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Das ist Leben

Als ich aussteige, weht mir ein Gluthauch um die bloßen Beine. Wind zeigt sich auf unserem Hügel als häufiger Gast, aber heiß ist er hier oben kaum je einmal. Vielleicht gibt es einen solchen in manchen Jahren gar nicht, zumindest vermisse ich ihn in meiner Erinnerung. Er weht immer woanders. Ich breite die Arme aus und begrüße die Glut.

Auf unserem Halbtagesausflug ins Außerfern heften wir uns an eine Kolonne von Mannschaftswägen der Polizei. Den ganzen Tag über brausen Transporter aus NRW und Hessen und sonst woher hinein in die Alpen, hinüber nach Österreich. Wahrscheinlich sind es Hunderte Fahrzeuge der bundesdeutschen Polizei, die da über die Grenze fahren und einen Halbkreis von 50 Kilometern durch Tirol ziehen, um ein bisschen Fahrtzeit zu sparen auf dem Weg zu Schloss Elms, der G7-Gipfel macht’s möglich. Es ist absurd.

Unser Ziel ist sehr viel greifbarer: ein mehr oder weniger versteckter Bergbach, wenn auch in Zeiten des Internets nicht wirklich ein Geheimtipp mehr, der nur über ein Betriebsgelände zu erreichen ist. Wir schreiten durch das klare Wasser, tragen die Kinder über ausgewaschene Felsen und durch sprudelnde Becken hindurch immer tiefer in die Schlucht hinein bis zum tosenden Wasserfall. Das Licht macht alles überdeutlich präsent: den Himmel, die wiegenden Bäume weit über uns, die steinernen Wände, jeden einzelnen Kiesel und verschmilzt schließlich mit der Reinheit des Bergwassers, glüht auf in der Gischt, versinkt als Smaragdgrün in der Tiefe. Ich lege mich hinein in diesen Rausch und spüre: Ich bin.

Nach der Begrüßung des Windes ist der Entschluss gefasst. Ich entkleide mich und gehe mit dem Kind hinüber in den Garten, aus dem wir ernten dürfen. Nackt bestaunen wir die Pflanzen, ziehen Pak Choi aus dem Hügelbeet, zupfen Blätter vom Salat. Später werden wir in der Küche den Tofu schneiden, Gewürze mörsern, den Duft des Reises schnuppern. Das ist Leben, denke ich mir.

Der Tanz im Formarinsee

Ist er nun blau oder grün, dieser Schmelzwassersee im Lechquellengebirge? Der Himmel spiegelt sich in ihm. Der Fels. Die Bergwiesen und Latschenkieferngesträuche. Wir steigen nackt ins Wasser, es ist so kalt, dass nur rasche Züge hinein in seine Tiefe vor der Aufgabe retten. Die Steine am Grund sind selbst dort noch zu sehen, wo die Zehen den Boden nicht mehr erreichen. Von der Sonne gekrönt, heiligen Lichtbahnen unsere Schatten.

Wir kreisen umeinander, immer und immer wieder, mal erstrahlen Augen grün, dann blau. Küsse über der Wasserlinie, ein Sichfinden an der Grenze des Ertrinkens. Dann Flucht: Blau bricht das Wasser auf um ihren Leib. Dann Pirsch: Grün bleibt ungekräuselt, wohin ich, augenverankert, ihr folge.

Als auch die Küsse die Kälte nicht mehr abhalten, schwimmen wir in den Uferbereich zurück, die Füße suchen einen Stand im schlammigen Grund, wir umarmen uns, halten uns, schwankend wie Bambus im Wind, bis die Fischlein an unseren Beinen knabbern. Dann entsteigen wir, auf die warmen Felsen hinauf, dem Wasser, und ich weiß schon nicht mehr, war es blau oder grün.

Formarinsee_Alpen_Lechquellengebirge_Bergsee_Vorarlberg

Reich

Einer in Feuerwehruniform rennt die schmale Straße herab, er kommt zu spät von seinem Hof. Unten im Dorf sammeln sich bereits Trachten und Ehrenuniformen und Paradesäbel für die katholische Prozession. Später rollt der Donner der Fronleichnamsböller über den Bregenzer Wald. Da sind wir bereits 1000 Meter höher in einer anderen Welt.

Die Kühe tragen Hörner, das ist das Erste, was aufällt. Sie dürfen noch ihre in ihnen angelegte Form verkörpern. Wie verkrüppelt und unvollkommen eine enthornte Kuh aussieht, wird einem erst wieder bewusst, wenn man diese Tiere auf einer Alpe oder einem Demeter-Hof in ihrer eigentlichen Erscheinung sieht. Das Zweite ist die Zäunung. Nicht auf ein Feld gebannt hat der Bauer die Tiere, sondern seinen Weiler zum Mittelpunkt des Weidelandes gemacht. Zwischen den Höfen stehen, schlendern die Rinder, grast ein Kalb. Dieser Schönheit können auch die Kuhfladen vor der Haustüre nichts anhaben.

Schwül lastet die Luft an diesem letzten Maientag auf uns. Im Wald ist es noch kühl, der Steig rutschig, und trotzdem drückend feucht. Schweiß kostet jeder Höhenmeter. Als wir aus dem Wald treten, zwischen letzten Schneeresten, werden Luft, Auge, Herz leichter, lichter. Der Blick weitet sich in alle Richtungen: Bodensee, Alpenvorland, Allgäuer Alpen, Vorarlberg, Säntis. Tief in den Bergen nur Wolken, Fels und Schnee. Wir haben gut daran getan, uns am Rand zu halten. Über den Kamm ziehen wir in Schwüngen nach Westen, zur Rechten des Grates fallen die Höhen steil ab, nach Süden schwingt sich die grasbewachsene Flanke ins Tal. Die Wiesen ein Blütenmeer: Rote Lichtnelke und Bergbaldrian, blauer und gelber Enzian, Ehrenpreis in Blasslila und das Hellblau des Vergissmeinnicht, Weißer Hahnenfuß und gelbe Alpen-Kuhschelle. Wie entsetzlich trist die Wiesen zuhause, von vielfacher Mahd verödet – grüne Wüste.

Fast ist es Neid, was die Flasche Bio-Radler weckt, die einer aus dem Rucksack zieht. „Ich hatte mir auch überlegt, ein Bier mitzunehmen“, kommentiert unser Wahlschweizer. „Und du wolltest dich nicht outen?“ „Ich dachte, ich nehme lieber Gras mit.“

Besser als jedes Radler schmeckt unten auf der Alpe das Glas Rohmilch: urwüchsig, satt und fett. Das Risiko von Krankheitskeimen kümmert mich in diesem Augenblick nicht, denn so gut schmeckt Milch nirgends mehr. Arm, wer diesen Geschmack nicht kennt, sinne ich über dem leeren Glas. Und wie viele Jahre lang hatte ich als Kind, als Jugendlicher bei den Nachbarn die Milch geholt und die Kanne auf dem Heimweg bereits angesetzt und war nie krank geworden?

Über der Nagelfluhkette zwei Täler weiter Gewitterwolken und dann Blitz und Donner. „Mama, los! Mama, auf, es regnet!“, schreit ein nicht mehr kleiner Junge fast panisch vom Spielplatz her und wir können nicht anders als zu lachen. Das Gewitter ist weit und Regen ist wahrlich nicht das, was er zu fürchten hätte.

Später dann hinunter in die bewaldete Schlucht, über eine überdachte Balkenbrücke und an ihrer Flanke hinab an den Bergfluss. Ein Gumpen zwischen den rundgeschliffenen Steinen, er ist groß genug, dass wir alle zusammen ins Wasser steigen, sogar einige Züge schwimmen können. Das Wasser ist erstaunlich warm. Ein paar Tage zuvor tauchte ich in den Bergbach drüben an der Nagelfluhkette und zählte die Sekunden – eins, zwei, drei -, die ich die fürchterliche Kälte ertrug, bis ich mich wieder aus dem Bachbett erhob, brennend vor Kälte und mein Leib ein einziger Lebensschrei, so dicht, so echt, so wahrhaftig.

Bei jeder Bergwanderung in ein Gewässer zu steigen, das habe ich mir vorgenommen für dieses Jahr. Denn ich will reicher sein.

Winterstaude_Bregenzer Wald_Alpen_Wanderung_Berge