An der Höll

Ein Blick durchs Dachfenster, ein Ziel erfassen. Die Tür fällt unten ins Schloss, Beine schreiten aus.

Manches an dem Weg ist mir bis aufs Äußerste vertraut, anderes neu oder ganz vergessen: der geteerte Radweg parallel zur Straße, die ich überquere; der Schwung des Weges am Waldrand, der das Ziel nochmals vor dem Blick verbirgt.

Entlang der Brombeerranken, an denen wir Kinder uns die Beine aufgekratzt haben, schreite ich in die Höll, einer rechteckigen Wiese, auf drei Seiten von Wald umgeben, wo einst die Pferde grasten oder ein Volleyballnetz aufgespannt wurde und Freunde meiner Eltern aus den Weilern und Dörfern so oft zum Spielen kamen oder wir Bumerangs warfen, die unser Vater gebaut hatte, und zwischen zwei flachen Händen wieder aus der Luft griffen. Zwei der Wurfhölzer waren schwerer als alle anderen, das eine gelb, das andere rot lackiert, vor ihnen hatte ich Angst.

Ein Fuchs harrt in Lauer auf dem Feld. Er bemerkt mich nicht. Damals wäre ich nervös geworden, ich hätte gezögert, vielleicht wären meine Schritte erstorben. Wildtollwut war eine reale Gefahr und noch lange nicht ausgerottet. In meinen Träumen wurde der tollwütige Fuchs zum Sinnbild der erwachenden, verwirrenden Kräfte des Heranwachsenden. Heute müsste sich mein Unterbewusstsein ganz andere Bilder suchen. Ein paar Schritte kann ich noch machen, bis das Tier mich registriert und sich zur Flucht wendet, den rötlichen Leib und den dunklen Schwanz gestreckt, als ginge es um sein Leben.

Ich hatte es immer gewusst und trotzdem stehe ich erschrocken vor der Höll. Die Wiese meiner Kindheit ist nicht mehr, sie ist ausgelöscht. An ihrer Stelle ragen Bäume in die Höhe, haushoch bereits und eng gepflanzt, der Untergrund ist düster und von moderndem Laub bedeckt. Etwas drückt auf meine Brust. Tautropfen lösen sich von den Buchen und Fichten. Sie stürzen hinab, in die Tiefe, wie die Augenblicke, Tage und Jahre meiner vergänglichen Existenz.

4 Gedanken zu „An der Höll

  1. autopict

    Da schau ich mal was los ist, und dann ein solch toller Artikel, den man nicht kommentieren müsste, er steht für sich. Aber dennoch: nichts bleibt wie es ist, Veränderungen muss man hinnehmen, akzeptieren, wie auch immer. Schön der Gegensatz, der vielleicht scheinbare: der Verhaltensabgleich nach der Fuchsbegegnung kann akzeptiert werden, der Abgleich der Erinnerung der Höll erschreckt.
    Dir einen schönen Sonntag.

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    1. zeilentiger Autor

      Ja, dieses Hin- und Annehmen ist zu lernen, immer wieder … Ganz herzlichen Dank und bitte entschuldige die späte Reaktion. Die letzten Tage war ich wenig online. Dir ein schönes Wochenende!

      Gefällt 1 Person

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  2. Trixie

    …akzeptieren lernen, ablegen lernen… loslassen lernen… Immer wieder dieses Loslassen.
    PS. Sorry für diesen so späten Kommentar…

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