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Waldrand, frei von Angst

Der Wind heute wieder aus Ost, frisch, aber nicht mehr eisig. In den Lärchen raschelt es, als steige ein großes Tier durch die Bäume, ein Geist des Waldes vielleicht. Unter den Füßen knirschen die gespreizten Fichtenzapfen, sie flüstern von Feuer und Glut. Ein Holunderbusch zeigt eine erste Ahnung von Blattansatz, spielt den Herold der kommenden Wochen. Am Himmel die euklidische Geometrie eines Milans, unten die ausschwärmenden Bienen, ihr Summen übertönt das Rauschen in den Zweigen, und lautlos zwei Zitronenfalter zwischen ihnen, Blüten gleich in diesem Tanz.

Nur ich bin Mensch an diesem Waldrand. Wenn ich weitergehe, wird Covid-19 hier kein Begriff sein, und schon jetzt ist die Welle der Angst – das Ranking nationaler Infiziertenraten, die Katastrophensucht der Live-Blogs auf den Zeitungsseiten, das digitale Trommelfeuer – etwas Unwirkliches, Blasses irgendwo jenseits der Hügel.

Unter dem First

Gleich versinkt die Sonne hinter Eschen und Fichten. Es ist nach einem grässlichen Morgen noch richtig schön geworden, nur mein Herz ist nervös, weil mit zu viel Druck durch den Tag und den Abend und immer weiter, als gäbe es auch jetzt, als die Sonne untergeht, kein Ruhen.

Die Mücken attackieren seit ein paar Nächten fleißig. Was ist gegen sie auszurichten? Gleich werden sie wieder ausschwärmen aus den Schatten mit ihrem dünnen, spitzen Summen. Wie viel entzückender das Zwitschern der Schwalben auf ihren letzten Runden! Als wäre die Schöpfung nichts als Schönheit. Ich muss an Piran denken an der slowenischen Küste, es dürfte die gleiche Jahreszeit gewesen sein, nur so viel heißer und reicher.

Eine Esche noch wirft den orangen Glanz zurück, die Sonne selbst sehe ich nicht mehr. Ein frischer Hauch zieht von den Wiesen herauf, er lässt frösteln, die Gräser sind bestimmt schon feucht. Ich sehne mich nach Hitze, nach Glut. Eine Hornisse brummt unter dem First.

Esche_Sonnenuntergang_Sonne_Allgäu

 

Gezeitenwechsel

Nach Wochen, ungezählt, in kurzer Bekleidung, den beringten Zeh nackt ins Licht gestreckt, wenn nicht in Stiefel gebettet in felsiger Höhe, gestern noch in den südlichen Alpen geschwitzt, sehe ich heute eine Wolke, wenn ich ausatme in die herbstliche Kühle. Die Jacke ist bis zum Kinn hochgezogen, Regentropfen akupunktieren das Gesicht, Wind schmerzt am Ohr.

Ich schaue hinein in den dunklen Forst, aus dem eben der Greif gellend entwichen, und ich spüre den rauen, moosigen Atem des Wilden Mannes. Dann trete ich in den Tann, ins Reich der Frösche, des Geheimnisses verwesender Vögel und bebender Rehe, und lächle.

Kwa heri

Wir verabschieden uns von ihm dort, wo von der Straße aus der Weg aus roter Erde in den Bananenwald hineinführt, unter den mächtigen Bäumen, die in den Himmel zu streben begonnen hatten, als sein Urgroßvater hier lebte, ein großer Krieger in jener Zeit, als die Deutschen das Land unterwarfen. Damals wurde unter diesen Bäumen den Göttern gehuldigt, jetzt versammelt uns die Ordensschwester zu einem Abschiedssegen.

Wir stellen uns in einen Kreis, zehn Hände auf den Schultern des Nachbarn. Wind raschelt in den Bananenblättern. Die Ordensschwester dankt für unsere Begegnung, bittet um die Kraft, dass wir unsere Wege in eine vielleicht bessere Welt weitergehen, dass die Liebe und die Achtung zwischen uns bewahrt bleibe.

Dann verabschieden wir uns von ihm, ich spüre, wie sich das Brillenetui in seiner Hemdtasche gegen meine Brust drückt und ich ihn, den ich erst seit wenigen Tagen persönlich kenne, vermissen werde. Seinen unerschöpflichen Humor. Seine Gelassenheit. Seine zutiefst afrikanischen Ausrufe „ah-haaa!“, „ihhhhh!“, „ehhhhh!“. Seine Gabe, zwischen Sprachen, Kulturen, Interessen klug übersetzen zu können. Seine Entschlossenheit, in einer Zeit, als er sich bereits auf den Hof seiner Vorväter – ihre Gebeine liegen zwischen den Bananenbäumen und Kaffeesträuchern – zurückgezogen hat, nochmals einzusetzen für das langjährige, nun schwankende Projekt, von dem doch die Menschen, die Böden, die Umwelt profitieren.

Ich erwarte nicht, dass wir uns noch einmal wiedersehen werden. Als wir ihn zwischen den Bäumen zurücklassen, steige ich ganz hinten im Auto ein. Ich möchte nicht, dass, während zuerst er zwischen den im Wind schwankenden Blättern verschwindet, dann die heiligen Bäume, schließlich die rote Erde Afrikas zurückbleiben, jemand meine Tränen sieht.

Kambium am Heuchelberg

Wann immer möglich, versuche ich eine Reise mit einer Wanderung zu verbinden.

Vereinzelt Schauer, meldete der Wetterbericht. Als ich mich aus dem Haus schleiche, in dem ich übernachtet habe, fallen ein paar Schneeflocken. Ich hatte zwei Freunde für die Wanderung gewinnen können, und in der Morgenkälte eines Novembersonntags treffen wir uns in irgendeinem Vorort von Heilbronn. Menschen gibt es hier kaum, nur stille Häuser. Vom Ausschreiten erhoffen wir uns warme Glieder. Die Zunge hingegen wärmt sich von selbst beim Wiedersehen mit den Freunden aus meinen Stuttgarter Jahren, teure neue Freunde damals in einer Zeit, in der ich bei Null angefangen hatte in der Kesselstadt.

Die schnurgerade Teerstraße führt uns hinaus aus dem Ort und hinüber zum Heuchelberg, einem niedrigen Höhenzug, der feucht im Morgentrüben liegt, kaum Lockung in dieser Jahreszeit. Der Ackerboden links und rechts klumpt in schweren Brocken. Zuckerrüben türmen sich, derbe Früchte zwischen kalten Wasserlachen und umgepflügter Erde. Der Wind ist schneidend. Ich denke an einen anderen November zwischen den Gräben von Verdun.

Die Morgensonne bricht durch eine Wolkenlücke, ihr fremdes Licht legt sich schwer auf ein Feld mit einer Zwischenfrucht. Biographisch haben wir uns wechselseitig auf den neuesten Stand gebracht, wir wechseln zu Themen, zu denen wir alle gerne etwas beitragen: alternative Modelle in der Landwirtschaft, Nischen in der Rockmusik.

Nach den ersten Kilometern über Asphalt wechseln wir auf schlammige Wege. „Das erinnert mich an die Zeiten, als wir als Kinder bei solchem Wetter über die Äcker sind und der Matsch gefühlt kiloweise an den Schuhen kleben blieb. Das war geil. Und gab dann immer einen Anschiss von der Mutter. Verständlich.“ Der Chemiker lacht, Vater und Sohn zugleich, und der Gärtnermeister pflückt an einem Weiher ein paar Hagebutten und saugt ihr Mark. Wir blicken auf das trübe Wasser, Erinnerungen an Horrorfilme, die ich nie gesehen habe, wechseln hin und her.

Zwischen Weinbergen ersteigen wir den Heuchelberg und dann gleich den Wartturm an seiner Schulter. Im späten Mittelalter war der Turm als württembergischer Grenzposten errichtet worden, nur ein paar Jahre, ehe die Grafschaft den Aufstieg zum Herzogtum vollzog. Ein paar Jahrhunderte lang überschaute der Turm die Nordgrenze Württembergs, bis diese in einer deutschen Flurbereinigung von Napoleons Gnaden noch ein bisschen weiter nach Norden geschoben wurde.

Und das dort im Süden, ist das der Stromberg, über den ich einmal an einem anderen Spätherbst gewandert bin? Keiner weiß es, gewiss ist uns nur der Dampf über Neckarwestheim. AKW statt Höhenzüge als Landschaftsmerkmale des modernen Menschen.

Und dann endlich hinein in den Wald. Blätter und Nadeln in den Farben des sterbenden Herbstes – leuchtendes Rotbraun der Buchen, mattes Braun der Eichen, Gelb von Ahorn und Lärche, an den Bäumen das dunkle Grün von Fichte und Kiefer. Tiere sehen und hören wir nicht, nur Menschen: Spaziergänger, Jogger, Mountainbiker.

„Wisst ihr, dass das Kambium der Bäume essbar ist?“, fragt der Gärtner. Er zieht sein Taschenmesser aus der Tasche und schneidet an dem kürzlich gefällten Baum die Rinde ab, dann ein paar Späne der darunter liegenden Schicht. Wir kosten, was wir bis dahin nicht kannten. Es erinnert vage an ungesüßten Kaugummi – herb und zäh und ein bisschen frisch. Wir hoffen, uns nie einen Winter lang davon ernähren zu müssen.

Am Saum einer Wiese zehrt der Wind an uns. Immerhin bleiben die Niederschläge aus. An den Drei Eichen ein Zögern, Wege in alle nur denkbaren Richtungen. „Im Dschungel ist das Problem, einen Weg zu finden. In diesem Wald hier haben wir genau das gegenteilige Problem.“

Einer bückt sich nach einem Eichenblatt. Eine Kugel in Grün und Rot klebt an ihr. Was ist das? Das Taschenmesser schneidet die Kugel entzwei, eine klebrige Substanz, eingebettet in ihr ein Wurm. Die nächste Kugel das gleiche Bild, der Pfad ist voll mit ihnen. „Galläpfel“, murmelt jemand. Ein Rest Zweifel aber bleibt und nährt augenblicklich die immer hungrige Fantasie. Witze über die Saat außerirdischer Lebensformen fallen. Was wir nicht kennen, ordnen wir sogleich einer Sphäre des Äußerstfernen, des Übernatürlichen zu. Wir Menschen sind doch angstbesetzte Wesen. Und ich male mir aus, während wir auf dem Waldweg durch lichtes Gehölz wandern, wie es wäre, käme nun ein Wesen, uns weit überlegen, und würde einen von uns ergreifen und knacken, das Innere betrachten, ihn wegwerfen, den nächsten nehmen und sinnend prüfen …

Zwischen zwei Waldeshöhen setzen wir uns zu einer Rast. „Ich stehe jeden Morgen gerne auf. Weil ich mich aufs Essen freue“, begeistert sich der Gärtner und packt Leckereien aus, öffnet eine Dose Hummus. – „Ich hatte Kichererbsen übrig.“ „Das ist mir noch nie passiert“, entgegnet der Chemiker trocken. – Verteilt dann selbstgebackene Schnecken. Ich verbrenne mich am heißen Tee, gleich darauf ergeht es meinem Gegenüber ebenso. „Die evolutionäre Entwicklung hat es noch nicht über den Tisch hinweg geschafft“, kommentiert der Dritte.

Eine Stunde später geht es über Schichten von Laub auf schmierigem Untergrund nach Eppingen hinab, eine lange Rutschpartie kurz vor unserem Ziel. Jenseits des Waldes dann die Anonymität von Neubausiedlungen, ein Friedhof, Industriehallen. Die Bahn fährt uns vor der Nase ab, jäh setzt der Regen ein, die Füße sind müde. Ein Rentnercafé, auf der entleerten Straße ein paar gegen die Kleinstadttristesse anlärmende Jugendliche. Selbst die hübschen Altstadtfassaden tragen Trauer. Wir sind, als wir uns später voneinander verabschieden, trotzdem glücklich.

Im Abenddunkel dann Schneefall, ein hypnotischer Wirbel im Licht der Scheinwerfer, während die Kurve der Autobahn nicht mehr zu enden scheint, der Abstand zu den Rücklichtern gleich bleibt, die Krümmung der Straße gleich bleibt, der Tanz der Flocken gleich bleibt, und alle Zeit, alle Bewegung aufgehoben wird.

*

Danke an D. und S. und alle anderen.

Das Eisengeländer der Brücke ist niedergebogen …

Das Eisengeländer der Brücke über den Bach ist niedergebogen. Tatsächlich nieder-, also von oben herab gebogen. Ich kann mir nicht recht vorstellen, was das verursacht haben könnte.

Das Plätschern zwischen dem sprießenden Holunder kommt nicht an gegen den Verkehrslärm. Eine Straße zieht sich durch den Wald, irgendwo auf dem Land und trotzdem eilen unablässig Menschen hin und her über den Asphalt. Krähen krächzen über den noch blattlosen Eschen. Der Wind lässt mich am Kopf frösteln nach dem Haarschnitt am Morgen. Blühender Löwenzahn zwischen Waldflecken. Eine windschiefe Hütte, das Dach eingesunken, lädt zum Fotografieren ein, die Belichtung habe ich falsch eingestellt, werde ich später feststellen. Auf dem Feldweg ein Zigarettenfilter, gelb auch er, doch dunkler als die Blüten, fast orange. Die Kippe stört mich, und trotzdem fehlt mir auf der Flur der Faktor Mensch. Immer nur Worte über den gleichen kreisenden Flug von Bussard und Habicht, über dieselbe Stille der Bäume? Ein Falke habe sich, erzählte die Mutter beim Mittagessen auf den spitzen Schrei eines Vogels hin, auf einem der Bäume heimisch zu machen versucht und abends glitt ein Schleiereulenpärchen am Haus vorbei. Das sind nicht die immer gleichen Erscheinungen.

Weshalb mein Bauch rumort, begreife ich nicht, noch weniger als die gebogene Eisenstange an der Brücke. Übrigens auch nicht die anderen Symptome des Vorabends und am wenigsten jene quälende Fiebernacht ohne Fieber. Medizin war mir der sonnige Morgen, die Fahrt in die Stadt für einige Erledigungen, die sich angesammelt hatten, die wunderbaren Menschen, die ich in der Stadt und vor allem natürlich auf dem Wochenmarkt getroffen habe. Umarmungen, Lächeln, Gelächter. Hände, die sich berühren hier und da, ein fester Griff, Finger streichen über einen Handrücken.

Auf einer Wiese, auf der der Löwenzahn schon besonders hoch steht, hängt das Gras in Wirbeln nieder, als sei es niedergedrückt vom Schnee, der vor ein paar Tagen dort gefallen war. Bald wird der erste Schnitt erfolgen – zu früh für Insekten und besonders die Bienen und immer früher. Ein kurzes Stück geht es über Teer, dann über einen bereits bekannten Weg eine leichte Steigung in den Wald hinauf. Auf der Kuppe wiegen sich die Bäume im Wind: Birken, silbrig raschelnd, lindgrün ihre kleinen Blätter, eine einzelne, beinahe solitär stehende Lärche, nur in der Krone benadelt, darunter ein langer, langer astloser Stamm, ein paar Kiefern in ihrem Umfeld. Bäume, die ich nicht kenne, denke ich mir, spare ich in meinen Schilderungen aus. Verfälschung von Welt, denke ich mir, wenngleich selbstredend alles nur Auswahl ist, Welt als Interpretation. Meinen Horizont erweitern als Aufgabe, mehr Bäume erkennen für einen weiteren Interpretationsspielraum, denke ich mir.

Vorbei an der Stelle, wo ich vor einer Woche zum Pinkeln zwischen die jungen Fichten getreten war. Wäre ich ein Hund, könnte ich mich selbst noch wittern? Kein Auto, kein Motor ist mehr zu hören, nur das rauschende, raschelnde Wiegen der Bäume. Eine Art von Frieden.

Etwas wie eine riesige Lichtung öffnet sich, gesäumt von den unvermeidlichen Hochsitzen der Jäger entlang des Waldrandes. Ich fühle mich an „The Village“ von Night Shyamalan erinnert, ein Film, der letztendlich nicht lohnenswert war, dessen Wendungen mich nicht überzeugt haben, entschieden weniger als in Shyamalans „The Sixth Sense“. Auf einem der Schwünge des Landes liegen zwei Gehöfte, zusammen tragen sie den schönen Namen Krautenberg. Zerstreute Pferdeäpfel, eine Plane flattert einem angreifenden Tiere gleich, durch den Spalt unter einer Scheunentür sehe ich einen rotweißen Kater lagern, lautlos zieht er sich vor mir in die Dunkelheit zurück.

Am nächsten Waldrand weitet sich der Blick zurück, nach Osten hin liegt Terrain, das ich bereits einmal durchschritten habe auf meiner schleichenden Vermessung der Welt. Ich fühle mich schwach, die Schwäche geht von meinem Bauch aus, Müdigkeit, ich begreife mich nicht. Ein halb versunkener Flurstein am Waldesrand, die Abdrücke von Hufeisen im Schlamm, vor einem Baum türmte jemand Steine aufeinander zu einem Steinmännchen wie im Gebirge. Hinter einer Kurve fällt der Weg ab und der Blick hinüber auf die Buschlkapelle ist Überraschung. Immer und immer wieder dieses ungläubige Staunen, wenn sich durch die Bewegung im Raum die Dingen anders zueinander verhalten, als es eben noch so sicher schien. Jeder Schritt konfrontiert uns mit einer neuen Sicht auf den Zusammenhang aller Dinge, und deshalb ist Sichbewegen so unverzichtbar, denn nichts ist so beständig, wie wir denken.

Das begreife ich und setze meinen Weg fort.

Wald_Holz_Unterallgäu_Wandern

Es apert

„Wie still es ist“, sage ich zu meinem syrischen Begleiter, als wir das Dorf durchschreiten. „Ja“, bestätigt er nachdenklich. „Nirgendwo hört man Kinder.“

Daran denke ich, als ich vom Parkplatz an der Kirche aufbreche, das Sträßchen hinauf, und zum Kalvarienberg abbiege. Über Eisplatten geht es an einer Hütte vorbei, auf der Wiese vor dem ersten Stein rostet eine ausgeschlachtete Karosserie. Der Kreuzweg ist von einem greisen Bürger gestiftet worden, Bronzeskulpturen von schlichter Formgebung auf Granitplatten, eingerahmt von kugelförmigen Buchsbäumchen. Die Stationen fügen sich nicht in die Landschaft, sie sind Fremdkörper.

In den Bäumen zwitschern Vögel, endlich, denn wie ungewohnt wenige waren es den Winter über, manche – Kleiber, Dompfaff, Blaumeise – fehlten entgegen der Gewohnheit ganz. Der Wind ist zackig und frisch, aber die Sonne gewinnt an Kraft, erste Knospen rüsten sich zur Lebensexplosion. Eine Ahnung von Ostern mitten im Fasching.

Ein schwarzes Eichhörnchen schreckt empor, es setzt an zum Sprung auf einen Baum und stöbert dann doch weiter auf dem Boden. Der von Buchenblättern beladene Waldweg richtet sich direkt zur Mittagssonne. Auf einem Grat erhebt sich das Kruzifix, zu seinen Füßen eine kleine gemauerte Grotte. Eine Kerze flackert, ein geprägtes Amulett ist in das Hasengitter vor der Nische geflochten. Barfüßig steht die Mutter Gottes auf einem Stein, ein Rosenkranz ist fester Bestandteil der Figur, ein zweiter ist über ihre zum Gebet gefalteten Hände gehängt. Viel hilft viel.

Dahinter erst beginnt wirklich der Wald. Ein hölzerner Wegweiser verweist auf einen Burgstall. Er ist erst noch zu finden. Eine Buche strebt mit allen, teils schon krüppeligen Ästen gen Osten, ihre Westseite ist nackt. Der Pfad schlängelt sich über Wurzeln auf den Hügel. Hier war im schneefreien Dezember meine Großmutter mitgegangen auf dem Weg zu einer Krippenausstellung, ein Freund aus Stuttgart war zu Besuch, ein Teil der Verwandtschaft, ein schwarzer Hund. Zwischen rauschenden Fichten öffnet sich der Pfad bald auf eine Wiese, eine sanfte Hügelkuppe, fast ganz umgeben von Wald. Das Gras am Rand des Forstes ist winterblond und verblichen. Baumwurzeln ziehen sich meterweit in die Wiese hinein, monströsen Adern gleich, kaum verborgen von Erdreich und Gras.

Ein Stückchen Waldweg zwischen jungem Nadelgehölz, im Schnee nur noch Rehspuren, nicht mehr von Mensch und Hund, dann geht es schon wieder hinaus auf die Wiese, und nach Süden, wo das Rund des Waldes eine Lücke lässt, erheben sich die Alpengipfel. Widderstein und Großer Daumen rahmen das Blickfeld ein, mit jedem Schritt verschiebt sich die Perspektive, erst taucht das ebenmäßige Dreieck des Hochvogels auf, daraufhin das wuchtige Gaishorn, dann die Tannheimer, schließlich Säuling, Zugspitze, dann bin ich wieder im Wald. Früher trugen diese Namen kaum Bedeutung, mir waren die Berge gleichgültig. Ich habe sie erst in jüngerer Vergangenheit wirklich wahrzunehmen begonnen. Und jede Höhe, die man besteigt, offenbart nun eine Zahl neuer Ziele.

Vor mir sind sie wieder, flüchtiges Menschenwerk im knirschenden Schnee, die Tritte von Spaziergängern und ihrer Hunde. Ovale sind ausgestanzt, wo Pferdehufe den Grund hochgewirbelt haben. Zwischen den Stämmen ist kaum mehr Weiß, hier regiert ein kräftiges Grün: Teppiche aus Heidelbeersträuchern, an den Stämmen Moos. Jägerstände am Wegrand und eine Futterstelle für die Rehe, die blaue Tonne umgeworfen.

Als mir das Schwirren des Windrads zu mächtig wird, drehe ich ab, in einen sanft abfallenden Taleinschnitt hinein. An der Südflanke des Waldes reiht sich eine ganze Batterie von Bienenkästen, die Luft ist erfüllt von warmem Summen, ein Versprechen goldener Zeiten. Weiter unten zerrt der Wind an den Haaren, seltenere Bäume haben sich hier ihr Plätzchen erobert, braune Lärchen etwa. Ein kurzer Hohlweg, ein holzgetäfertes Künstlerhaus mit Galerie. Oben am Hang eine wild gebliebene Reihe von Bäumen vor dem tiefenHimmelsblau. Die Südhänge atmen Licht.

Ich schlage mich querfeldein, über apernde Hänge, verzaubert von der bald erwachenden Landschaft, steige über Schmelzwasserbäche und Stacheldrahtzäune, quere den leeren Sportplatz, nur durch die hohen Gitterwände an den Kopfseiten als solcher erkennbar, und dann bin ich wieder im Dorf, wieder ein Stückchen reicher.

apern (südd., schweiz., österr. für schneefrei werden). Ich gestehe, ich kannte das Wort nicht aus meiner Kindheit, sondern habe es mir über die Literatur (Franz Hohler, Spaziergänge) neu angeeignet. Heimat lernen.

Allgäu_Gehen_Winter_Februar