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Der Gesang der Stille

„Sind da Buchstaben drin?“, fragte mich meine Tochter, als ich das Buch auspackte.

Um halb Sechs kroch ich zwischen den träumenden Leibern der Meinen hervor, es war dunkel. Unten machte ich ein paar Übungen, um nicht zu zerbrechen. Stille und ich in ihr, schönste Eins-amkeit.

Spät am Abend, als endlich alle Pflichten erfüllt, findet ein Gedichtband in meine Hände. Lyrik zu lesen ist eine Art von Meditation. Innehalten, Einlassen, Ruhigwerden, bis ich die Stille höre.

„langsam fließt das denken ab“, schreibt Lutz Seiler in seinen Gedichten „schrift für blinde esel“. Meditation kann auch Ausschreiten sein, schweigend in der Natur, im „langsam atmenden schatten der Bäume“, „abzusacken im geflüster der moränen“.

In der Stille höre ich den erstarrten Strom der Moräne, auf der ich lebe. Den Gesang der Sterne. Die Welle meines lautlosen Atems. Ich denke an Adolf Endler, auch er ein ‚Ostautor‘ wie Lutz Seiler, doch seine Lyrik eine ganz, ganz andere, und trotzdem liebe ich seinen Titel „Dies Sirren“, in dem ich nicht Mücken höre, sondern die Nacht selbst, das Gestein, den Baum oder auch den Sommer, in dessen Korn es knackt und flüstert wie das „susurrus“ bei Terry Pratchett und auch ich gehöre zu denen, die diesem Wort verfallen sind.

Welch merkwürdige Kombination von Autoren, denke ich mir, und da geht der Kühlschrank an und zerstört den Gesang der Stille und ich weiß wieder, wie spät es ist.

Am Feuer

Zur Hochzeit eine Feuerschale geschenkt bekommen. So in etwa könnte ich diese Zeilen einleiten, auch wenn der Satz nicht in jeder Hinsicht wahr ist. Er ist doch wahr genug.

Ich entzünde die Schale, nun allein, auf der Wiese, auf der wir gefeiert haben. Es ist ein friedlicher Ort, von vier Seiten von Bäumen umgeben, die der Großvater und dann meine Mutter gepflanzt haben. Nach Süden hin, jenseits des Gartens, den meine Großmutter immer noch eigenhändig pflegt und hegt, stehen die Bäume niedriger und lassen einen Blick auf die Alpen zu. Heute sind die Berge verdeckt, von Wolken, wie sie auch hier den ganzen Tag über uns hinweg gezogen waren. Ein denkwürdiges Wetter, der April von einst im sommerlichen Gewand: Wolkenbänke und Sonnenschein, Düsternis, Nieselregen und wieder schwüle Hitze, Gleißen und Donnergrollen, Gewitterwind, nochmals Licht, welches das Blau der Libellen funkeln lässt, dann erst der erwartete Schauer und so weiter.

Das Feuer lodert, Falken stoßen droben ihre Schreie aus, Bienen summen in der hohen Linde hinter mir, um die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu nutzen. Ich stutze und drehe den Kopf. Die Linde hat doch schon ausgeblüht. Summt es im Ahorn daneben? Aber auch er blüht nicht …

Im sinkenden Licht ziehe ich mir etwas Langärmeliges über. T-Shirt-warme Abende gibt es hier auf dem grünen Hügel nicht. Sie sind seufzende Erinnerung an meine Zwischenjahre in der Stadt. Dann lehne ich mich zurück.

Der Platz allein vor dem Feuer ist eine Auszeit, so wie die Stunden am Klavier die letzten Tage eine Auszeit waren, eine Auszeit anderer Art. Jene verlangen ein Tun, dafür ist ihr Geschenk, mich schwingen zu lassen auf einer Seinsebene, die nicht mehr verlangt vom Leben. „Musizieren wirkt wie meditieren“, ist ein Onkel überzeugt. Etwas verändert sich im Gehirn, im Herzen, im Weltbezug.

Vor dem Feuer hingegen lasse ich. Es öffnet sich ein Raum, der meine Finger nach dem Notnotizbuch, wie Frau Wildgans es formuliert, greifen lässt. Papier raschelt, ein Stift fährt über das Blatt, Schrift in der Dämmerung. Das war lange nicht.

Freiheit

Zum ersten Mal habe ich an dem mir ja aus gerade diesem Grunde stets so verhassten Silvester nichts getan, was ich nicht machen wollte. Habe mich zu nichts gedrängt gefühlt, zu nichts überwinden müssen, bin keine schalen Kompromisse eingegangen, gleichzeitig keine Spur von Verlust, Entfremdung, Begrenztheit. Versenkung war die richtige Wahl. Von einer Viertelstunde vor Mitternacht bis eine Viertelstunde nach derselben saßen wir in Meditation. Irgendwo dort, da, drüben krachte und knallte und rauchte es. Hier ein stilles Lächeln auf den Lippen.

Von der Wasserreserve bei Wildberg aus öffnet sich ein wunderbarer Blick: auf die Alpenkette, hinüber ins Oberbayerische, das im Dunst verschwimmt, hinunter ins Alpenvorland. Das Neujahr zeigt sich sonnig wie schon die letzten Tage. Selten schenkt diese Jahreszeit der Raunächte so viel Licht wie dieses Mal. Schnee liegt auf den Hügeln immer noch keiner, nur droben in den Bergen, die Flanke der Pleisspitze leuchtet gleißend auf. Hier unten knisterndes Gras, knirschendes Laub, knuspernde Erde, krachende Platten. Eis und Frost herrschen auf unserem Weg und Lichtbahnen zaubern zwischen den Bäumen.

Die Gäste konnten nicht kommen, eine Krankheit hatte sie im letzten Augenblick doch noch aufgehalten. Es galt das Beste daraus zu machen. Anstatt das vegetarische chinesische Menü aufzutischen, kochte ich über einen langen, gemächlichen Abend hinweg immer wieder nur ein Gericht. Wir aßen, wir genossen, wir machten etwas anderes, bis mir einfiel, ich könnte jetzt doch das nächste Rezept ausprobieren. Selten erlauben wir uns so viel Freiheit.

Unten am Fluss

„Ich gehe lieber in Schweigen“, lehne ich das Angebot freundlich ab und drehe mich in die entgegengesetzte Richtung für meinen Spaziergang.

Manchmal glaube ich, in Worten zu ertrinken – in Worten, Stimmen, Reizen. Vor einem blinkenden Deckenlicht schließe ich die Augen, ein schneller Filmschnitt verursacht mir Übelkeit und nachdem ich in einem fremden Bad nach einem gewöhnlichen Duschgel gegriffen hatte, musste ich mich anschließend augenblicklich nochmals duschen, weil es mir vor dem Geruch auf meiner Haut so sehr ekelte.

Vielleicht bin ich deshalb aus der Stadt aufs Land zurück, was mir nur wenige Jahre zuvor noch als unmöglich erschienen wäre. Zurück also aus jenem Kosmos aller Möglichkeiten, dem Leben unter Strom, den nie ruhenden Verschiebungen von Menschen, Dingen, Informationen, Energie, den harten Flächen aus Asphalt und Beton, jede Kante ein Angriff auf mich.

Manchmal möchte ich nichts als Flöte spielen unten am Fluss.

Die grüne Hölle

Hinein in die Provinzstadt, an der Höhe vorbei, wo vor 2000 Jahren römische Verwaltungskräfte ihre Villen gebaut haben, als der Ort tatsächlich für einige Jahre Provinzhauptstadt war, heute aber Möchtegernmetropole der „Grünen Hölle“, wie ein Schriftsteller einmal das Allgäu genannt hat, ein hiesiger, und das darf und muss er ja auch sagen, sonst wäre er nicht Schriftsteller, sondern Panegyriker.

Ein paar Flocken fallen, an der Einfallsstraße meterlange Eiszapfen, trotzdem Tauwetter, zumindest sackt der Schnee zusammen. Bücher sind gegangen, andere kommen schon nach, es ist, rede ich mir ein, das Ideal, nicht eine stetig größer werdende Sammlung aufzubauen, sondern eine immer bessere, treffendere, mir angemessenere Auswahl an Büchern zur Hand zu haben. Das ist selbstredend ein Prozess, der nie aufhört, solange man lebt, sich bewegt.

Die weltbeste Butterbreze – sie gehört zur Habenseite der Möchtegernmetropole der Grünen Hölle – lasse ich links liegen. Bis zum Ende des Monats werde ich kein Getreide essen. Dampfig ist es in dem Café, obwohl, vielleicht auch nur warm, die Scheiben sind nicht beschlagen. Es läuft zu einem Brei unkenntlich gemachte Hintergrundmusik, sie bedrängt mich, lieber wäre mir, nur das Stimmengewirr und die klirrenden Gläser und den Schlag des Kaffeelöffels an Keramik und das Stapeln der Espressotassen zu hören.

Wie schön war doch die Stille, als ich morgens die Augen nach der Meditation öffnete. Die Verschmutzung unserer Welt findet auf unzähligen Ebenen statt, denke ich mir auf meinem Barhocker und schaue hinaus.

Ich nehme den letzten Schluck und mache mich auf, ein Dach von Schnee zu befreien. Das aber ist eine andere Geschichte.