Burning Chrome

„So fühlt man sich gehalten, durch was, was man selber nicht ist, auch nicht alleine machen könnte, nicht irgendwie herstellen könnte nur so für sich, was einen als einen weit überschreitet: die schöne Aktion sozialer Systeme.“ (Rainald Goetz, Rave)

Was ist denn eigentlich dieses Oberammergau? Was ist es unter dieser Maske, dieser Oberfläche aus touristischer Infrastruktur, die den ganzen Ort überzieht? Das frage ich mich, als ich in einem Eiscafé einen Cappuccino trinke nach der zähen Fahrt. Ich hebe den Blick, tiefe Wolken wehren ihn ab. Immerhin regnet es nicht, denke ich mir, nur auf der Höhe von Schongau hatte es kurz geregnet, dort wo mir der Weg unbekannt wurde. Könnte ich sicher sein, dass es abends nicht gefriert, denke ich mir und rühre den Milchschaum unter den Espresso, dann könnte ich später über Tirol und den Plansee zurückfahren. Aber bei diesem Wetter kurz vor Winter will ich kein Wagnis. Am Vortag überquerten wir den Schwarzwald bei Schneefall.

Toni lässt sich ächzend nieder, das Alter und sein Gewicht setzen ihm zu. Er faltet eine Zeitung auseinander, gibt seine Bestellung auf und kommentiert: „Dia Grünen wer’n immer blöder.“ Jetzt wollen sie schon Dieselmotoren verbieten. Salomonisch verweist der Wirt auf die Blödheit aller Politiker. Draußen sinken die Temperaturen, schwindet das Licht, die Berghänge verblassen. Ich bestelle ebenfalls ein Eis.

Die Windschutzscheibe war voller Marderspuren und ich machte mir Sorgen, aber das Fahrzeug läuft, als ich erst nach Osten und dann nach Süden fahre, um in Oberammergau einen Menschen zu treffen, den ich bisher nur übers Bloggen kannte. A. ist gerade aus Berlin auf Heimatbesuch, die Gelegenheit wollen wir nutzen. Beinahe hätten wir schon einmal in Charlottenburg ein Buch getauscht, aber jemand war schneller gewesen. Auf der Fahrt höre ich eine Hörspielfassung von „Träumen Roboter von elektrischen Schafen“ und dann höre ich Cyberpunkgeschichten von William Gibson. In Luftlinie sieht es nicht sehr weit aus, von einem Hügel zuhause hinüber Richtung Zugspitze und da ein bisschen davor. Die Fahrt aber zieht sich.

Ich bezahle und gehe die Straße hinauf zwischen Hotels und Restaurants und Sportgeschäften mit ihren hölzernen Voralpenfassaden. Im Kinocafé trefen wir uns, es hat neu aufgemacht. Schlechtes Karma, meint A., der Besitzer wechselt oft. Sehr bald sprechen wir über W.G. Sebald, unser beider Held, wenn man so will und ein guter Ausgangspunkt. Thomas Bernhard ist immer dabei, das geht ja auch gar nicht anders. Herrndorfs Nachlassroman „Bilder deiner Liebe“ hat mich sehr enttäuscht, sage ich, weil er zu nichts führt, nirgendwohin. „Wenn er so schreibt, dann schreibt er eben so“, sagt A. mit seinem bairischen Schlag über Knausgard, den er nicht gelesen hat. Wir essen einen georgischen Happen, an der Wand hängt die Fahne des Kaukasusstaates. Die Menschen, die ins Café oder das Kino gehen, sagen alle „Griasd eich“ und die Frau des Wirtes ist Konzertpianistin und hat einen jungen Schüler aus Leipzig zu Besuch, die Familie ist eigens hierhergefahren. Ich notiere mir: Rainald Goetz, Robert Walser, Alexander Kluge („nervt manchmal“). Wir treten vor die Tür für eine Zigarette. A. raucht, ich nicht. Der Mann aus Leipzig ist auch da.

Im Dunkeln dann zurück, mir graust es, denn ich fahre nicht gern im Dunkeln. Ich höre Gibsons „Burning Chrome“ weiter und als die CD durch ist, lasse ich sie einfach von vorne laufen. Mir ist es, als flöge ich blind durch die Nacht und trotzdem drängen andere Autos immer noch hinter mir. Zum zweiten Mal höre ich den Tanz von razor girl Molly auf dem „Killing Floor“ gegen den Yakuzamörder mit seiner Monofilamentpeitsche, höre die Erinnerungen des Gejagten aus seinem Schlafsarg im New Rose Hotel, über dem der Hubschrauber knattert.

Dann bin ich zuhause. Alles fühlt sich unwirklich an. In den Ohren rauscht es und ich suche die Koordinaten meiner Selbst.

10 Gedanken zu „Burning Chrome

  1. Ulli

    „und ich suche die Koordinaten meiner Selbst.“ So geht es mir auch immer nach längeren Fahrten, besonders dann, wenn ich sie mit einem Hörbuch oder Musik „verkürzt“ habe und ja Walser nervt manchmal, endlich spricht es mal Einer aus, danke auch dafür und liebe Grüsse
    Ulli

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      1. zeilentiger Autor

        Eigentlich meinte A. den Kluge. Dass der Robert ebenfalls nerven kann, glaube ich gern. Der Martin sicher auch, obschon die wenigen Bücher, die ich von ihm gelesen habe, mir alle gefallen haben. 😉

        Gefällt 2 Personen

  2. Herr Ärmel

    Ich hoffe, Sie haben Ihre Koordinaten wie am Kompass des Lebens ausgerichtet. Oder eingenordet, ganz wie es Ihnen beliebt.
    Ich fahre auch zunehmend weniger gern im Dunkeln. Ihren musikalischen Hinweisen werde ich folgen, irgendetwas zieht mich da.
    Nachmittagsblauhimmeldämmergruss,
    Herr Ärmel

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    1. zeilentiger Autor

      Danke für Ihren Nachmittagsblauhimmeldämmergruß. Die Ausrichtung wird feinjustiert. Abendschwarzhimmelgruß mit Ali Farka Touré und Toumani Diabaté, Ihr Zeilentiger

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      1. Herr Ärmel

        Feine Musik!
        Und hier im Blumenparadies erklingen: Kasbah Rockers with Bill Laswell – Untitled (2008)
        Ärmelprädikat sehr hörenswert

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      2. zeilentiger Autor

        Sie wissen, wen Sie bitte ganz herzlich grüßen! Ihrem Musiktipp werde ich unbedingt folgen. Derweil: Al Jarreau. Auch schön.

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  3. Graugans

    Lieber Tiger…ich kann nicht so ganz folgen, wer da jetzt eigentlich wen nervt, macht nix…klar ist, daß der A. Kluge nerven muß, bei Genies geht das glaub ich nicht anders! Wie schön, daß du den A. aus Berlin getroffen hast, ich wart ja sehr drauf, daß er wieder weiterschreibt…
    Aber letztendlich ist es eh egal, wen Du triffst, ich lese einfach so gerne, wie Du das gelebte Leben dann verdichtest und zu Poesie machst…eine Freude ist das! Liebe Grüße

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