Fährten

Im flachen Uferwasser tummeln sich die Kaulquappen, eine Handbreit tiefer dürfte der Moorsee noch unwirtlich kalt sein. Menschen schwimmen noch nicht darin. Nur auf der Wiese liegen ein paar: Radfahrer bei ihrer Rast, drüben FKKler, denn der Weiher ist eines der wenigen Gewässer in der Region, an dem Nacktbaden geduldet wird seit altersher und immer noch, denn unsere Gesellschaft wird ja prüder.

Ich ziehe meine Hand aus dem Wasser und richte mich auf. Das Kind zappelt vor Freude auf meinem Rücken, es brabbelt ein bisschen vor sich hin, versucht über meine Schulter zu schauen, hat die Augen überall. Es ist gerne draußen. Wenn wir morgens als Erstes an den Gartenrand treten, ist sein Blick vollste Aufmerksamkeit – ganz wach und offen gegenüber den Phänomenen der Welt, den Farben der Blumen, dem Gesang der Vögel, dem Wogen der Zweige. Das registriere ich aus müden, von Furchen umrahmten Augen.

Von hier oben, am Eschacher Weiher, liegt einem das halbe Allgäu zu Füßen, und der Blick reicht frei über die Voralpen hin zu den noch weiß geschmückten Gipfeln. Ein Wölkchen ist als Zier in das Blau über den Bergen gesetzt. Neben blühendem Weißdorn machen wir Rast, ein abgeschiedenes Tal unter uns, Grillen singen, ein frischer Ostwind wütet im Haar, ansonsten Licht.

Interessant wird es, wo wir in den Abgrund hineinblicken, an dem wir stehen, sagte die kluge Graugans zu meinem letzten Eintrag. Wenn wir den Fragen nachgehen, sie erwandern, während wir Fuß vor Fuß setzen, und uns nicht nach ein paar streunenden Stunden abwenden, zurück in den Kreis der Familie. Ich stimme ihr vollkommen zu. Und so ließe sich auch aus den wenigen Beschreibungen und Gedanken der vorausgegangenen Absätze – ich lese die Zeilen noch einmal – etwas erwandern. Spuren sind da. Ich müsste ihnen nur folgen, unbeirrt ihrer Fährte folgen und wohin käme ich dann: Da ist Altern. Da sind Angst, Unfreiheit, Einsamkeit. Welche Düfte!

Aber diese Wanderungen gehören hier nicht hin, sie suchen einen anderen Ort.

Als wir über einen Pfad blühende Wiesen queren, fährt die Hand der Tochter immer wieder über meinen Arm. Es ist, als würde sie mich zärtlich streicheln. Das ist eine Form des Glücks.

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Am Trauf – Eine Wanderung

Das Schönste ist der Gesang der Grillen. Ich liebe den Sommer und ich liebe ganz besonders dieses Zirpen der Insekten, diesen Sound des Sommers. Oben auf den grünen Hügeln des Allgäus höre ich sie nicht. Es mag zu kühl sein, viel mehr noch wird es der Mangel an Lebensraum sein, der sie schweigen lässt. Die industrialisierte Grünlandwirtschaft lässt ihnen wenig Spielraum.

Zwei Autostunden Anfahrt sind ein großer Einsatz für eine Tageswanderung. Der Weg auf die Schwäbische Alb lohnt sich erst dadurch, dass ich mich mit einem Freund aus alten Tagen verabredet habe. An einem Parkplatz, an dem ich einmal eine Etappe beendet hatte, treffen wir uns, und da macht auch der kühle Morgenhimmel endlich auf und lässt etwas Sonne durch. Unser Weg aus dem Städtchen gleich eher einer Flucht. Es ist der Drang des Wanderers, die Zivilisation mit ihrem Asphalt, ihrem Motorenrauschen zu entgehen. Es ist auch der Wunsch, die Coronamasken hinter uns zu lassen. Was noch treibt uns an, frage ich mich im Stillen. Die Frage wird mich in den nächsten Stunden begleiten. Denn etwas hat sich verändert, wird mir klar.

Der Nordrand der Schwäbischen Alb ist oft schroff. Steil fallen die bewaldeten Hänge ab, immer wieder durchbricht Kalkfelsen das Grün. Über Dutzende von Kilometern verlaufen Waldpfade direkt am Albtrauf: gen Norden hin der Absturz, nach Süden hin hinter Bäumen und Büschen eine Ahnung der Hochebene, von Feldern, Äckern, Dörfern, und unter den Füßen Erdreich, Steine, Wurzelwerk, weiches Buchenlaub vom Vorjahr. Man kann Stunden so gehen, ohne zu ermüden, ohne sich zu langweilen. Gehen als Meditation.

Hier oben zwischen Bad Urach und Schloss Lichtenstein reihen sich Güter aneinander. Stolze, alte Pferdehöfe, das lauschige Schafhaus auf der Eninger Weide, der Stahlecker Hof mit seinen urtümlichen, weiten, baumbestandenen Weiden, Yaks grasen hier zwischen dem Bruchholz, Ziegen steigen über Astwerk und Stämme, die nächste Wiese ein Blütenmeer. Man könnte Wurzeln schlagen hier und schauen und schauen, denn so schön sieht man Viehhaltung selten.

Das lässt das Staubecken mit seinen dunklen Ahnungen vergessen, das wir eine Stunde oder so zuvor passiert haben. Drahtgitter, ein gigantisches Rund aus Beton, Warnschilder, drunten dann undurchdringliches Wasser und ein Rumpeln. „Ich weiß, ich habe zu viel The Walking Dead gesehen“, meint mein Begleiter. „Dort wäre es ganz klar, was das Rumpeln ist: ein paar Hundert Zombies, die da irgendwann hineingeraten sind. Man möchte gleich schneller gehen und leise sein dabei.“ Es rumpelt wieder, als wir den nächsten Pfad in den Wald einschlagen, und eine Weile sehe ich Untote hinter dem Gebüsch, ist die Welt reduziert auf das, was man bei sich trägt auf ewiger Flucht.

Nachmittags beginnen die Schmerzen. Für uns ist es beide mehr oder weniger Saisonstart, und da sind 26 oder 28 Kilometer kein Pappenstiel. Eine Ferse schabt am Schuh, die Füße ermüden, die Leiste und die Hüften melden sich, dann auch das Knie. Das Knie, das ist schlecht. Das sollte nicht sein, alles andere ist erwartbar. Unser Gespräch ist schon lange erebbt, wir passieren auf unserem Traufpfad eine aussichtsreiche Felsnadel nach der anderen, fallen in ein Marschdelirium, in dem alles verschwimmt, abfällt.

Freiheit? Nein, eine Frage bleibt, Kilometer für Kilometer: Warum mache ich das hier? Was war früher meine Motivation dafür und warum ist sie schwächer geworden, denn sonst würde ich mir diese Frage nicht stellen? Die Vermessung der Welt durch den eigenen Fußgang hat an Wertigkeit verloren. Zuerst war es mir Flucht, dann Anreiz für eine besondere Form der Welterschließung, auch Weltverbindung. Jetzt zieht es mich zurück in einen engeren, viel engeren Kreis. Ja, der Radius verengt sich mit Familie. Das Ausschreiten, das Streunen, die Verlockung des Horizonts, sie gehören in eine andere Lebensphase.

Und doch war es gut, diesen Weg heute gegangen zu sein. Darüber sind wir uns einig und denken eine gemeinsame Vater-Kind-Wanderung an. Glücklich mache ich mich auf den Heimweg, lasse das warme Land mit seinen Grillen und Buchenwäldern und Schafsweiden und weichen Dialekt zurück, rolle nach Süden, Süden, Süden, jubel schließlich auf, als ich endlich die Alpen vor mir sehe, wie ich es immer ganz unwillkürlich tue, und kehre nach Hause zurück.

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Andererseits

Es wäre schön, all die Namen der Pflanzen zu wissen, die da draußen gerade blühen, andererseits.

Genau einen Monat ist der letzte Beitrag auf diesem Blog alt, ist da viel passiert in diesem Monat, denke ich mir und will WordPress schon wieder schließen, andererseits.

Die Nacht eine der ermüdendsten, seit wir zu dritt sind, die Moral sowieso bereits darnieder – Ein-Tages-Midlifecrisis, wer es unbedingt gelabelt haben mag, das geht auch wieder vorbei –, in der Ahnung des Morgens wurde ich hinausgeworfen, um auf dem Lager vor dem Bücherregal noch ein wenig Ruhe zu finden, sprich: Energie für den Arbeitstag, aber das hat dann auch nichts mehr gebracht und dann noch der Shitstorm, wo ich doch vor meiner Abwesenheit noch manches zu klären hätte, andererseits.

Also Flucht aus dem Büro, ans Tischchen im Garten, Struktur schaffen, ganze Seiten fülle ich mit Aufgaben, die wir in der Wohnung in den nächsten Wochen noch erledigen wollen, Stare teilen kreischend das Blau über mir, schöner als jedes X-Wing-Geschwader, aber die TIE-Jäger haben mir eh immer besser gefallen, Schwärme von Staren also und selbst die Eschen stehen inzwischen grün, wenn auch noch nicht alle in ihrer Krone voll, und dann noch eine Seite und einen Kaffee und danach eine Romesco-Soße gemacht, extra viel Nüsse, dafür kein Knoblauch, ihr zuliebe, und zum ersten Mal Scamorza-Käse und mit Pilzen und Spargel aufs Brot und dann der Tag eigentlich auch schon wieder rum.

Andererseits.

 

Plopp

Nichts macht mir so Lust auf Bier wie Bücherkisten zu schleppen. Einmal habe ich die ganze Bücherwand allein 5 1/2 Stockwerke nach unten getragen, um niemanden damit belästigen zu müssen. Selbst ist der Mann und so. Ich hatte die Anzahl der Stufen ausgerechnet, ich weiß sie nicht mehr, ich weiß nur noch, dass mir Bier vielleicht nie so gut geschmeckt hat wie an jenem Tag. Jetzt sind es weniger Stufen und auf viel mehr Tage verteilt, aber das Bier schmeckt wieder, alkoholfrei, nach langer Zeit, in der ich ihm gar nichts abgewinnen konnte, und dazu die warmen Tage, wie ein früher Sommer, ich liebe diese Sonne, sauge sie auf, lege mich nackt zwischen die blühenden Bäume, mit einer Zeituhr, weil die Haut ja noch so blass, und dazu eine Trockenheit, die gibt es hierzulande eigentlich gar nicht und erst recht nicht um diese Jahreszeit, wo es doch dauernd an den Alpenrändern herunterschüttet, aber vom Gefühl her einfach geil, auch wenn da etwas in mir flüstert: Das ist nicht gut und bitte, bitte regne doch auch zwischendurch mal, aber die Sonne nehme ich trotzdem mit und bin wie aufgeladen nach einem halben Jahr auf Notstrom, strotzend, nachglühend, könnte gerade einfach immer weiterschleppen und dann noch ein Bier und dann ist der Kasten schon leer und das Regal immer noch nicht. Morgen dann Regen, sagt der Wetterbericht.

Waldrand, frei von Angst

Der Wind heute wieder aus Ost, frisch, aber nicht mehr eisig. In den Lärchen raschelt es, als steige ein großes Tier durch die Bäume, ein Geist des Waldes vielleicht. Unter den Füßen knirschen die gespreizten Fichtenzapfen, sie flüstern von Feuer und Glut. Ein Holunderbusch zeigt eine erste Ahnung von Blattansatz, spielt den Herold der kommenden Wochen. Am Himmel die euklidische Geometrie eines Milans, unten die ausschwärmenden Bienen, ihr Summen übertönt das Rauschen in den Zweigen, und lautlos zwei Zitronenfalter zwischen ihnen, Blüten gleich in diesem Tanz.

Nur ich bin Mensch an diesem Waldrand. Wenn ich weitergehe, wird Covid-19 hier kein Begriff sein, und schon jetzt ist die Welle der Angst – das Ranking nationaler Infiziertenraten, die Katastrophensucht der Live-Blogs auf den Zeitungsseiten, das digitale Trommelfeuer – etwas Unwirkliches, Blasses irgendwo jenseits der Hügel.

Passierschein

Mittags spaziere ich zum Pestfriedhof. Das war eine andere Nummer: Letalität von 95%. Vögel singen in den noch unbelaubten Bäumen, Blumen treiben aus dem Boden, die Sonne wärmt. Menschen sehe ich nicht. Immer bin ich allein an diesem Ort.

Das war gestern und da lag bereits greifbar in der Luft, was heute verkündet wurde. Der Ministerpräsident verhängt Ausgangsbeschränkungen im ganzen Bundesland. Kolleginnen rationalisieren: Sie hatten ja gesagt, sie müssten zu weiteren Mitteln greifen, wenn sich die Menschen nicht an die ausgegebenen Regeln halten. Ich bin, nicht unwidersprochen, anderer Meinung. Für mich war das Drehbuch längst geschrieben. Verabreicht wird die Medizin dann häppchenweise, so schluckt der Patient sie williger.

Im Windschatten beginne ich zu schwitzen, nur der bemooste Stein unter mir ist noch kalt. Eine Ameise krabbelt über mein Knie. Ich stehe auf und kehre zurück ins Büro. Jeden Tag werden wir weniger. Verdachtsquarantäne als Kontakt zweiten oder dritten Grades, die Entwarnung dann nach Tagen; verrinnende Aufgaben, Unterauslastung, wie der Firmengründer es nennt; Aushilfe in überlasteten Abteilungen, erst dort, dann ein paar weitere drüben. Am Abend weiß niemand: Werde ich die anderen am nächsten Morgen wiedersehen? Darf ich selbst wieder an meinen Schreibtisch?

Es ist ein bisschen Ferienlagerstimmung: überreizt und zugleich nicht ernst zu nehmen – als sei alles ein Spiel, gespielt mit schrillem Gelächter. In den Weidenkätzchen summen schon die Bienen.

Heute also die Nachricht, die Geschäftsführerin verkündet sie eine halbe Stunde später über den Lautsprecher, sie muss sich selbst dabei erst finden, so unbekannt ist ihr die Situation. Der Freitagnachmittagsrest unseres Teams teilt sich auf, den übrigen ihre ‚Passierscheine‘ zukommen lassen. Auf dem Heimweg werfe ich die Schreiben in ein paar Briefkästen, die Alpengipfel verschluckt, der Himmel düster. Wäre es Sommer, wehte gewiss Staub über die einsamen Straßen.

Zuhause feiern wir ein bisschen Nauruz, das persische Frühlingsfest mit seinen uralten Wurzeln, Tag-und-Nacht-Gleiche. Es beginnt für mich das gute halbe Jahr, das nicht so gute halbe liegt nun zurück. Das gefärbte Ei ist mir misslungen, die Schale zersprungen, die Rote Bete hat kaum abgefärbt, aber dafür, dass ich auch noch nie ein Osterei gefärbt habe, soll es mir recht sein. Köstlich dafür der persische Kräuterreis mit seiner Kruste und dazu das letzte, wirklich allerletzte Glas Chutney aus dem vorletzten Herbst, als ich in der Flut der Früchte Abende lang eingekocht hatte: Äpfel, Birnen, Quitten und immer wieder Äpfel, voller Gewürze und wurzelweise Ingwer.

Zu Nauruz legen die Zoroastrier und Parsen ihre heiligen Schriften auf den Tisch, die Muslime den Koran, Christen die Bibel. Und wer es nicht ganz so mit der Religion hat, einen Lyrikband. Im Iran von Hafis, dem Goethe-verehrten, versteht sich. Da meine Hafis-Ausgabe nur ein Reclamheftchen ist, gesellt sich ein zweiter Gedichtband hinzu: „Mein Europa“ – ich will den Glauben daran nicht verlieren – von Michael Krüger, dem Verlagsleiter von Hanser einst. Wir waren im Herbst auf seiner Lesung in der Provinzstadt, die Tochter ein paar Wochen alt, ihre erste Dichterlesung und friedlich eingehüllt in ihrem Tragetuch, es war wunderschön, und wunderschön auch die Widmung Michael Krügers an die jüngste Zuhörerin des Abends. Dann greife ich ein drittes Mal ins Regal und ziehe die Gedichte von Nietzsche heraus. Dieser a-moralisierende Querdenker kann nicht schaden in diesen Tagen. Die Tochter isst zum ersten Mal Reis. Ich könnte ihr Stunden zuschauen, wie sie Lebensmittel erkundet, ertastet, erschmeckt, so voller Ja zum Leben.

Später nochmals online. Die Zeitung voll mit Kriegsmetaphern und ich verstehe nicht, wieso.

Meinen täglich Kümmel gib mir heute

Noch nicht einmal angefangen, muss ich mich schon erklären: Mir geht es nicht um den echten oder Wiesenkümmel, den ich nicht besonders schätze, und erst recht nicht um einen Schnaps, den ich noch viel weniger leiden mag, sondern um den Kreuzkümmel. Den liebe ich außerordentlich. Daran ist schon zu erkennen, wie gefährlich es ist, beide Gewürze zu verwechseln oder durch nachlässigen Sprachgebrauch auch nur Raum zu öffnen für eine Verwechslung durch Dritte – ein Verhalten, das regelmäßig meine Entrüstung zur Folge hat. Und trotzdem mache ich genau das hier. Kümmel passt einfach besser in den Rhythmus der Überschrift.

Seit Wochen also ist kein Bio-Kreuzkümmel mehr zu bekommen, nicht von Lebensbaum, nicht von Sonnentor, auch nicht von Brecht im Reformhaus, wohin ich mich selten verirre. Ich rüste mich, möglichen Mehrfachrückständen von Pestiziden zum Trotz, konventionell angebauten Kreuzkümmel zu kaufen, allein, auch daran scheitere ich kläglich. Der Asiashop hat den ganzen Monat über geschlossen, das Besitzerpaar wohl in Thailand, einen indischen Lebensmittelhändler, wie ich ihn in Stuttgart gerne besucht habe, gibt es in der Provinzstadt nicht, und für den türkischen Supermarkt habe ich keine Zeit mehr. Meine Unruhe wächst. Mangelangst, Verknappungsnot, Belagerungsmentalität.

Ich erzähle vom Kreuzkümmel, um nicht vom Coronavirus zu schreiben. Der mit dem Erreger verbundenen Überrepräsentanz in unseren Medien und unseren Köpfen will ich nämlich keinen Vorschub leisten oder anders gesagt, mich nicht auch noch der Maschinerie der Angst in die Arme werfen. Was ja nicht heißen soll, dass der Virus harmlos wäre, nein. Aber …

Ach, ich wollte doch genau das nicht tun. Seit heute jedenfalls kenne ich Menschen, die sich deswegen in häuslicher Quarantäne befinden. Man darf gespannt sein.

Kreuzkümmel habe ich dann doch noch gefunden. Bio, ganzer Samen, online bestellt, meiner Frau sei Dank.

Flug durch Gewitterwolken

Verfüge ganz über deine Stunde, sagte sie, und ich weiß nicht, was zu tun. Denn nichts von dem, was ich eigentlich so gern getan hätte in meinem Freiraum, hat irgendeine Bedeutung – seines Sinns entkleidet, zernichtet von Müdigkeit. Dann reicht es immerhin noch dafür, ein paar Stücke von Kenny Wheeler anzuhören. Es rührt mich, welch weichen Klang er dem Blech entlockt. Meine Augen nässen sich. Das passiert mir schnell bei Musik, mir ist es unangenehm, vor Zeugen allemal, ich sollte das gar nicht erst erwähnen. Ich könnte die Trompete wieder einmal herausnehmen, denke ich mir, aber ich müsste ganz unten anfangen. Einen Ton halten, einfach nur halten. Statt brüchig zu zittern um die gedachte Tonhöhe herum, zu flattern wie ein Jungvogel bei seinen ersten Flugversuchen.

Aber der hat noch Kraft.

Ist so zielstrebig, so unermüdlich, so unfassbar gierig in seiner Weltaneignung. Wie das Kind, das lernt und lernt und abends dann nicht mehr einzuschlafen weiß, weil es so übervoll ist, weil in den neu geschaffenen Nervenbahnen womöglich Gewitter wüten, als sei das Loslassen körperlicher Schmerz, Kind, wie du dich wehrst so voll von Welt und Selbsterfahrung.

Ich will nur sinken, sinken, sinken.

Mehr Licht

… und dann war es der lichteste Tag des Jahres, alles erstrahlte in unbegreiflicher Klarheit, schon morgens in der eiskalten Luft war das abzusehen, die Alpengipfel zeichneten sich scharf gegen den Himmel ab, und später alles voll des Lichts, als sei die Welt in Licht neugeboren an diesem Februartag, nachdem doch bereits der Januar den heimischen Photovoltaikanlagen Rekordwerte eingebracht hatte, Kilowattstunden wie ein Sommermonat, erzählte auf der Mittagsrunde ein väterlicher Kollege.

Selbst die Klammer des Kopfschmerzes, die so viele im Griff hatte an diesem strahlenden Tag – bald schon wieder Vollmond, haben wir etwa Föhn, ach den Nacken verlegen – lockerte sich. Da befreite aber auch das offene Gespräch, das An- und Aussprechen in dem kurzerhand vorgeschlagenen Termin, An- und Aussprechen ja sowieso immer empfehlenswert, nichts hilft uns weiter als Klarheit in der Kommunikation, klar wie dieser Tag.

Und das Licht ist selbst im Sinken der Sonne noch Fülle.

Leipzig, abends

„Ich habe noch eine Fälschung bestellt“, sagte er, als wir die Holztreppe hinunterstiegen. „Einen impressionistischen Akt. Der feine Hals, den ich so reizvoll finde, ist aber nicht gut getroffen, das nimmt den ganzen Zauber.“ Fünf Stockwerke gehen wir über saubere, alte Holzstufen hinab, anschließend durch einen Park hindurch, den ein Industrieller für seine Tochter angelegt hatte. Was für eine Zeit, in der eine Privatperson so etwas tun konnte.

Wir suchen eine Gelegenheit zu essen. Bunte Lichter in Hahnenkörben versprechen die Leichtigkeit Balis; im thailändischen Tuk Tuk versinkt die Hoffnung auf Gewürze in goldenem Kitsch; das Beirut ein enger Raum mit Spielautomaten und verlockenden Tellern voller Vorspeisen; dann endlich finden wir Platz in einem japanischen Restaurant. Hier ist kein Raum für Spiel. Alles ist Ordnung, ist strenge Geometrie aus Schwarz und Rot.

Mi-fune, „Drei Schiffe“, bestellen wir und Gemüse-Gyoza, asiatische Maultaschen, der Agedashi ist fritierter Tofu in gebundener Algenbrühe, sämig und mit Sesamöl, ich löffel sie bis auf den Grund aus, die anderen mögen sie nicht, dafür ist die klare Suppe nicht meins. Sie ist fürchterlich klar. Lieber trinke ich ein Glas Wasser.

Dann ein Konzert in einer Kirche, Schallplatten, Wein, Lockung der Nacht.