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Freiheit

Zum ersten Mal habe ich an dem mir ja aus gerade diesem Grunde stets so verhassten Silvester nichts getan, was ich nicht machen wollte. Habe mich zu nichts gedrängt gefühlt, zu nichts überwinden müssen, bin keine schalen Kompromisse eingegangen, gleichzeitig keine Spur von Verlust, Entfremdung, Begrenztheit. Versenkung war die richtige Wahl. Von einer Viertelstunde vor Mitternacht bis eine Viertelstunde nach derselben saßen wir in Meditation. Irgendwo dort, da, drüben krachte und knallte und rauchte es. Hier ein stilles Lächeln auf den Lippen.

Von der Wasserreserve bei Wildberg aus öffnet sich ein wunderbarer Blick: auf die Alpenkette, hinüber ins Oberbayerische, das im Dunst verschwimmt, hinunter ins Alpenvorland. Das Neujahr zeigt sich sonnig wie schon die letzten Tage. Selten schenkt diese Jahreszeit der Raunächte so viel Licht wie dieses Mal. Schnee liegt auf den Hügeln immer noch keiner, nur droben in den Bergen, die Flanke der Pleisspitze leuchtet gleißend auf. Hier unten knisterndes Gras, knirschendes Laub, knuspernde Erde, krachende Platten. Eis und Frost herrschen auf unserem Weg und Lichtbahnen zaubern zwischen den Bäumen.

Die Gäste konnten nicht kommen, eine Krankheit hatte sie im letzten Augenblick doch noch aufgehalten. Es galt das Beste daraus zu machen. Anstatt das vegetarische chinesische Menü aufzutischen, kochte ich über einen langen, gemächlichen Abend hinweg immer wieder nur ein Gericht. Wir aßen, wir genossen, wir machten etwas anderes, bis mir einfiel, ich könnte jetzt doch das nächste Rezept ausprobieren. Selten erlauben wir uns so viel Freiheit.

Die Kraft und die Herrlichkeit

Ein Schuss, ein Hall, dann wieder die Glocken des Jungviehs. Das Himmelsrot jenseits der Wälder verblasst, kühl zieht es von den Wiesen herauf. Immerhin war es am frühen Abend noch versöhnlich warm, versöhnlich sonnig nach widrigen Tagen.

Die Kraft war mir ausgegangen, so gründlich, dass ich eine Bergtour vortags nach einer Viertelstunde abgebrochen hatte. Es ging nicht, warum auch immer. Es ging gar nichts – körperlich, seelisch, geistig nicht. Aber das ist natürlich auch wieder Unsinn, das bezeugen die ordentliche Wohnung, der umgeschichtete Lesestapel, die guten Gespräche, der Duft in der Küche, in der ich an einem Wochenende drei, vier Rezepte aus einem spanischen Kochbuch ausprobierte. Der Knoblauch ging als Erstes aus.

Versöhnlich warm und versöhnlich sonnig also der Ausklang des Wochenendes und ich öffnete die Balkontür, durch die die Sonne bis unter den Schreibtisch fiel, und ich zog mich aus und legte mich in diese Schneise aus Licht. Und während ich die Ellbogen links und rechts an den Kästen des Schreibtisches abstützte und die Maserungen der Schublade über mir musterte, ließ ich, vielleicht zum ersten Mal seit Tagen, wirklich los. Und die Kraft kehrte zurück und mit ihr die Herrlichkeit.

Es ist ja dieser eine Satz, den ich, in der mir vollkommen fremd gewordenen kirchlichen Sphäre, ganz und gar bejahe, der, während ich alles davor und alles danach nur aus kühlster Ferne wahrnehme, hinausschmettern möchte, jedesmal wenn ich ihn höre: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“ Wie vor ein paar Tagen wieder einmal, als mich eine Beerdigung nach langer Zeit in eine Kirche hineingeführt hatte, in die Dorfkirche aus Kinderzeiten, der Sebastian rechts vorne immer noch von Pfeilen durchbohrt, alles immer noch begraben unter den Ausschweifungen des Barock. Fremd war mir alles: das Dorf, die Kirche, das Ritual, die Menschen. Alles schien mit Bedeutung aufgeladen, keine Geste war willkürlich, nur dass ich diesen Zeichencode unter der permanenten Beobachtung aller durch alle nicht verstand, nur selbst beobachten konnte, alles und jeden beobachten, und dabei wusste, wie mich jeder als Fremden erkennen würde, nein, nicht einmal am Gesicht, sondern an dem, was ich tat oder nicht tat zwischen ihnen, vor dem Grab, auf dem Weg zwischen Tür und Bank.

„What am I Doing Here“ ist eine Textsammlung von Bruce Chatwin überschrieben, die ich im Flugzeug nach Tansania gelesen hatte, und das fragte ich mich: Was mache ich hier? Ich gehöre nicht hierher, wie ich nirgendwo sonst hingehöre, nicht in die Stadt, nicht aufs Land, nicht in die Ferne noch in die Heimat, nicht hierhin, nicht dorthin. Als ich merkte, wie ich mich in ein ehernes Hemd aus Selbstmitleid zu rüsten drohte, hielt ich inne. Wie wichtig doch auch die Menschen sind, die am Rande stehen! Reisende, Beobachter, Fragensteller, Brückenbauer, Zweifler, wie Bruce Chatwin etwa.

In Afrika erklang jeden Morgen neben der Hotelterrasse der Gottesdienst. In Suaheli und trotzdem waren am Rhythmus, an der Sprachmelodie die Elemente des Zeremoniells wiedererkennbar, während wir mit Blick auf den Victoria-See frühstückten oder unsere Unterlagen für den Tag durchgingen. Doch eines war entschieden anders: die Musik. Sie klang nicht nach zur Schau getragenen Leidensmienen, sondern stieg als mehrstimmiger Lobgesang in die Höhe, von Trommeln und Freudentrillern begleitet, eine Feier der Herrlichkeit, ein wahrhaftiges Halleluja von beinahe zu Tränen rührender Schönheit.

Die Finger fahren nun über die Tomatenstaude und an ihnen bleibt ein Duft des Paradieses zurück. Er mischt sich mit den Aromen frischgebackenen Brotes und gerösteter Auberginen aus der Küche. Kenny Wheeler bläst auf seiner Trompete, zum Gesang von Norma Winstone, zu Gedichten von Fernando Pessoa. Der Himmel dunkelt und das Licht glüht nach. Nicht in Ewigkeit, aber in Kraft und Herrlichkeit.

Vorstadtfreuden

Der magere Fensterputzer und die ältliche Türkin scherzen über ihre Motorhaube. Die Farbe weicht von der des Autos ab. Eine Reparatur, versucht die Frau zu erklären, aber Deutsch kann sie nicht wirklich. Sie lachen trotzdem beide.

Im türkischen Supermarkt finde ich, was ich nicht auf dem Wochenmarkt, nicht im Bioladen, nicht im Asienladen mit dem schroffen Besitzer und seiner Thai-Frau, die nichts anderes als „bye-bye“ zu jedem Besucher sagt und damit das Abweisende des Mannes und des Ladens auf bedrückende Weise wiedergutzumachen versucht. Hier, in dem türkischen Supermarkt, finde ich also Chilis, ganze Bündel von Chilis, und sie sind nicht einmal aus Kenia oder Thailand importiert, sondern aus Italien, und natürlich den großen Becher Gazi-Joghurt mit dem gelben Deckel, einen stichfesten Joghurt, für den ich bisher kein entsprechendes Bio-Produkt gefunden habe. Nach mir ein Mann, dessen Einkauf am Samstagvormittag aus drei Fläschchen Jägermeister besteht. Meine Heiterkeit weicht einer Trauer.

Auf dem Rasen des Wohnblocks zieht einer am Seil ein Vogelhäuschen in den Regen hoch. Der Gesichtsausdruck des Mannes ist so hart, er könnte auch den Galgen für ein Lynchgericht vorbereiten irgendwo in Wildwest. Ich packe meine Einkäufe zu den anderen und verlasse die Stadt.