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Ins Licht

Grau, alles grau, wahrscheinlich über Hunderte von Kilometer hinweg. Über den Alpen aber ein dünner, lichter Streifen, ein Hoffnungsschimmer. Die Richtung ergibt sich also von selbst. Licht lockt nicht nur die Motten, und so machen sich die einen in die Berge auf, um Ski zu fahren oder Schlitten und sich dabei den Knöchel zu brechen auf vereisten Hängen, andere, um ein Stück Blau zu ergattern, an einem Südhang der Voralpen zum Beispiel, der ausreichend schneefrei sein sollte für eine Wanderung, bevor – morgen, übermorgen – wieder Schnee fallen würde.

Einmal auf dem Wege bricht die Wolkendecke auf für einen Augenblick. Ein Strahlenfächer senkt sich vom gleißenden Himmel herab, als offenbarte sich ein Gott aus der Höhe. Später dann Jubel, als der Schleier ein zweites Mal reißt und alle Hoffnung bestätigt: dort oben die grasige Höhe, leuchtend in der Sonne. Als der Fußweg beginnt, ist alles längst wieder begraben. Raureif wuchert auf den Gräsern und Zweigen, streckt seine mineralischen Fühler aus, als würden die Kristalle hineinwachsen in diese Stille des Winters.

Winter_Jungholz_Voralpen

Dichter Schnee erst auf dem Waldweg. Die meisten gehen geradeaus, bleiben auf dem halbwegs freien Asphalt, wo sich gleich hinter der Kuppe eine Alpe zeigen würde. Der Waldweg hingegen macht einen weiten Bogen durch den Tann. Tief waren Wanderer im Schnee eingesunken vor Tagen, die Ränder der Löcher sind hart vereist. In der Zärte des Neuschnees darüber kaum Spuren, da ging nach dem Fall nur ein Mensch mit Hund, groß der Mensch, klein der Hund, Seite an Seite. Das Gehen wird anstrengender, der Harsch aber trägt die meiste Zeit. Ein Glücksgefühl jeder Schritt, der nicht versinkt, gehalten von einer nur halb begreiflichen Macht. Über Wasser gehen für Anfänger.

Fichten liegen dahingeschlachtet von den Winterstürmen, zersplitterte Stümpfe ragen aus dem Forstboden. Die schnell wachsenden Flachwurzler in Monokultur sind leichte Beute für Gefahren: Windwurf, Borkenkäfer, Luftverschmutzung. Mittelfristig – und wo Bäume im Spiel sind, bemisst sich „mittelfristig“ schnell in Jahrzehnten – werfen sie eine höhere Rendite ab. Langfristig würden der Bergwald und alle von ihm abgeleiteten Größen von einem gesunden Mischwald profitieren.

Eisblumen zerbrechen unter den Fingern, ich weiß nicht, ob sich im schmelzenden Eis noch die Essenz einer pflanzlichen Struktur verbirgt oder andere Kräfte die Winterkristalle so formten. Schneewehen, zu tragendem Harsch verbacken, Lichtstrahlen zwischen vermoosten Stämmen, Wipfel in Helligkeit getaucht, dann das Blau wieder verschleiert, verhangen, verschwunden. Auf der spurenreichen Schneepiste ist der Himmel dann vollends frei. Mützen wandern in Jackentaschen, eine Eisfläche noch, dann der Aufstieg zwischen dürrem Gras, der Pfad eine Schlammspur, rutschiger als aller Schnee.

Oben schließlich ganz Licht und Wind und Weite. Gleitschirmsegler stoßen sich ab von der Bindung an die Erdenkruste und schweben hinaus in diese Weite, leuchten auf und verschwinden schon wieder in den Schwaden aus Weiß und Grau, ein Blindflug in die Niederungen der Welt.

Der Abstieg dorthin droht uns allen. Erst aber heißt es sich niederlassen auf Büscheln von Gras zwischen ausgetrocknetem Dung und Kalkgestein. Die Tiefe, sie darf noch ein bisschen warten.

Winter_Reuterwanne_Grünten_Allgäu

Am Klavier

Die Künstlerin am Piano dreht sich dem Publikum zu. „Ich bin ja Grazerin. Und wie nennen Sie sich? Wangerianer?“
„Wangener!“
„Wie, Wan-gener?“
„Nein, Wang-ener!“
„Und was ist hier die nächste größere Stadt?“
Gelächter. Die Musikerin nimmt einen zweiten Anlauf.
„Ist das Schwaben hier?“
„Ja!“ – „Nein!“
Um die Angelegenheit nicht in die Länge zu ziehen, einigt sich das Publikum über ein paar weitere Zwischenrufe auf „Allgäu“.
„Und wohin orientiert man sich hier eher, nach Stuttgart oder München?“
„Stuttgart!“ – „München!“
Konfusion.
„Kommt darauf an. Die Grenze ist nah“, versucht mein Sitznachbar zu klären.
Das Gesicht der Künstlerin hellt sich auf.
„Die nach Österreich?“
„Überall hin“, sage ich.
Das ist ja das Reizvolle. Nichts ganz, immer Möglichkeit. Wer sich hier nicht nach außen verschließt – auch die gibt es, nicht wenige –, ist Brückenbauer. Belächelt von außen und auch von innen, aber was kümmert das die Brücke.

Humor entsteht, wenn Melancholie ironisch gebrochen wird. Und das Publikum lacht viel. Die zarte Frau hat es im Griff. Singt Susana Sawoff, wird ihre Stimme fester und voluminöser. Die Ironie färbt sich in eine Lust an der Verspieltheit. Die Ballade, die zum Disco-Hit, die Ballade, die zum Swing wurde, Anleihen bei Nina Simone und Gospel, Bassist und Schlagzeuger steuern Backing vocals bei. Bei der jazzigen Interpretation eines Stücks von Jeff Buckley glüht der Körper kalt auf in Gänsehaut. Ich schließe die Augen.

„So, und jetzt gehen wir ins Wasser“, witzelt der Nachbar, als auch die zweite Zugabe beendet ist. Es dauert einen Augenblick, bis ich begreife. „Ach, das reicht auch noch das nächste Mal“, antworte ich und wir lachen in Lebenslust.

Die Kurve

Eglofs war für mich immer eine scharfe Doppelkurve, die sich unter dem Auge eines Kirchturms hinabschwang ins Tal. Den Ort selbst hatte ich meines Wissens nie betreten, bis in meine Lebensmitte hinein blieb der Name nur diese Kurve, ein Bild aus Kindheits- und Jugendtagen, als man vor der Öffnung der A 96 noch diese Strecke nahm zum Bodensee oder vielleicht hinüber nach Dornbirn, wo wir eine Kindheitsfreundin meiner Mutter besuchten. Sie schätzte ich besonders, weil sie auf ihren Besuchen – damals noch von ihrem Studienort im Tirol aus – gern und bereitwillig mit uns Kindern spielte, ganz besonders das von mir geliebte Brettspiel mit den Figuren und den weißen Steinen, was meine Eltern selten taten, und auch, weil sie mit der Welt der Bücher in Verbindung stand, die mir Verheißung war und später lange Jahre ja auch eigener Broterwerb, und weiters deshalb, weil sie Geschichte studiert hatte, damals also in Innsbruck, welches ich lange Zeit ebensosehr und ausschließlich mit ihr verbunden hatte, bis einer meiner Onkel dann einige Jahre dort am Theater arbeitete, die Geschichtswissenschaft also, die ich später selbst studieren sollte. Das also war mir die Kurve von Eglofs.

Der Fußweg führte mich halb um die kleine Große Kreisstadt Wangen herum, zuerst zum Friedhof nach Süden, gut besucht an diesen Allerheiligen, an dem Menschen ihren Verstorbenen einen Besuch abstatteten, obwohl Allerseelen ja erst am nächsten Tag sein würde, aber der war eben kein freier Tag, weshalb Allerheiligen für den Friedhofsbesuch genutzt wurde. An den Eingängen schüttelten Männer in Uniform, hinter großen Brillen die Spendenbüchse. Man kannte sich, nur der Wanderer vor der Mauer war fremd.

Jenseits der Stadt, so dachte ich, würde ich innehalten und lauschen, sobald ich kein Motorengeräusch mehr hörte, aber immer blieb das Rauschen von der Bundesstraße wahrnehmbar, und wenn doch einmal nicht, inmitten eines Wäldchens vielleicht, dann zog ausnahmslos ein Linienflugzeug niedrig über den Himmel. Also ging ich eben, ging weiter, gehe weiter ohne innezuhalten, die Jochbeine glühen kalt, die Handschuhe vermisse ich nicht. Anders als die Straßen schweigen die Wälder, wenn nicht gerade eine Amsel Alarm schlägt. Wie eingefroren die Landschaft bereits, im Windstillen schwebt nicht einmal Laub herab. Greifvögel, Katzen beim Mausen, Jungvieh auf den Wiesen vor dem ersten Schnee, sonst kein Tier.

So quere ich also den Bach, der in seinem Namen den meinen mit sich trägt, passiere den ausgewiesenen Kräutergarten, der so stille ist wie die Wälder, komme den Himmelberg herunter und steige zum Schnaidthöfle wieder hoch und bin immerhin ein paar Mal überrascht, wenn ich Wirklichkeit und Karte wieder in Einklang bringen muss, das immerhin bietet der Weg, den ich sonst nicht innigst ans Herz legen würde. Passiere auf dem Kamm zuletzt den Hof, wo wir im Sommer auf der verwandtschaftlichen Radtour Halt gemacht haben, und bin dann, nach drei Stunden Wegs, in Eglofs.

Das Dorfcafé suche ich auf, um einen Studienfreund auf Besuch zu treffen. In der Uni-Mensa haben wir nicht selten zusammen geschwiegen, im Einvernehmen geschwiegen, und das muss man ja auch erst einmal können, gemeinsam im Guten zu schweigen. Später teilten wir in unserem Berufsleben noch einmal für ein paar Jahre eine andere Stadt, aber das letzte Wiedersehen lag auch bereits den zweiten Sommer zurück, ein herrlich strahlender, reifer Tag war es gewesen im Lautertal der Schwäbischen Alb, zwischen Blatt und Licht und der Herrlichkeit des Lauterwassers.

„Mein Kind“, spottet der Freund und deutet auf den Kinderstuhl neben sich, „mein Auto“, winkt er zum Fenster hinaus, „mein Baugrund“, zeigt er mir auf dem Smartphone eine eingeebnete Fläche. „Eine Fliegerbombe war zum Glück nicht drin“, atmet er auf.

„Vielleicht noch ein paar Alemannenknochen?“, ermuntere ich.

„Unwahrscheinlich. Wir sind auf Sandstein gestoßen. Das erhöht die Kosten zwar noch einmal, aber ein alter Alemanne dürfte sich da darunter jedenfalls nicht verstecken.“

Das Dorfcafé füllt sich. „Ausschließlich mit Butter gebacken“, wirbt das Café, vegan ist hier fehl am Platz bei den vielen selbstgebackenen Torten und Kuchen. „Wie zu Großmutters Zeiten“, da würde clean eating durchaus passen, gute Zutaten frisch verarbeitet, aber wer will sich hier schon ein solches Modelabel umbinden? Die Wirtin eine robuste, herzliche Frau, täglich frisch gebackenes Brot, kein Tisch in der Stube mehr frei, das Café läuft. Ein Schatz für ein solches Dorf, denn welches kann denn ein richtiges Café sein eigen nennen, und das noch mit so viel Leidenschaft, Herzblut und soliden Rezepten geführt?

Geschwiegen haben wir am Tische nicht. Für diesen Luxus sehen wir uns inzwischen dann doch zu selten. Ich stecke den Rest meiner Butterseele ein, klopfe dem Freund auf den Rücken und wende mich wieder gen Osten. Die Kurve bin ich nicht hinabgefahren.

Eine ganze Weile irre ich umher …

Eine ganze Weile irre ich umher, bis ich es finde im Hinterland des Städtchens. Nach vorne hin eine bodenständige Gaststätte, liegt mein Ziel versteckt in einem rückseitigen Gebäude. Eine lange, geschwungene Theke, rot bemalte Wände, runde Tischchen zwischen den Schmucksäulen, zugleich unterkühlt und mit einer Ahnung von Kellergeruch, weil sich nur am Freitagabend Menschen in dem sonst toten Raum aufhalten. Es ist Wahrheit und Fiktion zugleich.

Das Schlagzeug setzt ein, der Kontrabass gesellt sich dazu, dann folgen die anderen Instrumente. Die vier Vollblutmusiker sind sich in einer Weltmetropole über den Weg gelaufen waren und standen in dieser Kombination noch nicht zusammen auf der Bühne. Es kümmert sie nicht, sie spielen einfach, finden sich im Musizieren. Und ich fühle mich wie eine Pflanze nach Monaten der Dürre, die beim ersten Regen spürt, was sie die ganze Zeit so sehr vermisst hat. Weit, ganz weit und offen wird meine Brust und ich hätte weinen können vor Glück.

Am nächsten Abend am entgegengesetzten Ende des Allgäus: ein schmuckes, sympathisches Programmkino, ein Espresso, drei Angestellte und vier Gäste im Vorabendprogramm. Wir schauen einen Dokumentarfilm über einen Geiger und es geschieht erneut: Das Ambiente, die geistige Freiheit, „Der Klang des Lebens“ – wieder werde ich ganz weich und ich frage mich, was mache ich da eigentlich zurück im Allgäu, in dieser Ödnis, in der man so weit fahren muss für solche Erlebnisse, für diese kulturelle Nahrung.

Warum, das begreife ich, als ich am Morgen nur zehn Minuten fahren muss, um in einer wunderbaren Landschaft spazieren zu können: Herbstwälder und Moorwiesen, Kühe über grünen Hügeln und Bäche, in deren Klarheit ich am liebsten untertauchen würde. Und noch einmal nachts, als ich empor schaue in das Funkeln der Milchstraße und der Schmerz in meinem Kopf schwindet.

Und morgen – die Berge?

Biberkopf_Allgäuer Alpen_Alpen_Herbst

Totenglocken

„Jetz isch as halt so, bloß andersch.“ Aufschrift in verblasster Fraktur an einem Westallgäuer Bauernhof. Hinter dem Haus geht es sofort hinab in den Bregenzer Wald, ins Vorarlberg.

*

Ich komme vom Berg herunter und aus dem Wald heraus und da lehnt ein Mann an einem Anhänger hinter seinem Haus und raucht und schaut mich an.

„Griaß di“, entscheide ich mich für die offensivste Möglichkeit.

„Servus“, antwortet er.

Als ich ihn bereits passiert habe, sagt er noch etwas. „Ich hätte da eine Bergtour.“

Ich drehe mich um und weiß nicht, was er meint. „Ja, da komme ich runter“, entgegne ich.

„Nein, nicht über den Weg. Sondern dort.“ Er deutet auf die Wiese, die sich steil hochzieht bis zum Wald.

„Ja, aber auf dem Weg war es auch ganz schön.“ Noch immer begreife ich nicht.

Nach einer kurzen Pause ergänzt der Mann: „Ich hätte auch eine Gabel dazu.“

„Ach so!“, lache ich über das Arbeitsangebot. „Das nächste Mal.“

*

Katzenmühle, steht da angeschrieben mit einer Speisekarte und dem Verweis auf eine Schmuggelstube. Der Weg führt hinab in Waldesdickicht entlang eines Bachlaufs, dahinter nur Wipfel und Berghang und mitten in diesem Nirgendwo eine unsichtbare Grenze. Dort will noch etwas anderes sein? Ich schlage den Weg ein.

„Selbstbedienung“ steht da angeschrieben auf einem Schild auf der Terrasse. Ich grüße die kleine Runde am Tisch und gehe hinein, eine Frau schneidet einer anderen die Haare, ich biege ab und unter einem niedrigen Türsturz hindurch. Da ist eine kleine Küche, ein Schauraum mit Kuchen, Kaffeemaschine und Delikatessen, dahinter eine Stube, viel Holz, keine Gäste hier drinnen. Dann stehe ich da und weiß nicht weiter und irgendwann kommt der Mann aus der kleinen Gruppe draußen herein. „Jetzt wollte ich doch mal schauen, ob du zurecht kommst.“

Selbstbedienung ist wirklich ganz wörtlich gemeint, lerne ich. „Schüchtern darf man bei uns nicht sein.“ Also hole ich eine Flasche aus dem Kühlschrank und ein Glas vom Regal, suche den Flaschenöffner und schließlich die Kasse. Die gibt kein Wechselgeld, denn sie ist ein Holzkästchen mit einem Schlitz für Geldeinwurf. Ich habe das Geld nicht passend, es wird mein teuerstes alkoholfreies Weizen, das ich je getrunken habe, aber es tut nicht so sehr weh, denn längst hat die Katzenmühle mein Herz erobert. Ich spaziere hinaus, bewundere das viele Holz, die Heiterkeit der Betreiber, die verwinkelte Galerie, sehe, dass die Katzenmühle auch an manchen Abenden geöffnet hat.

„Pfiat di“, ruft mir der Betreiber fröhlich hinterher, als ich weiterziehe. Ich werde wiederkommen eines Abends und dann, versteht sich, nicht allein.

*

Über einen Graspfad geht es den Hang hinab, dann schwenke ich scharf auf einen Feldweg. Er führt direkt auf ein Dorf zu, auf eine Kirche am Ortsrand, zwei Autos sind in der Wiese geparkt, gegenüber steht ein Bauernhof mit Holz und frischen Farben im Sonnenschein. Und dann läuten auch noch die Glocken.

Eine unerhörte Idylle rückt dem Wanderer näher. Hier ist Deutschland noch in Ordnung, ist da plötzlich in meinem Kopf, und dabei will ich damit weder eine Aussage treffen, dass Deutschland nicht mehr in Ordnung, noch dass es früher je in Ordnung gewesen sei. Es ist nur eine spontane Reaktion auf diese ungeschminkte Schönheit.

Warum aber läuten die Glocken an diesem Nachmittag? Schwarzgekleidete Gestalten auf dem Friedhof belegen meinen Verdacht. Dann, als ich die Kirche passiere und den Bauernhof und den Brunnen, füllen sich die Straßen mit immer mehr Menschen in Trauerfarben. Alle sind sie jung, beinahe alle sind sie elegant und selbstsicher und schön und schlank. Die Autokennzeichen sind aus der Fremde: Stuttgart, München, Starnberg, immer wieder wiederholen sich diese Kennzeichen, da ist kein einheimisches Kennzeichen darunter, so wenig wie ich ältere und alte Menschen sehe, und aus den Autos steigen immer noch mehr junge, elegante Frauen und junge, elegante Männer. Eine Frau lächelt mich an, einer anderen laufen Tränen übers Gesicht, das Gasthaus, in dem ich eine Einkehr erwogen hatte, ist einer geschlossenen Gesellschaft vorbehalten, der Wirt zieht mürrisch an einer Zigarette auf dem Treppenaufgang.

Benommen bewege ich mich gegen diesen schwarzen Strom. Benommen von dem Kontrast dieser ungeheuren Idylle und dem Tod eines offenbar noch jungen Menschen, den Dorfhäusern und all diesen eleganten, erfolgreichen Menschen aus einer anderen Welt. Stuttgart, München, Starnberg in diesem Tal ganz am Ende von Deutschland, und dann bin ich am anderen Ende des Dorfes, steige aus der Flut wieder ans Ufer einer einsamen Gemeinde und hätte so gerne gefragt und wage es doch nicht, hätte gerne gefragt nach dieser Geschichte, die ich da eben hinter mir gelassen habe und nur nach ihr hätte zu greifen brauchen.

Ich setze mich auf eine Bank, neben mir eine Scheune mit der Beschilderung „Reifenwechsel“ und einem Haindlingplakat und einem Plakat einer Vielhundertjahresfeier des Dorfes. Zwei Männer laden aus der Werkstatt Reifen in einen Lieferwagen, sie unterhalten sich angeregt, der eine ist hell und blond und der andere afrikanisch schwarz und ich weiß, dass ich es bereuen werde, nicht nach den Totenglocken gefragt zu haben, und wage es aus Scham doch nicht.

Vielleicht, sinne ich auf der Bank, war da einst ein sehr junger Mann, eine sehr junge Frau ausgezogen aus diesem 800-Seelen-Dorf am äußersten Rande Deutschlands, nur noch eine Siedlung liegt unterhalb im Tal vor der Grenze, das Tal ein Keil, ein Dreieck, dessen beide Schenkel österreichisch sind. Ist also von dort ausgezogen und hat Karriere gemacht in den Landeshauptstädten des Südens und nun als Toter zurückgekehrt in seine einstige Heimat. Ist zurückgekehrt in diese Idylle, die doch zugleich ein Kaff ist, ein Kaff sein muss, immer ein Kaff war und ein Kaff bleiben wird für die Jungen, vielleicht das allerschrecklichste Kaff sogar, einem Gefängnis gleich, und der junge Mensch also ging nach München und Stuttgart, ging in die Wirtschaft vielleicht, machte Karriere, eine Frau oder ein Mann mit Zukunft, lobten vielleicht die Älteren, halb stolz, halb missgünstig auf den Nachwuchs, und am Wochenende tanzten die Jungen und Erfolgreichen in München oder Stuttgart und feierten und die Zukunft ein ausgebreitetes Feld vor ihnen, eine Verheißung, die es zu erobern gilt, ein goldener Apfel am Baum.

Und jetzt liegt dieser Mensch tot da drinnen in dieser schönen Kirche zwischen all den schönen Menschen an diesem schönen Sonnentag und verwest.

Träume von der Tiefe

Es ist wohlfeil, einen oft genannten Aphorismus erneut zu zitieren. Trotzdem denke ich später, als ich die Gipfel längst hinter mir habe, an Friedrich Nietzsches Ausspruch. Die Höhe bietet genügend Fläche, vom Kreuz hierhin und dorthin trennen Schritte vom Sturz hinab. Ich bin wachsam, aber nicht unruhig. Die Angst kommt erst später, nachdem ich Minuten auf dem Gipfel sitze, stehe. Stille, ganz stille sammelt sich der Abgrund um mich an und öffnet etwas in mir. Dem Druck der Tiefe halte ich nicht stand. Fast barsch frage ich: „Gehen wir weiter?“ Den Abgrund trage ich mit mir.

*

Da liegen die anderen also auf der Bergwiese und halten ein Nickerchen. Wir haben den Ponten hinter uns, diesen Berg mit seine ganz und gar unallgäuerisch anmutenden Namen. Pons, pontis spuckt die Erinnerung altes Schulwissen aus, aber warum sollte der Berg nach dem lateinischen Wort für „Brücke“ benannt sein? Später lese ich, dass eine Ableitung von „Bann“ als wahrscheinlich gilt, also ein „gebannter Berg oder Wald“, Holzschlag verwehrt. Vor dem Ponten haben wir den Bschießer überquert, und dessen Name passt ja umso besser ins Allgäu, treffender geht es kaum als ein gedehntes, um nicht zu sagen kuhmäuliges „Bschiaßa“. Die Österreicher übrigens – die Grenze nämlich verläuft über die Höhe – schreiben Bscheisser, was zugegebenermaßen auch nicht übel ist.

Da liegen die anderen also auf der Bergwiese und halten ein Nickerchen. W. auf der Seite, vermutlich schläft sie tatsächlich, ihre Beine jedenfalls zucken, M. auf dem Rücken, die Füße aufgestellt, die Kappe übers Gesicht gezogen, eher Ruhen als Schlafen. Einen kleinen Gipfel haben wir noch vor uns, dann geht es wieder hinab in die Welt des Alltags, und das wollen wir noch hinausschieben, wobei ich sagen muss, ich könnte doch jetzt gleich schon weitergehen, statt ins Büchlein zu schreiben, denn Schlummern, das ist nichts, dann wache ich in der Sonne noch völlig benommen auf, hirnweich und knieweich gleichermaßen.

Schwebfliegen und Schmetterlinge über blühenden Kräutern, ein Kreis von Latschenkiefern, Wind weht, weniger frisch als noch zur Mittagszeit, mild war es wirklich nicht. M. hat sich leise aufgerichtet, wir schauen uns an, überlegen, wer es zuerst ausspricht: Gehen wir weiter?

„Ich habe geträumt“, schreckt W. da auf.

Allgäuer Alpen

In der Nachbarschaft des Ponten

Falscher Adel

Am höchstgelegenen zweigleisigen Bahnhof Deutschlands wechsle ich unter Nieselregen das Gefährt. Es ist doch erstaunlich, welche Superlative sich Menschen aus den Fingern saugen. Der ausgehängte Rekord ändert allerdings nichts daran, dass mich die Bahn in einen schäbigen, ohne Abstriche schäbigen Raum lotst, in dem sich nicht mehr befindet als ein Fahrkartenautomat zwischen Elend und Leere. Wie die Deutsche Bahn ihre Kunden abseits der großen Bahnhöfe behandelt, ist recht besehen eine ungeheure Zumutung. Oder ist das Konzept regionaler Eisenbahn in Wahrheit schon längst bankrott?

Der Sonntagmorgenzug ist erstaunlich voll, über einen Mangel an Fahrgästen kann sich die DB also eigentlich nicht beklagen. Eine Gruppe zierlicher, dunkler Mädchen in strahlendweißen Gewändern ist auf dem Weg zum eritreischen oder äthiopischen Gottesdienst, das Haar hochgetürmt unter einem weißen Schleier. Weiter fahren ein paar Vorarlberger, aus Österreichs westlichstem Bundesland zum Münchener Flughafen. Zwei Stunden sind sie schon unterwegs für gerade mal 100 km Luftlinie, höre ich. Die großflächige Elektrifizierung der Allgäuer Eisenbahn steht eben immer noch aus. „Des kasch gar it usspreche mit langem I“, kommentiert eine aus der Gruppe das Bahnhofsschild von Biessenhofen. Genau das, was ich am Tag zuvor dachte, als ich von Rieggis, ein gutes Stück weiter im Westen des Allgäus, aufbrach zu einem Spaziergang.

Als ich in Kaufbeuren aus dem Zug steige, ist es wieder trocken, der östliche Horizont ist finster, aber dort bin ich ja nicht. Die weißbeschleierten Kirchgängerinnen ziehen kichernd durch den Park, ein junger Mann im Anzug kommt entgegen, er wirft, absichtlich ruppig, sein Rad mitten auf den Weg und betritt den Bahnhof. Das ist wahrlich ein wunderliches Verhalten, das finden die Mädchen ebenso wie ich. Hätte ich den jungen Mann ansprechen sollen?

Antifa-Aufkleber an Laternenmasten, sie sind mir seit den Ausschreitungen während des G20-Gipfels lächerlicher als je zuvor, aber eine Überraschung ist das ja nicht, das wusste George Orwell schon in „Homage to Catalonia“, als er den Republikanern im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Falangisten beistand und bald seine Illusionen begraben musste. Ich darf, ermahne ich mich da, nicht den Fehler begehen, jeden Menschen, der sich mit der Antifa identifziert, mit den Plünderern von Hamburg gleichzusetzen. Aber es bleibt dabei, die Antifa tritt doch immer und immer wieder in einer Geste des Geschreis, der Gewalt, des Hasses auf. Nein, der Widerstand gegen rechtsextremes Treiben muss sich auf anderes gründen, meine ich. Da passiere ich das Mahnmal für ein Außenlager des KZ Dachaus. „Mitläufer. Und du?“, steht da. Das ist wohl einzuüben, jeden Tag aufs Neue, individuell und erst recht gemeinschaftlich.

Ich irre durch Hässlichkeit aus Beton und Asphalt, bis ich die Altstadt finde, die Straßen sind leer, das Stadttheater spielt „Die Vögel“ nach Aristophanes. Als diese Komödie in Athen geschrieben wurde, war Kaufbeuren nicht mehr als ein paar alte hallstattzeitliche Grabhügel und eine kleine bronzezeitliche Siedlung inmitten des feuchten Urwalds der Voralpen. Über die ersten Gassen spannen sich Wimpel, das Café Italia sucht eine Nachfolge, Ablöse möglich. Dann sind die Straßen aufgerissen, Zug um Zug Schotter und Schlamm, vor den Ladeneingängen schmutzige rote Teppiche. Ein Hahn kräht, ganz unerwartet in der Altstadt, vielleicht lebt er im Kloster der Stadtheiligen Crescentia. Ein Glatzkopf im Kapuzenkittel zerrt an einem Hund gigantischen Ausmaßes.

Der Regen hat die Stadt nun doch erreicht, ich betrete ein Café. „La Baronessa“ gibt sich elegant und fein und mundän und ist doch nur Schein, das ist sofort augenscheinlich. Beautywerbung für die Proseccodamen steht neben der Speisekarte auf den Tischen, aus den Lautsprechern läuft der Radiosender Antenne Bayern. Die Karte bietet ein Viagrafrühstück („mit einer Latte …“, so steht es da) und ein Familienvater entblödet sich nicht, genau dieses zu bestellen.

Womöglich soll ja der überlaufende Milchschaum auf meinem Cappuccino Ausgleich für diese Ansammlung von Geschmackslosigkeiten sein. Die Jacke fühlt sich jedenfalls gleich weniger regenfeucht an.

Rauch

Über dem Parkplatz am äußersten Rand der Stadt der Geruch von Sommer: Knoblauch, Hitze, Staub. Die Bäume sind prall von Laub, das Wintergetreide steht kniehoch, manche Felder kleiden sich in reifes Gelb. Es ist Sommer hier am Untersee Mitte Mai und zuhause im Allgäu tragen noch immer viele Bäume kein Laub. Habe ich mich doch für den falschen Lebensmittelpunkt entschieden?

Wir krönen den Sommertag, indem wir auf dem Rückweg von unserem Termin bei der Deutschen Umwelthilfe die Fähre in Konstanz nehmen über den Obersee. Das würde ich gerne jeden Tag machen: die Fähre nehmen zur Arbeit.

*

Es dämmert, als ich die Unterlagen in den leeren Büros deponiere und weiter nach Hause fahre. Über dem nächsten Höhenzug steht eine dunkle Rauchsäule und ich weiß sofort, das dort drüben ist kein gutes Feuer. Immer weiter verschiebt sich der Rauch in die Ferne, er springt vor mir, als wollte er sich nicht fassen lassen. Über dem dritten Höhenzug bewegt er sich dann nicht mehr weg. Blaulichter blitzen über den Rücken, über den Hang verteilt oder nähern sich über schmale Straßen. Der Rauch scheint aus einem Wald hervorzusteigen, aber ein Waldbrand wäre ungewöhnlich in dieser Region, also wird es ein Hof jenseits der Bäume sein, in dem sich das Heu entzündet hat, wieder einmal.

Fast meine ich den Widerschein der Flammen zu sehen jenseits der Baumkronen, aber dafür ist es noch zu hell. Mehr noch als der dunkle Rauch sind die weit verteilten Blaulichter Beweis für den Ausnahmezustand, an dem die Normalität sich bricht und eine andere, gewalttätige und auf merkwürdige Weise kraftvolle Wirklichkeit gebiert. So entsetzlich, ja ekelhaft die Gaffer sind, die sich am Rand einer Katastrophe drängen, Helfer blockieren, nach dem Entsetzen gieren, den Skandal, so verstehe ich doch in gewisser Weise die Faszination an der Aufhebung der Normalität. Als unsichtbarer Beobachter zwischen den blau leuchtenden Fahrzeugen zu stehen, im Funkwechsel, bei den Menschen, deren Augen groß und der Atem flach vom Adrenalin sind und die doch – hoffentlich – im Falschen das Richtige tun –  diese Vorstellung lockt so sehr wie die, sich durch den Schatten der Bäume an das Feuer heranzuschleichen, an den lodernden Fraß der Flammen. Hoffentlich, denke ich mir, hoffentlich ist weder Mensch noch Vieh zu Schaden gekommen.

Drei Dörfer weiter steht das erleuchtete Tor des Feuerwehrhauses offen, der Löschwagen wartet in der Einfahrt – zu weit entfernt von der Brandstätte, um ausgerückt zu sein, und doch bereit, seinen Teil zu leisten, wenn ein Einsatzfahrzeug mehr gebraucht wird oder zehn oder zwanzig.

Sperlinge

Dieses charakteristische Klopfen, mit dem der Siebträger geleert wird, das Mahlen der Bohnen, ein sattes Klacken aus dem Handgelenk heraus, dann zischt die Maschine sanft und ein winziger, konzentrierter Schluck Espresso schäumt in die Tasse. So mag ich meinen Kaffee, jeder andere zählt im Grunde nicht.

Die Plätze draußen sind alle besetzt. Am Tisch vor dem Fenster sitzen drei nicht mehr junge Frauen mit langem blonden Haar und einem Oberklassenchic, der dem Ideal der Landeshauptstadt nacheifert. Gegenüber ein paar sehr männliche Männer mit Bärten und Sonnenbrillen, hörte man die Männer nicht, wüsste man nicht, sind es dunkle Italiener oder modische Araber. Dort die hübsche, auf natürliche Weise faltig gewordene Ökofrau mit dem sanften Blick, über den sich ihre Lider schließen, als sich das Gesicht der Sonne entgegenstreckt. Junge Menschen in Funktionsjacken, bereit für jedes Wetter, jeden Berg. Rentner, als junge Männer über die Alpen nach Norden gezogen, in geplusterten Jacken, die es erlauben, lange im Wind zu sitzen, sitzen und reden und sitzen und reden und immer wieder Hände schütteln, wenn sich etwas an der Zusammenstellung der Runde ändert.

Ein Mann mit dunklen Locken – offenes Hemd, Bart, Rundglasbrille – und einem breiten Lächeln über dem Revolutions-T-Shirt umarmt die blonde Schickeria, grüßt mit einem „Griaß di“ und Handschlag die eben noch italienisch sprechenden bärtigen Männer. Eine Familie aus dem österreichischen Vorarlberg auf einem Tagesausflug – es muss ja nicht jedes Mal Bregenz sein -, nun ein Büromensch in rosafarbenem Hemd bei seiner täglichen Kaffeepause, dann … Ach, was will ich da noch aufzählen, Menschen eben sind es, die hier den vielleicht besten Kaffee der Stadt und darüber hinaus genießen, in diesem kleinen Café mit seinem dunklen Holz, den Süßigkeiten, seinen Baristakursen, dem Lächeln hinter der Theke.

Draußen fliegen Spatzen tief über das Pflaster auf der Jagd nach Krümeln, segeln um wandernde Schienbeine, umkurven ruhende Waden, Teil des kleinen Glücks.

Mirabellensommer

Nacht

Ein fast voller Mond weckt mich, sein Licht fällt auf mein Gesicht. Ist es schon wieder so weit, wundere ich mich schlaftrunken und sperre ihn aus dem Zimmer. Sein fahles Licht beunruhigt mich. Unruhig die Träume, unruhig der Schlaf, unruhig selbst das Wachen.

Mittag

„Alter, was voll krass ist, wenn du hier hoch gehst, schaltet irgendwann dein Kopf ab. Das ständige stressige Denken hört einfach auf.“ Drei Party-Mädels – Make-up, Tattoos, vergoldete Armbanduhren, ein schicker Riss am Knie der Hose – erreichen den Gipfel. Eine der Frauen trägt oben nur einen schwarzen BH, an ihrem Rucksack schwebt ein Geburtstagsluftballon. Sie werden von den Gipfelrastern begrüßt, wie am Berg eben jeder anständige Mensch grüßt. Zu ihrem 30. wollte das Geburtstagskind, das erfrägt die Runde schnell, unbedingt mal auf einem Berg gewesen sein. Und da schaltet es schon eine Videoverbindung zur Mutter. „Du glaubst nicht, wo ich bin. In Österreich auf einem Gipfel. Schau, da geht es runter. Und die Menschen reden hier alle mit einem.“ Die drei sind ein völliger Fremdkörper auf dem Berg, und umso schöner finde ich, dass sie offen dafür waren, diese Erfahrung zu machen.

Beim Abstieg aus dem tiefen Blau ins Tannheimer Tal nehme ich mir ein Vorbild an dem Geburtstagskind und ziehe mir mein Hemd vom Leib. „Ja so was, hat die Jugend eine Hitze …“, kommentiert ein entgegenkommender ergrauter Bergwanderer. Schneefrei liegt der Serpentinenweg vor uns, die Sonne wärmt meine nackte Haut zum ersten Mal in diesem Jahr, das Glück der Welt ist mit uns. Südhang macht es möglich.

Abend

Unter einem weißen Himmel aus Mirabellenblüten stehe ich. Die Sonne ist fast untergegangen, doch der Baum brummt noch wie ein Bienenstock. Hummeln eilen von Blüte zu Blüte im schwindenden Licht, nutzen die letzten Minuten. Vom grasigen Boden zieht bereits die Abendkälte herauf. Die Hummeln aber hasten weiter. Nie habe ich so viele auf einmal gesehen. Fleißige Arbeiterinnen bis an die Tore der Nacht.

Alpen_Einstein_Tannheimer Tal