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Als gäbe es kein Morgen

Gegen Abend sind wir noch losgeradelt in eines der umliegenden Dörfer. Das Freibad dort kenne ich aus meiner Kindheit. Sicherlich 30 Jahre war ich dort nicht mehr schwimmen gewesen. Es ist ein sehr einfaches Freibad: ein ummauertes Becken unterhalb der Straße, eine Stange trennt Nichtschwimmer- und Planschbecken ab vom Rest, ein bisschen Wiese, kein Zaun, kein Kassenhäuschen. Kein Sprungbrett, keine Rutsche, kein Spielplatz, kein Kiosk, keine Bänke, nichts von alledem. Nur ein paar Wasserpflanzen im kalten, klaren Wasser und vielleicht ein paar Pferdeegel, die wir immer Blutegel nannten, obwohl sie nicht an Menschen gehen und uns trotzdem schaudern ließen. Das Wasser in diesem Freibad ist nicht nur kalt. Es ist furchtbar kalt. Eine Quelle bricht aus dem Hang, sie speist das Becken und auf der anderen Seite des Beckens ist sie dann schon Dorfbach.

Als wir mit dem Rad auf den Kiesweg einbogen, kam ein Jugendlicher herauf, eine Sporttasche über die Schulter geworfen. Ich grüßte ihn und er grüßte offen, fast herzlich zurück, als kenne er mich. So grüßt man nur an einem Ort, wo jeder jeden kennt. Im Freibad herrschte auch an diesem Abend kein Gedränge, das tut es nie. Ein paar Mädchen tollten mit einem Schlauchboot herum. Eines kam auf uns zu: „Kann jemand von euch ein Foto machen?“ Ohne Scheu sagte es das Mädchen und ganz selbstverständlich verwendete es die persönliche Anrede, als gäbe es hier keine Fremden, könne hier niemand fremd dem anderen sein. Ich knippste ein paar Mal drauflos, dann fragte ich, fast schon vergessen, wohin ich das Handy legen dürfe. „Einfach auf das Handtuch da drüben!“

Später gingen sie und ließen das Schlauchboot zurück, die Schnur um eine Stange gelegt, und dann waren außer uns nur drüben noch ein paar Jugendliche, die den Abend genossen, ein bisschen Bier, kein Krakeelen. Sie verließen das Bad fast zeitgleich mit uns, quetschten sich in ein kleines, altes Auto und machten sich lachend davon, als warte das Leben noch mit einem Versprechen auf sie, als gäbe es kein Morgen.

Nur noch das Schlauchboot lag da, ungesichert, frei von Angst vor Diebstahl und Sachbeschädigung oder was uns sonst immer auch dazu bewegt, Dinge festzuketten oder einzusperren. Etwas Seltenes, ja Seltsames umwehte uns hier: der flüchtige Geist der heilen Welt. Als wir auf die Sättel stiegen, fühlten wir uns jung. Vergessen das Altern von Geist und Seele. Vergessen die Herausforderungen unserer Zeit, der vergiftete Atem unserer Gesellschaft, der sich darin eilt, Schuldige zu suchen, je pauschaler und aberwitziger, umso besser, nur nicht in sich selbst. Vergessen jedes Müssen, Sollen, Dürfen.

Wir radelten in die untergehende Sonne, den Duft der Jugend in der Nase, als würde der Sommer ewig gehen, als gäbe es kein Morgen.

Nachtwanderung

Trug ich sie in der Wohnung, weinte sie, legte ich sie ab, schrie sie. Also beschloss ich, mit ihr in den Abend hinauszuwandern. Noch ehe ich meine Schuhe anhatte, war sie bereits in der Bauchtrage eingeschlafen.

Über den Feldweg spazierte ich weiter den Hügel hinauf. Im Südwesten waren die Gipfel ein Scherenschnitt vor Orange, alles andere war schon Nacht unter Wolken, das Grün der Felder ausgewaschen zu tiefster Farblosigkeit, schwarz die Wälder. Schnee würde erst Stunden später fallen.

Als ich den nächsten Weiler erreichte, bellte der Hund nicht, wie er es tags immer machte. Wir begegneten uns wie Verschwörer in der Nacht, die sich im Moment des Erkennens zunicken und beide für sich wieder mit dem Dunkel verschmelzen. Über Asphalt schwenkte ich nach Süden. Die Umrisse der Berge waren nicht mehr zu erkennen. Ein paar Lichter brannten dort im Himmel, Flutlichter von Hütten oder Skipisten. Zwei leuchtende Kegel bewegten sich auf mich zu, ich wich auf den Seitenstreifen und schlug vor dem blendenden Licht des Autos die Augen nieder. Die Scheinwerfer zogen scharfe Grenzen in den Schotter des Banketts, rissen die Oberfläche aus ihrem Schlummer und schwärzten die Schatten, bereits die kleinste Vertiefung wurde Finsternis, dann war das Fahrzeug an mir vorbei und die Grenzen wurden wieder weicher.

Durch das Wäldchen waren es nur wenige Hundert Schritt. Alleine hätte sich etwas zwischen den Baumstämmen an mich herangeschlichen: eine Urangst, aus Jahrhunderttausenden in unseren Genen verankert. Doch ich trug ein kleines Menschenleben. Die Verantwortung ließ keinen Raum für Ängstlichkeit.

Als mich das Wäldchen entließ, schritt ich auf einen Horizont roter Lichter zu. Windräder schickten ihre Warnung hinaus in die Nacht. Ein einzelnes Windrad ist rätselhaft. Eine ganze Reihe wird zur Drohung. Haben diese roten Morsezeichen auch eine Wirkung auf die Tierwelt? Es ist ganz offensichtlich, dass die Lichtverschmutzung durch unsere illuminierten Ortschaften eine solche hat; so wie es offensichtlich ist, dass es Kraftfahrzeuge tun nicht nur mit ihrem Motorenlärm, sondern auch den schneidenden Scheinwerfern. Ich fragte mich, ob es Augentiere gibt, die, mir vergleichbar, den Blick heben am Waldesrand und hinüberschauen zu den mahnenden roten Lichtern, ihre Fantasie beflügelt.

Ich traf die Hauptstraße und fand über einen Radweg ins Dorf hinein und alles wurde anders. Fahrzeuge waren nicht länger singuläre Ereignisse in der Nacht, sondern ein auf und ab schwellendes, nie ganz versiegendes Geräusch. Wasser rauschte unter Kanaldeckeln. Fenster leuchteten, versprachen Heim oder auch Traurigkeit, wie diese verwaschenen Vorhänge, von einer gealterten Hand zur Seite geschoben und wieder fallen gelassen, warm dann wieder die Anmutung aus dem halb offenen Stall des letzten Bauernhofs im Ortskern, warm und beruhigend jetzt auch auch der wuchtige, aus hellem, hartem Gestein geschichtete Kirchturm, warm der immer noch mit Kerzen beleuchtete Weihnachtsbaum vor dem Gemeindehaus.

Am anderen Ende des Dorfes kam mir ein Mensch entgegen, sein Gesicht im Schatten. Ich würde diesen Menschen grüßen, auch wenn ich ihn vermutlich nicht kannte, denn ich kannte nur wenige im Dorf. Selbstverständlich würde ich grüßen, etwas anderes kam gar nicht infrage. Aber wie, fragte ich mich. „Grüß Gott“, antwortete ich mir, sollte es ein älterer Mensch sein. Der Gang verriet allerdings kein Alter und so entschloss ich mich doch zum Du und sagte, etwas verhalten, „Griaß di“, und im gleichen Augenblick sagte die Person, so unsicher wie ich, „Servus“ und wir waren schon aneinander vorbei, als wir uns doch noch erkannten. Es war die Nachbarin auf dem Weg zu einem Jahresessen im Dorf. Als sie sah, dass ich die Tochter trug, klang ihr Lachen noch heller. „Hosch a Liacht?“, bot sie mir eine Taschenlampe aus ihrer Jackentasche an. Ich lehnte ab, ich brauchte sie nicht, dankte für diese freundliche Geste aus Zeiten, als Nachbarschaft noch Schicksalsgemeinschaft bedeutet und man einander ausgeholfen hatte.

Draußen, gegenüber dem kleinsten aller Gewerbegebiete, schlug ich nicht das Sträßchen auf den Hügel ein, wobei, auch dieses Gewerbegebiet ist inzwischen gar nicht mehr so klein, auch es frisst sich weiter in die Felder hinein, wie in so vielen Gemeinden, wo gierig Wiese um Wiese verschlungen und der Götze Wachstum geopfert wird, und ich frage mich, wo sind eigentlich all die Menschen, die die Produkte dieses Wachstum benötigen.

Auch die zweite Straße hinauf ließ ich außer Acht, ich schlug die Gegenrichtung ein, spazierte, immer noch auf einem Radweg, an der Hauptstraße in den benachbarten Landkreis hinein. Die Senke zeigte sich als Windschneise, mich fröstelte. Bald suchte ich den Feldweg, der irgendwo rechts abzweigen musste, es war nicht leicht, ihn auszumachen. Scheinwerfer blendeten mich. Wenn sie passierten, suchten sich die Augen wieder an das Dunkel zu gewöhnen, doch da war schon das nächste Fahrzeug heran. Aber dann fand ich den Feldweg doch und kein Scheinwerfer erfasste mich und so tappte ich durch den niedrigen Graben hindurch und über die Straße hinüber und spürte Kieselsteine unter meinen Füßen und hinter meinem Rücken sauste das nächste Auto vorbei.

Nicht nahm ich den inzwischen halb zugewachsenen Weg ins Gehölz, über den wir als Kinder zur Großmutter gegangen waren, ohne Erwachsene zwischen den beiden Hügeln hin und zurückspazierten, erst an der Hauptstraße entlang, damals noch ohne Radweg, dann durch das Wäldchen hindurch und über Feldwege hinauf, niemand hatte sich dabei etwas gedacht, ich weiß nicht, ob das heutzutage anders wäre. Aber etwas hatte ich mir dann doch gedacht damals, denn ich erinnere mich, wie mich, den Ältesten, einmal die Verantwortung in die Träume hinein verfolgt hatte. Wir waren wieder einmal zu dritt unterwegs und da kam etwas abgrundtief Böses hinter uns her und wir mussten um unser Leben rennen und mir war klar, so erbarmungslos klar, dass ich nur die Kraft hatte, einen meiner Brüder aufzunehmen und, mit ihm auf meinem Rücken, loszuspurten – und den anderen sich selbst überlassen musste.

Ganz friedlich war der Weg nun, die Straßen weit genug hinter mir, der Waldrand schweigend, der Grund unter meinen Schuhen weich. Dann erreichte ich das Häuschen, an dem ich in all den Jahren nie vorbeigegangen war, weil es nie auf meinem Wege hatte liegen wollen, obwohl ich es doch täglich sah drunten im Tal, besonders nachts, wenn seine Fenster leuchteten in der weiten Dunkelheit. Keiner der Hunde, die ich vorhin noch hatte bellen hören, schlug auf mich an. Und dann war ich vorbei und hatte doch nichts gesehen von dem Haus, weil es ja dunkel war, und ich wusste, ich würde bald wieder einmal daran vorbeigehen müssen am hellichten Tage.

Ich schlug einen Bogen zurück, bog dieses Mal doch auf den Weg auf den Hügel ein, ging erst unter Birken, dann unter Eschen und schließlich unter der Scheunenauffahrt hindurch, wandte mich, bevor ich das Zuhause erreichte, wieder ab und schritt, wenn auch von zwei Stunden Gehen bereits ermüdet, an den Apfelbäumen entlang wieder hinab, erreichte am kleinen Gewerbegebiet die Hauptstraße, fand zum zweiten Mal ins Dorf hinein und nahm vor dem leuchtenden Baum einen neuen Weg.

Ein paar kalte Regentropfen trafen mich, dann hatte ich die Siedlung bereits wieder hinter mir, stieg an dem nun leeren Hühnergehege, an der nun leeren Schafweide vorbei auf die Höhe hinauf, durch den schneidenden Wind hindurch zu dem einzelnen Gehöft, wo hinter einem Fenster ein einsamer Mann an einem einsamen Tische saß, und kehrte, über ebenjenen Feldweg, auf dem ich vor fast drei Stunden aufgebrochen war, und zuletzt an der knarzenden, im Winterwind immer singenden Esche vorbei, nach Hause zurück. Das Kind schlief immer noch an meiner Brust.

Allgäu-Blues

Gegenüber liegt mein Großvater und ich hatte nicht gewusst, dass es in dem Dorf sonst noch etwas anderes gibt außer dem Metzger mit den schweinefreien Würsten und dem Dorfladen, in den meine Großmutter eingezahlt hat, damit es überhaupt noch einen Laden gibt, und dem sacht traurigen Wirtshaus mit seinem Biergarten unter Kastanien und den Brüchen im Asphalt der Doppelkurve, die ich jeden Tag nehme.

Da also gibt es plötzlich eine Bar mit Jam Sessions, für die Leute – ist das wahr, was ich auf dem Nummernschild lese? – bis aus der Schweiz angefahren kommen. Und ich schiebe die Tür auf, unsicher geworden in dem mir fremden Territorium, übersehe am Eingang einen Kollegen in Lederjacke und suche drinnen nach den Freunden, die mich eingeladen haben, und sehe stattdessen die Masseurin des Einödhofs, die Blockadearbeit geleistet hatte kürzlich, was meinen Kopfschmerz vervielfacht und biographische Fragen an mich selbst aufgeworfen hatte ausgerechnet an meinem Geburtstag.

Am Nachmittag habe ich das Büro hinter mir gelassen und bin durch Regenschleier in die alte römische Kapitale gefahren. „Nichts bereuen“, lese ich auf dem Eingangsplakat über dem Eingang des Baumarkts, der so gerne mit markigen Sprüchen wirbt. Ich bekomme die Kleinigkeiten, die seit Wochen auf einem Zettel stehen, die Lampe aber, für die ich Nutzen hätte und doch bisher ohne sie ausgekommen bin, stelle ich wieder zurück, ich ignoriere die Verlockungen der Metallwarenabteilung, weiche Feierabendholzträgern aus.

Und nochmals weiter nach Süden, Wolkenbänke verbergen die Berge, nicht aber den Höhenzug, auf den ich zusteuere, und es ist, als sähe ich ihn, schneeweiß und fichtenblau, nun zum ersten Mal – als Horizont der Stadt, der sonst verschwindet vor den Voralpen und Alpen über ihm. Hinauf auf die Autobahn und nach wenigen Hundert Metern schon wieder herunter, vorbei an dem Burggemäuer, an dem ich das letzte Mal zu einer Sommerhochzeit während meiner Stuttgarter Jahre war, den Hügel empor, er ist steiler als ich dachte, und zum Speicher hinüber, Straßen, auf denen ich seit vielen Jahren nicht mehr war. Eine Wiederentdeckung mehr in jener Region, von der ich weniger denn je weiß, ob sie Heimat ist.

Mein Ziel ein stattliches Gebäude in einem Weiler: Steingarten, Edelsteine, Holzkuppel, mit Schwammtechnik begelbte Wände. Ob ich nach meinem Besuch nur noch rosarot denken könne, hatte ich zuvor noch gescherzt. Ich betrete den Ladenraum mit den Yoga-Klamotten – „energetisierte Wellness- Bekleidung“ – und da dreht sich meine ironische Abwehr in ihr Gegenteil: Es plätschert und plärrt aus einem Radio ein ganz gewöhnlicher Popsender. Damit, denke ich mir, zu meiner Überraschung fast entrüstet, hat sich das Geschäft selbst entlarvt.

Über nie von mir je zuvor betretene Wege quere ich anschließend nach Westen, zwischen unerwartet steilen Hängen hindurch, an nie zuvor von mir betrachteten Kirchtürmen vorbei, der Regen spannt die Dämmerung bereits übers Land, als ich die Iller überquere und auf meiner steten Suche nach Oasen die IG OMa ansteuere: eine Art dörfliches Kulturzentrum im einstigen Bahnhofsgebäude. Züge halten hier immer noch, aber kein Bahnbediensteter hat hier Aufsicht oder verkauft gar Karten, und der aushängende Fahrplan markiert ganz andere Zeiten: Wochenmarkt, Dorfcafé und Feierabendtreff, Vorträge, Konzerte und alternative Filmvorführungen, Backzeiten für den Brotofen – nur nach Anmeldung -, afghanische Küche von Geflüchteten, Handarbeitstreff, Gemeindepolitik …

Ein befeuerter Bullerjan, ein Regal mit Weinsortiment, Cafétheke und Kuchenstücke, einer gibt Würstchen in heißes Wasser, die Menschen duzen mich. Der Macher, ein waschechtes Nordlicht, das in seinen Salzwassersang immer dann ein sehr südliches „griaß di“ einflicht, wenn ein weiterer Mensch hereintritt. Und ein Glaziologenpaar der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, das einen Vortrag halten wird über seine Arbeit und die weltweite Entwicklung der Gletscher und ihre Folgen. „Früher wusste ich nicht, wie man Gletscher schreibt, und jetzt bin ich selbst einer“, scherzt der Macher rätselhaft.

Welches Nichts, denke ich mir während des Vortrags, wir als Individuen in diesem Universum doch sind. Wir könnten getrost sofort aufhören, uns über alles mögliche aufzuregen, was uns widerfährt; es ist – vom Mond aus gesehen, ach was, vom drittnächsten Dorf aus betrachtet – vollkommen bedeutungslos. Und wie wir als Spezies in unserer Raubgier gleichzeitig einen ganzen Planeten – zumindest Abertausende seiner Lebensformen, uns selbst früher oder später eingeschlossen – in den Untergang treiben. Ungeheuerlich, unvorstellbar, dass die Politik und, ja, wir alle – du, Sie, ich – nicht viel mehr Konsequenz üben angesichts dessen, was so offensichtlich ist. Und ich steige in das Fahrzeug mit dem Verbrennungsmotor, das mich zum nächsten Ort tragen wird und gebe Gas und überhole eine lahme Ente auf der Autobahn und fühle mich schizophren.

Als ich in der Blues Jam Session ankomme, bringe ich Müdigkeit mit. Von unserem Tisch aus haben wir eine schlechte Sicht auf die Bühne. Die anderen stehen immer wieder auf, um hinüberzuschauen zu den Musikern. Ich aber merke, wie mich eine unsichtbare Schere aus der Szene herausschneidet, eine Hand mich diesem Ort entrückt. Fremd das Lachen an den Tischen, merkwürdig der Biss jenes Mannes in die belegte Seele, irritierend die Bewegungen des Paares, das sich zu einem Turner-Hit zum Tanz vor die Musiker schiebt, befremdlich die Gesten des Sängers, die Tätowierungen der Sängerin, die sich mir immer gleichförmiger zu wiederholen scheinenden Blues-Phrasen. Mag sein, dass mich Jazz länger gehalten hätte oder auch Black Sabbath oder Johann Sebastian Bach, vielleicht auch nicht.

Ich stehe auf und gehe hinaus in die Nacht, vorbei am Grab meines Großvaters, von einer Plane abgedeckt, so wie die Kirche eingerüstet ist, hinüber zu dem stillen, leeren, dunklen Platz unter den winterlichen Kastanien und setze mich wieder einmal in mein Fahrzeug und ziehe die Zugbrücke hinter mir hoch.

Allgäu_Winter

Foto: Oliver Storz

P.S. Er ist wieder da, das freut mich sehr: https://waldundhoehle.wordpress.com/

Totenglocken

„Jetz isch as halt so, bloß andersch.“ Aufschrift in verblasster Fraktur an einem Westallgäuer Bauernhof. Hinter dem Haus geht es sofort hinab in den Bregenzer Wald, ins Vorarlberg.

*

Ich komme vom Berg herunter und aus dem Wald heraus und da lehnt ein Mann an einem Anhänger hinter seinem Haus und raucht und schaut mich an.

„Griaß di“, entscheide ich mich für die offensivste Möglichkeit.

„Servus“, antwortet er.

Als ich ihn bereits passiert habe, sagt er noch etwas. „Ich hätte da eine Bergtour.“

Ich drehe mich um und weiß nicht, was er meint. „Ja, da komme ich runter“, entgegne ich.

„Nein, nicht über den Weg. Sondern dort.“ Er deutet auf die Wiese, die sich steil hochzieht bis zum Wald.

„Ja, aber auf dem Weg war es auch ganz schön.“ Noch immer begreife ich nicht.

Nach einer kurzen Pause ergänzt der Mann: „Ich hätte auch eine Gabel dazu.“

„Ach so!“, lache ich über das Arbeitsangebot. „Das nächste Mal.“

*

Katzenmühle, steht da angeschrieben mit einer Speisekarte und dem Verweis auf eine Schmuggelstube. Der Weg führt hinab in Waldesdickicht entlang eines Bachlaufs, dahinter nur Wipfel und Berghang und mitten in diesem Nirgendwo eine unsichtbare Grenze. Dort will noch etwas anderes sein? Ich schlage den Weg ein.

„Selbstbedienung“ steht da angeschrieben auf einem Schild auf der Terrasse. Ich grüße die kleine Runde am Tisch und gehe hinein, eine Frau schneidet einer anderen die Haare, ich biege ab und unter einem niedrigen Türsturz hindurch. Da ist eine kleine Küche, ein Schauraum mit Kuchen, Kaffeemaschine und Delikatessen, dahinter eine Stube, viel Holz, keine Gäste hier drinnen. Dann stehe ich da und weiß nicht weiter und irgendwann kommt der Mann aus der kleinen Gruppe draußen herein. „Jetzt wollte ich doch mal schauen, ob du zurecht kommst.“

Selbstbedienung ist wirklich ganz wörtlich gemeint, lerne ich. „Schüchtern darf man bei uns nicht sein.“ Also hole ich eine Flasche aus dem Kühlschrank und ein Glas vom Regal, suche den Flaschenöffner und schließlich die Kasse. Die gibt kein Wechselgeld, denn sie ist ein Holzkästchen mit einem Schlitz für Geldeinwurf. Ich habe das Geld nicht passend, es wird mein teuerstes alkoholfreies Weizen, das ich je getrunken habe, aber es tut nicht so sehr weh, denn längst hat die Katzenmühle mein Herz erobert. Ich spaziere hinaus, bewundere das viele Holz, die Heiterkeit der Betreiber, die verwinkelte Galerie, sehe, dass die Katzenmühle auch an manchen Abenden geöffnet hat.

„Pfiat di“, ruft mir der Betreiber fröhlich hinterher, als ich weiterziehe. Ich werde wiederkommen eines Abends und dann, versteht sich, nicht allein.

*

Über einen Graspfad geht es den Hang hinab, dann schwenke ich scharf auf einen Feldweg. Er führt direkt auf ein Dorf zu, auf eine Kirche am Ortsrand, zwei Autos sind in der Wiese geparkt, gegenüber steht ein Bauernhof mit Holz und frischen Farben im Sonnenschein. Und dann läuten auch noch die Glocken.

Eine unerhörte Idylle rückt dem Wanderer näher. Hier ist Deutschland noch in Ordnung, ist da plötzlich in meinem Kopf, und dabei will ich damit weder eine Aussage treffen, dass Deutschland nicht mehr in Ordnung, noch dass es früher je in Ordnung gewesen sei. Es ist nur eine spontane Reaktion auf diese ungeschminkte Schönheit.

Warum aber läuten die Glocken an diesem Nachmittag? Schwarzgekleidete Gestalten auf dem Friedhof belegen meinen Verdacht. Dann, als ich die Kirche passiere und den Bauernhof und den Brunnen, füllen sich die Straßen mit immer mehr Menschen in Trauerfarben. Alle sind sie jung, beinahe alle sind sie elegant und selbstsicher und schön und schlank. Die Autokennzeichen sind aus der Fremde: Stuttgart, München, Starnberg, immer wieder wiederholen sich diese Kennzeichen, da ist kein einheimisches Kennzeichen darunter, so wenig wie ich ältere und alte Menschen sehe, und aus den Autos steigen immer noch mehr junge, elegante Frauen und junge, elegante Männer. Eine Frau lächelt mich an, einer anderen laufen Tränen übers Gesicht, das Gasthaus, in dem ich eine Einkehr erwogen hatte, ist einer geschlossenen Gesellschaft vorbehalten, der Wirt zieht mürrisch an einer Zigarette auf dem Treppenaufgang.

Benommen bewege ich mich gegen diesen schwarzen Strom. Benommen von dem Kontrast dieser ungeheuren Idylle und dem Tod eines offenbar noch jungen Menschen, den Dorfhäusern und all diesen eleganten, erfolgreichen Menschen aus einer anderen Welt. Stuttgart, München, Starnberg in diesem Tal ganz am Ende von Deutschland, und dann bin ich am anderen Ende des Dorfes, steige aus der Flut wieder ans Ufer einer einsamen Gemeinde und hätte so gerne gefragt und wage es doch nicht, hätte gerne gefragt nach dieser Geschichte, die ich da eben hinter mir gelassen habe und nur nach ihr hätte zu greifen brauchen.

Ich setze mich auf eine Bank, neben mir eine Scheune mit der Beschilderung „Reifenwechsel“ und einem Haindlingplakat und einem Plakat einer Vielhundertjahresfeier des Dorfes. Zwei Männer laden aus der Werkstatt Reifen in einen Lieferwagen, sie unterhalten sich angeregt, der eine ist hell und blond und der andere afrikanisch schwarz und ich weiß, dass ich es bereuen werde, nicht nach den Totenglocken gefragt zu haben, und wage es aus Scham doch nicht.

Vielleicht, sinne ich auf der Bank, war da einst ein sehr junger Mann, eine sehr junge Frau ausgezogen aus diesem 800-Seelen-Dorf am äußersten Rande Deutschlands, nur noch eine Siedlung liegt unterhalb im Tal vor der Grenze, das Tal ein Keil, ein Dreieck, dessen beide Schenkel österreichisch sind. Ist also von dort ausgezogen und hat Karriere gemacht in den Landeshauptstädten des Südens und nun als Toter zurückgekehrt in seine einstige Heimat. Ist zurückgekehrt in diese Idylle, die doch zugleich ein Kaff ist, ein Kaff sein muss, immer ein Kaff war und ein Kaff bleiben wird für die Jungen, vielleicht das allerschrecklichste Kaff sogar, einem Gefängnis gleich, und der junge Mensch also ging nach München und Stuttgart, ging in die Wirtschaft vielleicht, machte Karriere, eine Frau oder ein Mann mit Zukunft, lobten vielleicht die Älteren, halb stolz, halb missgünstig auf den Nachwuchs, und am Wochenende tanzten die Jungen und Erfolgreichen in München oder Stuttgart und feierten und die Zukunft ein ausgebreitetes Feld vor ihnen, eine Verheißung, die es zu erobern gilt, ein goldener Apfel am Baum.

Und jetzt liegt dieser Mensch tot da drinnen in dieser schönen Kirche zwischen all den schönen Menschen an diesem schönen Sonnentag und verwest.

Spurensuche

Das Dorfgedächtnis ist unerbittlich. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist es her, dass ich im nahen Weiler lebte. Räumlich war der Umzug fort für die Familie kein großer Schritt – trotzdem war ich damit aus diesem Raum verschwunden, hatte ihn für 25 Jahre vollkommen hinter mir gelassen. Und dann kehre ich zurück, Grau im Haar, und die, die immer hier waren, erkennen mich auf ein paar Stichworte hin, fügen mich ein in den ewigen Faden, den das Leben hier geduldig spinnt.

Ich folge der Dame ins Gemeindehaus eines für mich Jahrzehnte lang nicht mehr existenten, ja ausgelöschten Dorfes und brauche nur zu sagen, dass ich in den Weiler … zurückgekehrt bin, wo ich Jahre meiner Kindheit verbracht habe, schon findet sie nach einem Augenblick des Grübelns meinen Nachnamen. Die Nächste braucht immerhin noch meinen Familiennamen als Erinnerungshilfe, dann hat sie die Vergangenheit geordnet: Ach ja, ich habe doch mit ihrem Sohn zusammen den Kommunionsunterricht erhalten, die erste Stunde habe bei uns zuhause stattgefunden. Ich kann mich an nichts erinnern. Die Dritte lacht: „Ach, der Sohn von …! Sag ihm einen Gruß, wir haben zusammen Musik gemacht.“

Zwei Frauen tuscheln noch, tauschen eine Erinnerung aus oder eine soziale Relation, als der Yogakurs eigentlich bereits begonnen hat. An der Stirnseite des Raums hängt mittig ein Kruzifix, auf der gegenüberliegenden Seite tickt eine Uhr. Beides irritiert mich, beides gehört für mich nicht dazu: Yoga unter dem Gekreuzigten und ein Gemeinderaum im Zeichen des Kreuzes für einen, der alle Bindungen zur Frömmigkeit seines Kindheitsumfeldes längst hinter sich gelassen hat. Und das Ticken eines Sekundenzeigers war mir schon immer zuwider, dieses unablässige, mechanische Herabzählen unserer Lebenszeit, dieser geistlose Takt, der keinen Augenblick der Ruhe zulässt. Ich folge meinem Atem und vergesse bald die Uhr, nicht aber den Gedanken: Alle wissen sie etwas über mich. Und ich nichts über sie.

Später sitze ich noch einmal im Auto. Ein scharfer Ostwind treibt den Schnee über das Landsträßchen. Weiße Zungen schieben sich über die Fahrbahn, gierig darauf, jeden bekannten Weg auszulöschen in einer unbeschriebenen Wüste. Ich drücke das Gaspedal und suche mir eine Spur in dieser verwirrenden Welt.