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Weg gehen

„Eine andere, treffende Wendung für ‚Ich bin gegangen‘ oder ‚Ich bin gefahren‘: ‚Ich bin‘: Ich bin nach Gois. Ich bin in den Karst.“

(Peter Handke, Am Felsfenster morgens)

„Was bringt dich auf den Weg?“

„Die Flucht.“

*

Auch ich bin in den Karst, hier und dann wieder dort: Höhenzüge überwuchert von dunklem Wald, manchmal bricht jäh Fels hervor und schichtet mit seinen grauen, ausgewaschenen Wänden das Land in Stufen. Durchfährt man die Landschaft auf einer Autobahn, wehrt sie ab – verschlossen, unübersichtlich, wenig lieblich. Als Fußgänger aber habe ich den Karst liebgewonnen. Der farblose, südliche, dichte Wald löst sich auf in einer Vielzahl unterschiedlicher Baumarten, in einen Reichtum an Bäumen, oft licht genug für Unterholz und grünes Gras unter den Kronen, ein hübscher Kontrast zu den Heideflächen und der Kargheit der Feldmauern aus hellgrauem Gestein.

Manchmal senkt sich das Land zu Dolinen, eingekreist von Feldsteinmauern wie ein umzirkelter verhexter Flecken, und manchmal sind diese Dolinen längst eingebrochen und formen Höhlen, Tunnel, Brücken, Tore in eine andere, tiefe Welt. Wo eben noch ein angenehmer Windhauch durch den Auenwald fuhr, tropft im Dunkel kühles Wasser. Den Menschen schauert. Tausend Stufen geht es hinter einer Tür hinab, ein Schild warnt, nur das starke Herz wage den Gang hinab.

Reizende Pfade, kieferzapfengeschmückt, ziehen sich durch den Wald, halb zugewucherten Mauern entlang. Ein Radfahrer kommt in der Mittagshitze entgegen, er grüßt buongiorno, Italien ist nahe, gleich dort hinter den trockenen Weiden der Lippizaner. Ein Friedhof vor dem Ort, in ein marmornes Buch slowenische Verse eingemeißelt von John Knittel, am Brunnen statt Gießkannen Waschmittelbehälter altbekannter Markennamen.

Schweißtreibender Aufstieg in die Höhe, an den Felsenfenstern des Teufels vorbei, oben dann die Überraschung: nicht Steppe, nicht korrodierte Steinwüste, sondern Bauernhöfe und Teerstraßen und bewaldete Gipfel. Gleitschirmflieger zirkeln im abendlichen Aufwind, die Sonne stumpf hinter strahlenförmigen Wolken, als drohe ein Unwetter. Hast, Hast, wieder einen Weg hinabzufinden und dann das nächste Wunder: ein grasbewachsener Weg zwischen niedrigen Bäumen hinab, ein selten schöner Pfad, wären im Gras nicht lose Steine verborgen, die vollste Konzentration verlangen, das Entzücken wandelt sich zu Flüchen. Viel später dann Freude über die Pizza, die großzügigen Knoblauchzehen nur grob gehackt, und ein Radler, das genauso heißt wie im Deutschen, aber anders schmeckt.

*

Ich stand unter der Dusche, da knarrte die Tür. Sie knarrte noch einmal und ich wusste, es war der Wind. Ganz allein war ich auf dem Zeltplatz und der Wind erhob sich nach einer stillen Nacht. Aus dem Osten kam er an diesem Morgen, stark, trocken, auszehrend. Ein Wind voller unterdrückter Gewalt und Ankündigung von Unglück. Unruhe überkam mich. Ich floh vor der Bora, nach Norden, höher hinauf in die Berge, in einen bleiernen Himmel hinein, der die Sonne verschluckte.

Stunden später, ich wusste nicht, wie, fand ich mich auf den Tauern wieder.

Für Frau Graugans und Herrn Graugans mit Dank und herzlichen Grüßen.

Heureiter

„Was ‚bei uns‘, in Österreich, meist in den Wiesentalgründen, die Scheunenhütten sind, verschlossen, blickundurchlässig, verbergend, kompakt – dachte ich nicht immer, darin versteckten sich flüchtige Verbrecher? –, das sind jenseits der Grenze, der Karawanken, in Slowenien, in Krain, die durchlässigen, offenen, kein Versteck bietenden, wie schwerelosen Holzgestelle, die treffend ‚Heuhar(p)fen‘ heißen.“

(Peter Handke, Am Felsfenster morgens)

Das Erste, was mir auffiel in dem neuen Land, als ich das Auto zurücklassen und ausschreiten durfte, waren die langen, überdachten Querbalken, über denen das Heu zum Trocknen hing (ganz anders als die Allgäuer „Hoinza“, einfachen Pfählen mit ein paar Querlatten), das zweite war die Schlange. An der sonnenbeschienenen Biege eines sehr steilen Waldweges flüchtete die grüne Natter hangabwärts, als ich noch zwei kurze Schritte von ihr entfernt war. Ich weiß nicht, ob sie erst dann meinen durch Waldboden und Langsamkeit gedämpften Tritt wahrgenommen hatte. Später, in höheren Waldlagen, flohen die Gämsen vor mir. Sie sind, anders als in den Allgäuer Alpen, an Menschen offenbar nicht so sehr gewöhnt.

Merkwürdigerweise erinnere ich mich noch aus dem Schulunterricht, dass Deutschland und Slowenien gleich viel, nämlich jeweils 7 % Anteil an den Alpen haben. Warum habe ich mir gerade diese Prozentzahl gemerkt? Das Gedächtnis ist eine merkwürdige Sache. Der Gipfel entzieht sich lange dem Blick, Wanderern begegne ich keinen, nur Radfahrern, die sich über eine Piste den Berg hochgekämpft haben. Kämpfen muss ich auch, besonders auf dem letzten, grasigen Stück zum Gipfel, die Beine müde vom Vortag. Auf dem Grat verläuft die Grenze zwischen Österreich und Slowenien, dahinter bricht der Berg jäh in schwindelerregende Tiefe ab, als stürze dort alles hinunter ins österreichische Kärnten.

Die Dämmerung ist hereingebrochen über das Tal, vor dem milchig-dunkelnden Himmel sind die Spitzen des Triglavs, Wappenberg Sloweniens, im Süden zu sehen. Eben noch lassen sich dort Fels und Schnee mit dem Auge voneinander unterscheiden, aber allein ein paar Zeilen zu schreiben ist genug, um den letzten Schimmer von lichtem Gelb aus dem westlichen Horizont zu nehmen, irgendwo über Friaul, dort also, wo die Julischen Alpen italienisch werden. Seit einer Viertelstunde leuchtet über der Mežakla hell ein Stern. Das Sonderbare ist, dass er alleine am Himmel prangt. Es wird wohl die Venus sein, aber es wollen und wollen keine anderen Gestirne erscheinen, sie hat das Firmament für sich allein. Grillen zirpen, ein Glühwürmchen lenkt den Blick hinab auf irdische Gefilde. Ja, auch Autos fahren da auf und ab durch die Idylle. Aber die Grillen zirpen, sie machen es mit Hingabe, und irgendwo läuten Kuhglocken und die Füße in den Flipflops frieren nicht, obwohl wir im Grünen zwischen den Bergen sind, und alles ist gut.

Alles ist gut, Euphorie ein paar Abende lang.

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Vor dem Mittagessen drei Paar Schneeschuhe …

Vor dem Mittagessen drei Paar Schneeschuhe und vier Hundepfoten in unberührtem Weiß. Der vergrößerte Fuß sinkt in den weichen, tiefen Schnee und presst ihn zusammen, stößt dann auf den Harsch der vergangenen Woche, durchbricht ihn knackend, sinkt noch eine Winzigkeit tiefer und hebt sich dann wieder leicht und mühelos. Es ist fast, als könne man über Wasser schreiten.

Wir nehmen Wege, die keine Karte kennt, auch das Auge nicht, sondern einzig unser Entschluss, querfeldein, das Tal zwischen den stummen, dunklen Fichten hinunter, durch Holundergebüsch hindurch, einen Hang empor, eine Senke hinab, in der einst wohl die Schmelzwasser der Eiszeitgletscher zur Seite flossen, die Steigung wieder hinauf. Für einen Augenblick verschwindet alles Land hinter der Kuppe, der Hang scheint wie eine makellose Mauer aufzuragen in einen drohenden, schneebeladenen Himmel. Und nur eine einsame Anflugstange für die Greifvögel durchbricht diese Gewalt, einem Miniaturgalgen gleich in vollkommener Wintereinsamkeit.

Der Himmel zieht sich weiter zusammen. Der Hund drüben im Schnee ein tiefes, ganz und gar körperliches Schwarz, ansonsten nur zerfließende Schichten von Weiß und Grau, die Wälder jenseits der Felder auf blasse Schemen reduziert. Schneefall setzt ein, der Wind beißt in die Wange, alles wird zu einem Wirbel aus Flocken. Atem fließt, ein Kristall zerschmilzt an den Wimpern, Fuß für Fuß geht es tiefer in dieses lautlose Stürmen hinein. Ist irgendeine andere Gewalt derart stille? Nie erschien mir Winter schöner, das Leben richtiger. Wie froh ich bin, der Kesselstadt entkommen zu sein, als hätte ich Jahre ein Leben im Falschen geführt.

Später lodert im Westen eine andere Art von Weiß auf. Das Illertal ist in ganzer Breite zu überblicken, über den jenseitigen Höhen lässt die Sonne die dünne Wolkendecke erstrahlen. Eine Dorfglocke schlägt 12. Rauch aus einem Kamin.

Als wir die Schneeschuhe abschnallen, schiebt sich von Westen her bereits die nächste Wolkenfront heran. Wieder wird die Welt zu weißem Fallen.

Stille Höhen

Im Tal ist es kalt. Handschuhe wären nicht verkehrt, denke ich mir. Wir verpassen den Pfad in die Höhe, aber letztlich ist es egal, denn in eine Richtung müssen wir den Talweg so oder so nehmen. Eine Kuh auf einer Wiese gefällt uns, ein kräftiges, dunkles Rind mit markanten Linien, wir denken beide an ein Urrind. Dann schweigen wir wieder. Ich hänge düsteren Gedanken nach, nach einem Gespräch ist mir nicht.

Oben reden wir. Die Sonne löst die Zunge, lachend schieben wir die Ärmel zum Ellbogen zurück. Es ist warm auf Halbhöhenlage. Weite Hänge aus braunem Gras fallen unter einem blauen Himmel ab, Geröll strahlt im Licht. Unter uns rosten Buchen, die paar Bäume heroben – Bergahorn, Birke – sind bereits kahl, Sattgrün tragen einzig die Latschen. Oben dann weiß der Schnee im grauen Gestein.

Es ist still. Tief unten rauscht der Fluss, eine Dohle krächzt auf, ein Verkehrsflugzeug brummt, leider, aber ansonsten ist es still. Eine Durchgangsstraße kann den Erholungswert eines ganzen Bergtals zunichte machen. Das Stillachtal hin zu Deutschlands südlichstem Flecken aber ist eine Sackgasse. Die Stille ist ein Segen.

Dann ein sehr trockenes, hartes Klacken, gedämpft und doch mit einer Macht, die zum Schweigen verurteilt. Wir halten inne. Stein schlägt auf Stein, Fels fällt, fällt, fällt. Ein Steinschlag, drüben, jenseits des Tals, an den 2500ern. Ein Geräusch bar jeder Gnade. „Hoffentlich ist nichts passiert“, flüstert jemand.

Dann herrscht wieder Stille.

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Alberich und Wirsing

Man kann von der Schule halten, was man will, aber ihr weitläufiges Gartengrundstück ist wunderschön. Wege schwingen sich durch die Wiesen, ein Bachlauf mündet in einen Teich mit Birkensaum und Schwanenfamilie, hinter der Baumschule grasen Schafe, Steinsetzungen krönen die Kuppe des Hügels, ein Wagencafé steht da, verschiedene Werkstätten und Schulgebäude im anthroposophischen Baustil. Es sieht ein bisschen aus wie ein ästhetisch ambitioniertes Auenland. Ende des letzten Jahrhunderts war all das noch eine sumpfige Viehweide.

Die „Freie Schule Albris e. V. Einheitliche Volks- und Höhere Schule des Menschen in der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ feiert hier ihr Herbstfest. Früher hieß sie einmal Waldorfschule Kempten, aber wegen Rechtsstreitigkeiten mit dem Bund Freier Waldorfschulen musste sie ihren Namen ändern. Ich bin hier, um jemandem an einem Stand eine Schmerztablette vorbeizubringen, was doppelt komisch ist, weil diese Person solche üblicherweise rundum verweigert.

Dann fällt mir der Rottweiler ein.

Für einen halben Tag zeigt sich der späte Oktober sonnig und ich schreite aus. Ein Baumhaus steht am Hang unter rotem Laub. Ahorn und Birken sterben in Gelb. In den Wäldern droben rostrote Flecken, wo Laubbäume zwischen den Fichten stehen. Die Eschen tarnen sich in Grün: Sie, die doch am längsten nackt bleiben im Jahreslauf, zeigen noch keinen Herbst.

Ich passiere einen kleinen Friedhof, da liegen welche, die ich mal kannte, aber in dem Augenblick komme ich nicht auf die Idee, dort nach den Grabsteinen zu suchen. In jenem Ort mit dem merkwürdigen Namen, der mich immer an Gemüse denken lässt, wohnte einst entfernte Verwandtschaft, in einem Haus schon halb im Walde. Es waren sehr kleine, sehr kompakte Menschen, zumindest die ältere Generation von ihnen, und inzwischen lebt niemand mehr, den ich kennen würde. Ich erinnere mich an einen Besuch, ich saß steif auf einem Stuhl, ein Rottweiler fixierte mich und die Gastgeber sagten nur „Bewegt euch halt nicht schnell, dann passiert schon nichts“. Ich war froh, als wir wieder draußen waren, ohne dass mir der Hund an Hosenbein oder Kehle gegangen war.

Ziervieh scheint inzwischen beliebter als scharfe Hunde. Drollige kleine Ziegen mit gedrehten Hörnern teilen sich eine Wiese mit Mandarinenten. In Wahrheit sind die Ziegen  keine solchen, sondern vermutlich Kamerunschafe, aber das weiß ich in diesem Augenblick noch nicht. Vor dem nächsten Hof stehen kleine Esel mit durchhängendem Rücken und ein winziges Pony, das mit den Nüstern über den Rücken eines liegenden Esels fährt und mich durch den Vorhang aus hellen Haaren hindurch mustert.

Lange führt der Weg über asphaltierte Straßen, auch wenn er auf der Karte als Wanderweg ausgezeichnet ist: den Berg hinab bis an die Autobahn, diese ganz kurze Autobahn, die sich bald zwischen den Hügeln verlieren wird. Der Verkehr ist mäßig, trotzdem immer präsent. Über eine Brücke rollen die Fahrzeuge mit dunklem, hohlen Klang, als würden sie über Holzbohlen fahren. Zwischen Wiese, Birkenhain und gefällten Sträuchern knattert mir ein Zweitakter entgegen, ich nicke dem Bauern zu, ein älterer Herr auf Rollskiern kommt hinterher, ich nicke noch einmal.

Walkarts (noch ein Ort mit erstaunlichem Namen) ist eigentlich nur ein Weiler, trotzdem ragt dort ein Maibaum in die Höhe. Schilder verweisen auf eine Allerseelenausstellung in einem Blumenatelier. Es ist der Hof ganz am Ende des Landsträßchens. Ich zwänge mich an Autos in einem Hohlweg vorbei, brauche auf dem matschigen Weg empor endlich meine Wanderstiefel. Rehe kreuzen, Autos rauschen unten, der Schweiß läuft unter der einer Erkältung wegen festverschlossenen Jacke.

Gen Spießereck ist es endlich schön. Jungvieh auf einer Weide starrt herüber. Im Süden verliert sich das Illertal im Dunst der Voralpen. Die Gipfel sind weiß, auf 1500 Meter vielleicht hat es heruntergeschneit. Es geht in den Wald hinein, wider Erwarten ein Buchenwald, freundlich erstrahlt er im Sonnenlicht. Ein Pfad schlängelt sich am Hang entlang, ein Bach plätschert. Einer Holzbrücke fehlt die Hälfte der Trittbretter. Da unten beginnt der Rohrbachtobel, ein sehenswertes Naturschutzgebiet. Ich aber biege nach Norden ab, in einen bewirtschafteten Forst hinein, sofort wird das Terrain gewöhnlicher: breite Wege für die Fahrzeuge, uniformierter Wald, nur gelegentlich schlammige Pfade und dann ein felsiger Weg hinaus aus dem Wald.

An einem Weiler suche ich einen Feldweg, der auf meiner Karte eingezeichnet ist, ein Hofhund bellt, ich biege ab auf einen anderen Weg zwischen den Häusern hindurch, an einem Verbotsschild vorbei, wie ich es schon mehrmals auf dieser Strecke gesehen habe. Man liebt keine Fremden hier in den Sackgassenhöfen. Ein paar Kinder starren mich an, ich frage sie, ob es dort hinab geht nach Albris, sie bestätigen es und als ich im Plauderton einen weiteren Satz von mir gebe, weiß ich, das war schon zu viel der Worte. Stumm starren sie mich an. 200 Meter von der Hauptstraße entfernt, die ich eben überquert habe, und schon ist ein Fremder ein Fremder. Ich setze meinen Weg fort, an einem weiteren Verbotsschild vorbei, und glaube, die Schritte der Kinder hinter mir zu hören, als behielten sie den Fremden im Blick, dann bin ich auf dem Feld.

*

„I bin aber it Frau …, sondern d‘Rosl. Doa schwätzt sich‘s oifacher.“ Zuhause dann wieder eine Nachbarin getroffen.

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Ein stakender Reiher erhebt sich …

​Ein stakender Reiher erhebt sich, erst am anderen Ende des Sees wagt er einen entrüsteten Ruf und quert dort mehrmals über dem Wasser. Ein Sirren in den Schwarzerlen löst die Stille des Fichtenholzes ab. Es frischt auf. Lange bleibe ich an der kalten Asche eines Lagerfeuers nicht sitzen.

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Weit in den Osten des Landkreises bin ich gefahren, um meinen Pflichten nachzukommen. Die junge Frau im Landratsamt widerlegt mit ihrem Lächeln alle vermeintlichen Fährnisse von Amtsbesuchen, wie ich ja überhaupt seit Jahren auf Ämtern fast nur freundlichen Mitarbeitern begegnet bin. Die Schulungen scheinen Früchte zu tragen, das Wort Bürgerservice Inhalt zu gewinnen – zumindest solange man die Grenzen einer bürgerlichen Rolle nicht austesten muss oder will. Die junge Frau also lächelt und der Klang ihres Dialektes entzückt mich. Plötzlich erscheint sie mir schön.

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Ein Bauer sägt im Holz, ein anderer zieht einen Entwässerungsgraben ins Feld. An der Fassade eines Einsiedelhofes laufen grüne Streifen herab, als hätten die Fensterläden geweint. Der Hof sieht unbewohnt aus, aber das muss nicht unbedingt so sein. Manchmal gibt es sie ja immer noch, diese heruntergekommenen Gehöfte unter der Hand eines heruntergekommenen Eigenbrötlers, bis die Behörden kommen, weil der Bauer das Vieh schindet.

Der nächste Weiler hingegen zeigt sich ganz schmuck und aufgeräumt, die Häuser sind renoviert, eine Kapelle unterm Zwiebeldach strahlt. Hinterm Wald dann ein Alter im Unterhemd über der haarigen Brust, der im Trog den Melkeimer putzt. „Hallo, grüß Gott“, antwortet er. Sein „hallo“ hatte ich nicht erwartet.

Über einen halb zugewachsenen Feldweg, von Birken gesäumt, von rotem Laub aus dem Vorjahr bedeckt, geht es zur Fernverkehrsstraße zurück, ich quere nach einem Bus, der wohl aus dem Oberbayrischen herüberkommt. Der Lech ist nicht weit.

Von einem Weiler aus drei Häusern her verbellt mich ein Hund. Schon auf die Weite überschlägt sich seine Stimme, ohne dass er es wagen würde, einen Schritt näherzukommen. Die Ziegen auf der Weide lassen sich von dem Alarm anstecken, sie suchen Zuflucht auf ihrem Tränkewagen. Ich biege ab, an einem hübschen Hof vorüber, seine Rückseite aber ist eine Ruine. Die Tenne klafft weit auf, die Einfahrt ist zusammengebrochen, Gebälk herabgestürzt, nur noch die Hälfte steht, wie ein von Karies völlig zerfressenes Gebiss.

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Am Waldrand sitzt ein alter Landwirt, sein schwarzes Rad neben sich. Er sieht aus, als säße er zum Sinnieren auf dieser Bank, einem Rückzugsort also, an dem er über etwas nachdenken könne, was woanders keinen Raum findet. Hinter dem Wald färbt sich der Himmel dunkel.

Der Wind nimmt an Fahrt auf, als ich zwischen den Bäumen hervortrete, und ich weiß, gleich wird es so weit sein. In einer Kehre reißt es Staub vom Feldweg empor, ich stemme mich gegen den Wind. Hinter dem Hügel regnet es schon herab, dafür tauchen im Süden auf einmal die blassen Schemen von Bergen auf, die den ganzen Tag verborgen gewesen waren. Hundert Schritt vor dem Parkplatz klatscht der erste Tropfen auf meine Stirn. Das Wetter bricht los, als ich in das Auto steige, das ich – nach so vielen Jahren ohne PKW – vor ein paar Stunden erst angemeldet habe. Regen rauscht auf das Ostallgäu herab und ich starte den Motor.

Ein Märchen von Rapunzel, 2

Der Kutscher hatte mich zum Narren gehalten. Er war, das wurde mir klar, als ich schon viel zu lang halb den Weg hinab, halb auf die fernen Gipfel schaute, diese Strecke letzte Woche nur gefahren, um einen Zechkumpan im nächsten Dorf abzusetzen.

Also blieb mir nichts, als den Weg von Rapunzels Turm in die Stadt zu Fuß einzuschlagen. Ich schlich durch den Hof einer Wallfahrtskirche, hielt über der Schleife des Flusses inne und eilte einen buchenbestandenen Pfad entlang, über den die untergehende Sonne Hunderte flammender Speere warf. Als ich endlich durch das Stadttor trat, dunkelte der August.

Dieses Märchen ist beinahe wahr. Es ist nur der Kutscher durch einen Busfahrer zu ersetzen. Ein großes Dankeschön an die seltenen Menschen, die heute noch Anhalter mitnehmen! Sonst wäre es wirklich zäh geworden.

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