Ein Satz Berlin

Von Alt-Treptow hinein nach Mitte spaziert, benommen noch und mit plötzlich doch wieder schmerzhaft reibenden Waldviertlerschuhen, verunsichert vorbei an den schwarzen Dealern im Görlitzer Park, Boten einer anderen Welt, jenseits wieder auf die Straße, gleich nach dem zersprungenen Waschbecken auf dem Trottoir das Werbeschild vom Allgäuer Büblebier, das ist doch pervers, schreibe ich einem Cousin zuhause im Voralpenland, Dr. Oetkers Liebling, antwortet er, bald wird es das in Australien geben, über den Lausitzer Platz hinüber mit der roten Emmauskirche, gleich Bethanien, ob wohl Kloster, Schule oder gar Gefängnis, irgendwie, wollte eigentlich in einem kleinen Café in einer der Altbaustraßen frühstücken und habe die Gelegenheit dann doch verpasst, vorbei am Heinrich-Heine-Forum mit Aldi Nord, wo ist deine feinsinnige Kultur hin, o Deutschland, und dann die Wohnsiedlungen an der St. Michael-Kirche mit ihrem orientalisierenden Dach, oder auch umgekehrt, das weiß ich nicht mehr, jedenfalls ein ganz anderes Berlin mit der Annenstraße, Denn’s und Alnatura immerhin, sonst aber auch nichts, und dann plötzlich, früher als erwartet, auf der Museumsinsel, den Kopf gereckt zu den Baugerüsten um das Berliner Schloss, als könnte ich nicht glauben, wie hoch und weitläufig dieses Gitterwerk aus Fluchten und Treppen ist, das Neue Museum noch zu, hat sich eigentlich eine Kultur mit einer ganzen Museumsinsel nicht bereits überlebt, frage ich mich, vorbei an der Theologischen Fakultät, wo ein Seminar stattfindet hinter Glasscheiben, als wäre es ein Versuchsfeld, ein Studienobjekt vor den Augen der Passanten, ein Blick auf über Gott spekulierende Säugetiere in schwarzen Rollkragenpullovern, und daneben die Buchhandlung Walther König, deren Auslagen voller Geist und Ästhetik und Buchkunst mich schwindeln lässt – „War Rugs. The Nightmare of Modernism“ über afghanische Teppichmuster, in denen die Kampfflugzeuge und Helikopter Eingang gefunden haben zweier imperialer Mächte, die das Leben auf den Kopf gestellt haben; Erling Kagge, „Gehen. Weitergehen. Eine Anleitung“; „The Psychology of an Art Writer“; Charles Taylor, „Das sprachbegabte Tier“; „A Thirst for Empire. How Tea Shaped the Modern World“ -, da ist ein Rauschen im Kopf und Speichelfluss im Mund angesichts der Bücher, ich rette mich hinfort, und dann trinke ich meinen Cappuccino doch am Hackescher Markt wie irgend so ein Tourist.

33 Gedanken zu „Ein Satz Berlin

  1. wolkenbeobachterin

    kommt mir alles so bekannt vor. 🙂 hast du das alles zu fuß gemacht? das nächste mal darfst du dich gern melden wegen frühstückscafés und so weiter. vielleicht kann ich ja behilflich sein. 🙂 schön zu wissen dich, hier in der stadt gehabt zu haben. vielleicht sind wir uns ja sogar über den weg gelaufen, denn da, wo du warst, war ich auch. 🙂 liebe grüße aus der hauptstadt!

    Like

    Antwort
    1. zeilentiger Autor

      Das ist ja witzig! Morgen wäre tatsächlich nochmals Gelegenheit zu einem Frühstückskaffee. Am späteren Vormittag habe ich dann einen Termin in Mitte. Wenn du willst, melde dich gern über die E-Mail in meinem Impressum. Einen schönen Abend!

      Gefällt 1 Person

      Antwort
      1. wolkenbeobachterin

        oh! du bist noch da?! ja, das wär ja schön! ich bin erst unterwegs, weiß noch nicht, wie lang das dauert, wenn es zeitlich passt, dann schreibe ich dir. 🙂 dir ebenfalls einen schönen abend! gute erholung den füßen 🙂

        Like

  2. Bludgeon

    „Berlin du hinkst! Angeschossen an deiner Krücke! Geier zerreißen dich; Verwesung dein Gerippe!“ (Ideal 1981; noch bevor sie umswitschten zu „Ich fühl mich gut, ich steh auf Berlin“)

    Ich fühl mich auch meist ganz gut, solange ich NICHT nach Berlin muss. Warum denn ausgerechnet Berölin? Hattest du Idyllenüberdruss?

    Like

    Antwort
    1. zeilentiger Autor

      Netter Text. Und ja, da sagst du was. Vielleicht war’s Idyllenüberdruss. Mal wieder den dreckigen Asphalt der Wirklichkeit riechen. Dreifache Beschleunigung spüren. Kultur-Biotope in jeder Mauerritze. Zwischen fremden Sprachen frühstücken.

      Gefällt 1 Person

      Antwort
      1. Bludgeon

        „Berlin du kotzt mich an und ich frag mich wie lang man in deinem Dreck noch leben kann“, war der Refrain. Ich vermute mal, der Song müsste „Berlin du kotzt mich an“ heißen. Ich hatte ihn auf Band, weil der NDR mit dem Rias anlässlich der Funkausstellung 81 oder 82 kooperierte. Auf den offiziellen Ideal LPs ist er nicht.

        Like

  3. Herr Ärmel

    „Deine Straßen, wo ich fliehe, stolper und fall,
    deine Wärme, die ich brauch, die ich spüre überall.

    Verkauf dich nicht,
    Berlin,
    jung bist du nicht,
    du alterst so schnell,
    buckelst zu sehr,
    trägst an den Geldern der Freier so schwer.
    Die werden gehn,
    dich sterben sehn,
    Berlin,
    Geliebte Berlin.

    Deine Ecken und Winkel, deine Höfe ungezählt,
    wo der Dreck und die Armut
    nach Veränderung bellt,
    dein Rausch am Morgen
    riecht nach Haschisch und Bier,
    und Rotz fällt gelassen auf Gassen von dir.
    Deine Märkte, die Weiber, ihre Ruhe, ihre List
    und manchmal ein Witz,
    der mich in den Magen trifft….“ (Klaus Hoffmann – Berlin)

    Ich bin froh, wieder einmal etwas von Ihnen gelesen zu haben. Der Asphaltcowboy hat seinen V-8er längst stehen gelassen und geht schnurstracks vorwärts, die Sinnesportale weit geöffnet, wahrnehmend bis die Absätze seiner Stiefel leicht schief geschlurft sind und er am Ende des Tages an einer Theke ausruht, ohne Ruhe zu finden, bei einem Cappuccino.

    Gefällt 1 Person

    Antwort
  4. wildgans

    So ein Kleiststurmsatz von sprachlicher Fragilschönheit!
    Die Naturwanderbeschreibungen mit Ortsrandkontakten gefallen mir ebenso. Mal sehen, wann es wieder damit klappt!?

    Like

    Antwort

Hinterlasse einen Kommentar