendwann spüre ich die Folie eines Riegels zwischen den Fingern nicht mehr. Danke, den Weg ins Bett immerhin finde ich selbst. Am Horizont die rote Sichel des Mondes.

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In einem Zwischenreich, einem zeitbefreiten Irgendwo zwischen Sport und Arbeit, einen Kaffee neben mir. Möchte hier bleiben, aber irgendwann muss ich hier raus und dann schnellt die Zeit zurück und rächt sich für den billigen Traum eines Feenreiches an der Autobahn. Es ruft also: die nächste Tat.

Arabisch_Essen_Vorspeisen

Träume von der Tiefe

Es ist wohlfeil, einen oft genannten Aphorismus erneut zu zitieren. Trotzdem denke ich später, als ich die Gipfel längst hinter mir habe, an Friedrich Nietzsches Ausspruch. Die Höhe bietet genügend Fläche, vom Kreuz hierhin und dorthin trennen Schritte vom Sturz hinab. Ich bin wachsam, aber nicht unruhig. Die Angst kommt erst später, nachdem ich Minuten auf dem Gipfel sitze, stehe. Stille, ganz stille sammelt sich der Abgrund um mich an und öffnet etwas in mir. Dem Druck der Tiefe halte ich nicht stand. Fast barsch frage ich: „Gehen wir weiter?“ Den Abgrund trage ich mit mir.

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Da liegen die anderen also auf der Bergwiese und halten ein Nickerchen. Wir haben den Ponten hinter uns, diesen Berg mit seine ganz und gar unallgäuerisch anmutenden Namen. Pons, pontis spuckt die Erinnerung altes Schulwissen aus, aber warum sollte der Berg nach dem lateinischen Wort für „Brücke“ benannt sein? Später lese ich, dass eine Ableitung von „Bann“ als wahrscheinlich gilt, also ein „gebannter Berg oder Wald“, Holzschlag verwehrt. Vor dem Ponten haben wir den Bschießer überquert, und dessen Name passt ja umso besser ins Allgäu, treffender geht es kaum als ein gedehntes, um nicht zu sagen kuhmäuliges „Bschiaßa“. Die Österreicher übrigens – die Grenze nämlich verläuft über die Höhe – schreiben Bscheisser, was zugegebenermaßen auch nicht übel ist.

Da liegen die anderen also auf der Bergwiese und halten ein Nickerchen. W. auf der Seite, vermutlich schläft sie tatsächlich, ihre Beine jedenfalls zucken, M. auf dem Rücken, die Füße aufgestellt, die Kappe übers Gesicht gezogen, eher Ruhen als Schlafen. Einen kleinen Gipfel haben wir noch vor uns, dann geht es wieder hinab in die Welt des Alltags, und das wollen wir noch hinausschieben, wobei ich sagen muss, ich könnte doch jetzt gleich schon weitergehen, statt ins Büchlein zu schreiben, denn Schlummern, das ist nichts, dann wache ich in der Sonne noch völlig benommen auf, hirnweich und knieweich gleichermaßen.

Schwebfliegen und Schmetterlinge über blühenden Kräutern, ein Kreis von Latschenkiefern, Wind weht, weniger frisch als noch zur Mittagszeit, mild war es wirklich nicht. M. hat sich leise aufgerichtet, wir schauen uns an, überlegen, wer es zuerst ausspricht: Gehen wir weiter?

„Ich habe geträumt“, schreckt W. da auf.

Allgäuer Alpen

In der Nachbarschaft des Ponten

Nach Norden

Wo die Mittelstreifen verblassen und manchmal auch ein gelber Wegweiser, irgendwo auf den Ausläufern einer Endmoräne, da rollen die Reifen über rissigen Asphalt. Eine Südstaatenflagge weht neben einem Misthaufen. Es ist noch etwas in die Fahne eingezeichnet, etwas, was sie von der Flagge der amerikanischen Sezessionisten unterscheidet, aber ich kann nicht erkennen, was es ist. Ich könnte anhalten, denke ich, aber im Hof daneben arbeitet ein Bauer und Scham hält mich ab, meiner Neugier so offensichtlich nachzugehen.

Dann verliert sich das eiszeitliche Geröll in der Landschaft und wir sind endgültig im Maisland angekommen. Menschenhoch gewinnen die Stauden Überhand vor jauchegetränkten Feldern und die „Milch macht Bayern stark“-Schilder werden seltener. Der Horizont hier ist Mittelmaß, nicht zu fern und nicht zu nah, er tut nirgends weh und erhebt das Herz selten, nur ein bisschen Schwung in der Landschaft. Der Bergblick, mein Anker, wird einem fast nirgends mehr geschenkt, und der Fußweg über die flachen Bachtäler, eingeebnet einst von eiszeitlichen Flüssen, sind öde, es ist eine Pein, sie zu durchwandern, selbst wenn sie nur ein, zwei, drei Kilometer breit sind.

Die Kirchtürme tragen Farben, beinahe wecken sie das Misstrauen desjenigen, der die wehrturmartigen Kirchtürme aus dem Hügelland gewohnt ist. Und wenn du, dich bei deinem Gefühl ertappend, lachst, ist eigentlich schon alles gesagt. Denn das Misstrauen der Höhenbewohner kennen sie hier nicht. Wer hier wandert, wird von den Einheimischen immer wieder angesprochen, ein freundliches Woher und Wohin in einem hübschen Bayern-Schwäbisch, und sie erzählen dir ungefragt dies und jenes, eine Wegempfehlung, ein schiefer Kirchturm, eine Quelle mit geheiligtem Wasser und gute Wünsche für den weiteren Weg, als würden sie sich wirklich freuen, dass ein Fremder hier herumspaziert durchs Unterland.

Und lächelnd setzt du deinen Weg fort.

An der Mindel im Mai

Auftreten

„Das Gaishorn“, sagte mein Bruder, „kann man ja ein Stück weit auch mit dem Fahrrad hochfahren“. Im aufkommenden Nebel sei er dann aber auf dem Abstieg vom Gipfel auf einen anderen Weg geraten und musste anschließend eine ungeheure Strecke gehen, um wieder an sein Rad zu gelangen.

Schaut man von Norden auf die Kulisse der Allgäuer Alpen, fällt das Gaishorn als besonders wuchtig auf. Das relativiert sich ein bisschen von anderen Perspektiven aus, das hatte ich bereits erfahren, auf dem Berg selbst aber war ich noch nie. Also nehme ich mein Rad mit und fahre den Schotterweg zum Älpele hoch oder genauer gesagt, schiebe das größte Stück, denn es ist doch verflucht anstrengend. Zwei Bauern treiben Jungvieh durch den Wald zusammen, um es auf eine höhergelegene Weide zu bringen. An den Tieren vorbei schiebe ich sowieso und überhole sie, wuchte vorsichtshalber das Rad ein paar Schritt neben ihnen über den Zaun, vor dem sich das Vieh versammelt, und öffne dann erst für mich den Draht über dem Wirtschaftsweg. Ein dritter Bergbauer steuert rückwärts sein Auto den Berg herab und kurbelt die Scheibe herunter. „Servus“, sagt er. Wenn die Viecher kommen, solle ich halt auf die Seite treten und es vorbeilassen. Aber da war ich ja schon weit vorneweg.

Ein Berg wird immer dann reizvoll, wenn die Waldgrenze überschritten ist. Ein weiter Kessel tut sich auf. Ein paar niedrige Laubbäume sind über das Grün verstreut, in den Hängen wachsen Föhren, Geröll zieht sich in Bahnen die Wiesen hinab. Das Älpele am Rande des Kessels öffnet erst eine Stunde später, also muss ich mit den beiden Wasserflaschen im Rucksack auskommen. Ich binde das Rad an einem Zaun fest, ein Wanderer überholt mich, sonst ist es still. Ich schreite in den Kessel hinein, in diesen Frieden, der monatelang im Jahr von Schnee bedeckt ist. Das Flugzeug am Himmel natürlich nervt.

Erst dann sehe ich das Gaishorn: ein Felsmassiv über Schotterhängen, oben leuchtet das Gipfelkreuz im Sonnenlicht. Mein Weg macht einen Knick, der Grashang, auf den ich gegen die Sonne zuwandere, ist ein von schwarzen Schattenlinien durchzogenes Grün. Oben gehen zwei Menschen. Bald bin auch ich oben auf diesem Kesselrand, passiere den Weg, der vom Vilsalpsee heraufführt und habe das Massiv vor mir. „Trittsicherheit erforderlich“, warnt ein Schild. Das ist, sage ich mir, kein Problem. Das ist alles kein Problem, solange das Schild nichts von Schwindelfreiheit schreibt. Ich lasse das Grün zurück und betrete hartes Grau. Der Pfad quert zur Hälfe ein Schotterfeld, über das im Winter gerne Skitourengeher abfahren, dann geht es dort recht steil hinauf. Im Geröll achte ich auf jeden Schritt, wenn ich einmal nach oben blicke, sehe ich nur Fels aufgetürmt. Wo dort der Pfad hindurchführen wird, kann ich nicht erahnen, aber das ist ja ganz gewöhnlich so, wenn man von unten einen Berg hinaufschaut. Alles kein Problem.

Dann verliere ich die roten Wegmarkierungen. Das da, das sind doch Stiefelspuren? Also muss es dort entlanggehen, orientiere ich mich. Dann verliere ich auch diese Spuren und weiß nur, irgendwo dort hinauf muss es halt gehen. Mein Atem geht noch eine Spur schneller, als er angesichts der körperlichen Anstrengung müsste, und ich denke mir: Alles kein Problem. Noch kann dir nichts passieren.

Endlich entdecke ich wieder einen roten Farbtupfer und rufe ihm stumm mein Hurra zu. Ich erreiche ein Schneefeld, das sich in einer Rinne gehalten hat. Dort hinüber? Ja, eine undeutliche, bräunlich geränderte Linie zieht sich quer hindurch. Das müssen Fußspuren sein. Der Schnee ist weich und sulzig, darunter grobkörnig zäh. Ich trete die hangaufwärts liegenden Kanten meiner Stiefel kräftig in die Masse, um einen sicheren Stand zu haben. Ich steige weiter empor, keine Spur von den Menschen, die ich auf dem grünen Kamm noch vor mir hatte, nur ein ausgelassener Ruf eines Menschen auf einem Grat zur Rechten.

Vor einem zweiten Schneefeld verliere ich wieder die Wegmarkierung. Ich spähe hierhin und dorthin, nirgendwo ein aufgemalter roter Fleck oder Strich. Taste mich zwischen Felsen empor, hoffe auf ein Zeichen. Es kommt von unerwarteter Seite. Eine sportliche Frau überquert unter mir das Schneefeld. Also doch dort hinüber und den steiler gewordenen Hang hinauf? Ich rufe der Frau zu. Sie versteht mich zuerst nicht, antwortet dann auf meine Frage beinahe schnippisch: „Oder hast du einen besseren Weg?“. Ihre Sicherheit wird zur meinen, ich steige wieder hinab und quere den Schnee, gehe dabei auf Nummer sicher und stoße die Spitze meines Stiefels dreimal in den Sulz hinein, bevor ich das Gewicht verlagere. Die Profis würden mich belächeln, aber auslachen würde mich nur ein Narr.

Die Bergfee ist bereits entschwunden, ein Mann kommt mir entgegen, als er mich passiert, warte ich, bis er das Schneefeld erreicht hat, denn ich möchte ihm auf diesem steilen Stück kein Geröll hinterherschicken. Dann keuche ich weiter, sehe die Frau auf dem Endspurt zum Gipfel, quere ein drittes Schneefeld, flacher zwar und trotzdem das aufregendste, denn es ist das höchste, hier zu stürzen, hätte den längsten Weg zur Folge. Dann bin ich oben.

Der Ausblick ist phänomenal und trotzdem beunruhigt mich die Tiefe, die sich überall auftut. Der Wanderer, der mich am Älpele überholt hatte, fotografiert mit viel Geduld: die Aussicht, das Gipfelkreuz, die Bergblumen, die Insekten. Die Bergfee entschuldigt sich bei mir auf Tirolerisch, dass sie mich ihrer Kopfhörer wegen nicht gleich verstanden hatte, und ich bin doch nur froh, dass sie gerade da des Weges gekommen war, als ich jemanden brauchte. Wasser, ein paar Bissen, Fotos und nochmals Wasser und ich mache mich wieder auf, auf der Suche nach festem Grund unter den Füßen.

Ich stehe vor dem Weg, den ich für den Abstieg vorgesehen hatte, und lese „Absturzgefahr! Trittsicherheit erforderlich“ gleich dreimal untereinander. Das ist nicht ganz das, was ich wollte. Trittsicherheit, sage ich mir erneut, das geht doch. Und ich kann jederzeit umkehren, einen anderen Weg nehmen, ein Umweg von ein oder zwei Stunden zwar, aber machbar. Mehr oder weniger über einen Grat führt der ausgesetzte Weg. Ja, abstürzen wäre fatal, aber es sind keine tiefen Abgründe, die sich links und rechts auftun. Behutsam setze ich einen Fuß vor den anderen, greife mit der Hand gerne an den Fels und am Ende war es nur die Sorge vor dem, was kommen könnte, was mich beunruhigt hatte, nicht der Weg, den ich tatsächlich gegangen bin.

Dann ist es nicht mehr weit. In den Kessel hinab, die Sonne brennt, Vögel schlagen zwischen den paar Büschen Alarm, dann das Älpele, die Wirtin spricht Hochdeutsch, wie merkwürdig, und ich fülle meinen Wasserhaushalt wieder auf.

Die Abfahrt dann natürlich ein Heidenspaß.

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