Archiv für den Monat Mai 2018

Drehrichtung

Die Füße fest, fest im Boden verankert. Das ist die Grundlage allen Tuns: kein Weichen, kein Kippen, kein Aufbegehren der Zehen. Ich spüre jeden Fluchtversuch im Knöchel, den ich am Ostermontag verletzt. Die Beine also parallel, die Füße verwurzelt, gehe ich, das kühle Gewicht auf den Schultern, langsam in die Beuge der Knie, verharre zwei Augenblicke und strecke mich in einer geraden Linie wieder nach oben. Bald rinnt mir der Schweiß die Schienbeine hinab, das Herz hämmert, Muskeln brennen. Mit der Langhantel wuchte ich mich aus der Latrine, in der ich mich morgens fand, einem kleinen neurologischen Ungleichgewicht vielleicht, das ich nun flute mit den süßen, heißen Stoffen aus meinen Zellen, Botenläufern des Glücks im eigenen Kreislauf.

Ich habe noch nie eine Herleitung begriffen, warum wir in der besten aller möglichen Welten lebten. Recht besehen aber haben wir es fantastisch. In der Mittagspause sitzen wir an einem Tisch im Garten, der Himmel über uns halb Sonnenschein, halb Haselzweige. Die Nachbarskatze kommt vorbei, in der gelben Suppe ein Geschmack von Ananas. Wir versuchen uns ein bisschen in Spanisch und lachen mehr, als dass wir lernen.

Es ist eine interessante Taktik: Die Verkäuferin geht vom Sie über zum Ihr (fast drehe ich mich um: Ist da noch jemand?) und wechselt schließlich zum Du. Mir kommt es einstudiert vor, aber ich mag mich täuschen. Besser kann ich mit dem schwäbischen Seniorchef, der mich auf dem Rad über die Teppichbahn schickt – „links herum, wenn Sie rechts herum fahren, kommt es auf Bayern 3“ – und dann, als ich es tatsächlich schaffe, entgegen seiner Anweisung in die falsche Richtung zu starten, sehr trocken meint: „Jetzt fährst du doch rechts herum.“ Und ich hatte mich für einen intelligenten Menschen gehalten.

Allgäu_Hochgrat_Voralpen_Frühling

Die Hohe Schulter

Oben auf der Kuppe steht, am Ende des Asphalts, ein Auto, die Scheiben halb heruntergelassen, Licht und Wind ausgesetzt. Der dicke Mann im Wagen mustert mich aus den Augenwinkeln, aber den Blick erwidert er nicht, also grüße ich nicht. Der dicke Mann schließt seine Augen und döst, in seinem Auto auf der Höhe, auf der Scheide zwischen dem östlichen und dem mittleren Allgäu.

Die Hohe Schulter ist eine markante Erhebung, markant deshalb, weil nicht von Fichten überzogen wie ihre Fortläufer nach Norden und Süden. Die Hohe Schulter ist von Gras bewachsen und auf ihr die Kronen zweier üppiger Laubbäume, aus der Ferne schon zu sehen. Sie ist eine jener Landschaftsmarken, die auf den ersten Blick schon zu Sehnsuchtsorten werden, locken, verzaubern, Geheimnis und Versprechen zugleich.

Ich weiß nicht, ob ich mich traurig, lächerlich oder aber erhaben fühlen soll, als ich die Höhe besteige und irritiert meine überflüssigen Pfunde spüre. Hatte ich das nicht ändern wollen? Bringe ich überhaupt irgendetwas zu Ende, das ich angehe?

Wind rauscht, Grillen zirpen, die Alpenberge im Süden sind halb verborgen von um die Schultern geschlungenen Regenmänteln. Unter mir der matte Spiegel des Notzenweihers, birkenumsäumt. Aus der Nähe ist sein Moorwasser braun, auf der Wiese davor hatte ich mir einst einen meiner schlimmsten Sonnenbrände geholt in jener Woche, in der ich alle sechs Bände „Durch die Wüste“ zum zweiten Mal gelesen, wie von Sinnen in mich aufgesogen hatte, um danach nie wieder ein Buch von Karl May in die Hand zu nehmen. Drüben dann, im Osten, der Auerberg, eine weitere markante Höhe, noch ein Sehnsuchtsort, am Rande des Allgäus, die Schatten dahinter liegen bereits im Lechrain, im Pfaffenwinkel.

Ich drehe mich um, passiere das Auto auf der Höhe und vor mir öffnet sich das Illertal. Cumuluswolken türmen sich himmelwärts. Andere, grauere Wolken zerteilen das Licht der Sonne in Strahlenfächer. Dächer leuchten auf drüben im Westen. Ganz nah das Auf und Ab des Sträßchens, über das ich heraufgekommen bin. Als ich ein Kind war, brachte meine Mutter über diese Straße Wolle zum Kardieren, zum Kämmen, um sie fürs Spinnen bereit zu machen. Wo damals die Weberei zwischen den Hügeln lag, steht nun ein Schild „Kunstakademie Allgäu“. Die Felder blütenloses Grün, die Kühe enthornt, Windräder da, da, da.

Ich folge einem Pfad über den Hügel, an Bäumen und Bänken und Blumen vorbei. Ich suche etwas, suche einen Ort, um ihn anderen zu schenken. Ich finde ihn nicht, mache kehrt, gehe über den Wiesenpfad zurück, an dem Auto vorbei, den Feldweg hinab, dem Wind vornweg. Die Eschen, wird mir da erst bewusst, vor vier Wochen noch kahl, stehen da in Fülle.