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Fährten

Im flachen Uferwasser tummeln sich die Kaulquappen, eine Handbreit tiefer dürfte der Moorsee noch unwirtlich kalt sein. Menschen schwimmen noch nicht darin. Nur auf der Wiese liegen ein paar: Radfahrer bei ihrer Rast, drüben FKKler, denn der Weiher ist eines der wenigen Gewässer in der Region, an dem Nacktbaden geduldet wird seit altersher und immer noch, denn unsere Gesellschaft wird ja prüder.

Ich ziehe meine Hand aus dem Wasser und richte mich auf. Das Kind zappelt vor Freude auf meinem Rücken, es brabbelt ein bisschen vor sich hin, versucht über meine Schulter zu schauen, hat die Augen überall. Es ist gerne draußen. Wenn wir morgens als Erstes an den Gartenrand treten, ist sein Blick vollste Aufmerksamkeit – ganz wach und offen gegenüber den Phänomenen der Welt, den Farben der Blumen, dem Gesang der Vögel, dem Wogen der Zweige. Das registriere ich aus müden, von Furchen umrahmten Augen.

Von hier oben, am Eschacher Weiher, liegt einem das halbe Allgäu zu Füßen, und der Blick reicht frei über die Voralpen hin zu den noch weiß geschmückten Gipfeln. Ein Wölkchen ist als Zier in das Blau über den Bergen gesetzt. Neben blühendem Weißdorn machen wir Rast, ein abgeschiedenes Tal unter uns, Grillen singen, ein frischer Ostwind wütet im Haar, ansonsten Licht.

Interessant wird es, wo wir in den Abgrund hineinblicken, an dem wir stehen, sagte die kluge Graugans zu meinem letzten Eintrag. Wenn wir den Fragen nachgehen, sie erwandern, während wir Fuß vor Fuß setzen, und uns nicht nach ein paar streunenden Stunden abwenden, zurück in den Kreis der Familie. Ich stimme ihr vollkommen zu. Und so ließe sich auch aus den wenigen Beschreibungen und Gedanken der vorausgegangenen Absätze – ich lese die Zeilen noch einmal – etwas erwandern. Spuren sind da. Ich müsste ihnen nur folgen, unbeirrt ihrer Fährte folgen und wohin käme ich dann: Da ist Altern. Da sind Angst, Unfreiheit, Einsamkeit. Welche Düfte!

Aber diese Wanderungen gehören hier nicht hin, sie suchen einen anderen Ort.

Als wir über einen Pfad blühende Wiesen queren, fährt die Hand der Tochter immer wieder über meinen Arm. Es ist, als würde sie mich zärtlich streicheln. Das ist eine Form des Glücks.

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Nachtwanderung

Trug ich sie in der Wohnung, weinte sie, legte ich sie ab, schrie sie. Also beschloss ich, mit ihr in den Abend hinauszuwandern. Noch ehe ich meine Schuhe anhatte, war sie bereits in der Bauchtrage eingeschlafen.

Über den Feldweg spazierte ich weiter den Hügel hinauf. Im Südwesten waren die Gipfel ein Scherenschnitt vor Orange, alles andere war schon Nacht unter Wolken, das Grün der Felder ausgewaschen zu tiefster Farblosigkeit, schwarz die Wälder. Schnee würde erst Stunden später fallen.

Als ich den nächsten Weiler erreichte, bellte der Hund nicht, wie er es tags immer machte. Wir begegneten uns wie Verschwörer in der Nacht, die sich im Moment des Erkennens zunicken und beide für sich wieder mit dem Dunkel verschmelzen. Über Asphalt schwenkte ich nach Süden. Die Umrisse der Berge waren nicht mehr zu erkennen. Ein paar Lichter brannten dort im Himmel, Flutlichter von Hütten oder Skipisten. Zwei leuchtende Kegel bewegten sich auf mich zu, ich wich auf den Seitenstreifen und schlug vor dem blendenden Licht des Autos die Augen nieder. Die Scheinwerfer zogen scharfe Grenzen in den Schotter des Banketts, rissen die Oberfläche aus ihrem Schlummer und schwärzten die Schatten, bereits die kleinste Vertiefung wurde Finsternis, dann war das Fahrzeug an mir vorbei und die Grenzen wurden wieder weicher.

Durch das Wäldchen waren es nur wenige Hundert Schritt. Alleine hätte sich etwas zwischen den Baumstämmen an mich herangeschlichen: eine Urangst, aus Jahrhunderttausenden in unseren Genen verankert. Doch ich trug ein kleines Menschenleben. Die Verantwortung ließ keinen Raum für Ängstlichkeit.

Als mich das Wäldchen entließ, schritt ich auf einen Horizont roter Lichter zu. Windräder schickten ihre Warnung hinaus in die Nacht. Ein einzelnes Windrad ist rätselhaft. Eine ganze Reihe wird zur Drohung. Haben diese roten Morsezeichen auch eine Wirkung auf die Tierwelt? Es ist ganz offensichtlich, dass die Lichtverschmutzung durch unsere illuminierten Ortschaften eine solche hat; so wie es offensichtlich ist, dass es Kraftfahrzeuge tun nicht nur mit ihrem Motorenlärm, sondern auch den schneidenden Scheinwerfern. Ich fragte mich, ob es Augentiere gibt, die, mir vergleichbar, den Blick heben am Waldesrand und hinüberschauen zu den mahnenden roten Lichtern, ihre Fantasie beflügelt.

Ich traf die Hauptstraße und fand über einen Radweg ins Dorf hinein und alles wurde anders. Fahrzeuge waren nicht länger singuläre Ereignisse in der Nacht, sondern ein auf und ab schwellendes, nie ganz versiegendes Geräusch. Wasser rauschte unter Kanaldeckeln. Fenster leuchteten, versprachen Heim oder auch Traurigkeit, wie diese verwaschenen Vorhänge, von einer gealterten Hand zur Seite geschoben und wieder fallen gelassen, warm dann wieder die Anmutung aus dem halb offenen Stall des letzten Bauernhofs im Ortskern, warm und beruhigend jetzt auch auch der wuchtige, aus hellem, hartem Gestein geschichtete Kirchturm, warm der immer noch mit Kerzen beleuchtete Weihnachtsbaum vor dem Gemeindehaus.

Am anderen Ende des Dorfes kam mir ein Mensch entgegen, sein Gesicht im Schatten. Ich würde diesen Menschen grüßen, auch wenn ich ihn vermutlich nicht kannte, denn ich kannte nur wenige im Dorf. Selbstverständlich würde ich grüßen, etwas anderes kam gar nicht infrage. Aber wie, fragte ich mich. „Grüß Gott“, antwortete ich mir, sollte es ein älterer Mensch sein. Der Gang verriet allerdings kein Alter und so entschloss ich mich doch zum Du und sagte, etwas verhalten, „Griaß di“, und im gleichen Augenblick sagte die Person, so unsicher wie ich, „Servus“ und wir waren schon aneinander vorbei, als wir uns doch noch erkannten. Es war die Nachbarin auf dem Weg zu einem Jahresessen im Dorf. Als sie sah, dass ich die Tochter trug, klang ihr Lachen noch heller. „Hosch a Liacht?“, bot sie mir eine Taschenlampe aus ihrer Jackentasche an. Ich lehnte ab, ich brauchte sie nicht, dankte für diese freundliche Geste aus Zeiten, als Nachbarschaft noch Schicksalsgemeinschaft bedeutet und man einander ausgeholfen hatte.

Draußen, gegenüber dem kleinsten aller Gewerbegebiete, schlug ich nicht das Sträßchen auf den Hügel ein, wobei, auch dieses Gewerbegebiet ist inzwischen gar nicht mehr so klein, auch es frisst sich weiter in die Felder hinein, wie in so vielen Gemeinden, wo gierig Wiese um Wiese verschlungen und der Götze Wachstum geopfert wird, und ich frage mich, wo sind eigentlich all die Menschen, die die Produkte dieses Wachstum benötigen.

Auch die zweite Straße hinauf ließ ich außer Acht, ich schlug die Gegenrichtung ein, spazierte, immer noch auf einem Radweg, an der Hauptstraße in den benachbarten Landkreis hinein. Die Senke zeigte sich als Windschneise, mich fröstelte. Bald suchte ich den Feldweg, der irgendwo rechts abzweigen musste, es war nicht leicht, ihn auszumachen. Scheinwerfer blendeten mich. Wenn sie passierten, suchten sich die Augen wieder an das Dunkel zu gewöhnen, doch da war schon das nächste Fahrzeug heran. Aber dann fand ich den Feldweg doch und kein Scheinwerfer erfasste mich und so tappte ich durch den niedrigen Graben hindurch und über die Straße hinüber und spürte Kieselsteine unter meinen Füßen und hinter meinem Rücken sauste das nächste Auto vorbei.

Nicht nahm ich den inzwischen halb zugewachsenen Weg ins Gehölz, über den wir als Kinder zur Großmutter gegangen waren, ohne Erwachsene zwischen den beiden Hügeln hin und zurückspazierten, erst an der Hauptstraße entlang, damals noch ohne Radweg, dann durch das Wäldchen hindurch und über Feldwege hinauf, niemand hatte sich dabei etwas gedacht, ich weiß nicht, ob das heutzutage anders wäre. Aber etwas hatte ich mir dann doch gedacht damals, denn ich erinnere mich, wie mich, den Ältesten, einmal die Verantwortung in die Träume hinein verfolgt hatte. Wir waren wieder einmal zu dritt unterwegs und da kam etwas abgrundtief Böses hinter uns her und wir mussten um unser Leben rennen und mir war klar, so erbarmungslos klar, dass ich nur die Kraft hatte, einen meiner Brüder aufzunehmen und, mit ihm auf meinem Rücken, loszuspurten – und den anderen sich selbst überlassen musste.

Ganz friedlich war der Weg nun, die Straßen weit genug hinter mir, der Waldrand schweigend, der Grund unter meinen Schuhen weich. Dann erreichte ich das Häuschen, an dem ich in all den Jahren nie vorbeigegangen war, weil es nie auf meinem Wege hatte liegen wollen, obwohl ich es doch täglich sah drunten im Tal, besonders nachts, wenn seine Fenster leuchteten in der weiten Dunkelheit. Keiner der Hunde, die ich vorhin noch hatte bellen hören, schlug auf mich an. Und dann war ich vorbei und hatte doch nichts gesehen von dem Haus, weil es ja dunkel war, und ich wusste, ich würde bald wieder einmal daran vorbeigehen müssen am hellichten Tage.

Ich schlug einen Bogen zurück, bog dieses Mal doch auf den Weg auf den Hügel ein, ging erst unter Birken, dann unter Eschen und schließlich unter der Scheunenauffahrt hindurch, wandte mich, bevor ich das Zuhause erreichte, wieder ab und schritt, wenn auch von zwei Stunden Gehen bereits ermüdet, an den Apfelbäumen entlang wieder hinab, erreichte am kleinen Gewerbegebiet die Hauptstraße, fand zum zweiten Mal ins Dorf hinein und nahm vor dem leuchtenden Baum einen neuen Weg.

Ein paar kalte Regentropfen trafen mich, dann hatte ich die Siedlung bereits wieder hinter mir, stieg an dem nun leeren Hühnergehege, an der nun leeren Schafweide vorbei auf die Höhe hinauf, durch den schneidenden Wind hindurch zu dem einzelnen Gehöft, wo hinter einem Fenster ein einsamer Mann an einem einsamen Tische saß, und kehrte, über ebenjenen Feldweg, auf dem ich vor fast drei Stunden aufgebrochen war, und zuletzt an der knarzenden, im Winterwind immer singenden Esche vorbei, nach Hause zurück. Das Kind schlief immer noch an meiner Brust.

Unendlich schön

Das Wetter kalt, aber nicht eiskalt, nur morgens die Scheiben am Auto freigekratzt.

Schnee immer noch keiner. So etwas kenne ich aus den Jahren in Stuttgart, da war es ja normal, dass der erste und auch nur kurze Schnee pünktlich zur Antiquariatsmesse Ende Januar fiel, aber doch nicht hier im Allgäu. Die Langlaufsüchtigen fahren alle nach Balderschwang hinein, über einen Pass sozusagen ins hinterste Tal Deutschlands, in Zeiten der Zombieapokalypse würde ich dorthin flüchten, auch wenn das – Riedbergpass hin oder her – am Ende gar nichts bringen würde, weil die Untoten ganz gemütlich aus dem Vorarlberg her einmarschieren könnten. So wie der Braunbär, der vor ein paar Monaten dort seine Spuren hinterlassen hatte. Kothaufen von Bären findet jetzt keiner in Balderschwang, dafür aber Massen an Langläuferinnen und -läufern, der reinste Irrsinn, die Apokalypse also schon angebrochen.

Jetzt weiß ich auch nicht so recht, wie ich von Zombies und Braunbären überleite zu Peter Handke. Will auch nichts schreiben über Nobelpreisdebatte, „Eine winterliche Reise“ und Balkankrieg. Das haben andere schon ausreichend getan und ich argumentiere jetzt gewissermaßen mit Peter Handke aus dem feingeistig Apolitischen heraus, was mir allerdings auch leichter fällt als Handke, denn ich habe schließlich auch keine Grabrede für Milošević gehalten und deswegen stehen auch keine Journalisten vor meiner Gartentür und stellen mir „solche Fragen“.

Gut, für die Abwesenheit der Journalisten vor meiner Tür gibt es auch noch andere Gründe, aber ich will auf etwas anderes hinaus. In Handkes Journalen lese ich gerne. Bei ihnen geht es mir wie mit Gedichtbänden: Zwischen zehn oder fünfzehn nichtssagenden, aber immerhin dankbar kurzen Einträgen findet sich eine Perle, und diese macht das Leben reich. „Ein (tief) wahrer Ausdruck, dachte ich gerade am Fluß in der Dämmerung, ist: ‚Unendlich schön‘. Also verewige das unendlich Schöne“, notiert Peter Handke in seinem zweiten Journalband, „Am Felsfenster morgens“, im Februar 1987.

Und das ist es, denke ich mir, was mich anspornt, hier weiterzuschreiben.

Kalt also am Morgen, doch nicht eiskalt, Wolken droben, der östliche Horizont frei, daher schönes Licht. Noch immer leuchtet das Morgenrot über den Bergen auf, also bis aus dem Süden heraus. Als würde die Sonne im Süden aufgehen – im Süden!, sage ich mir immer wieder, während ich das Fahrzeug in den Morgen hineinsteuere –, und das ist mir ein Wunder. Das ist das Magische an dieser Jahreszeit, die gerade zu Ende geht.

Der Holderboschen

Räumliche Perspektiven und ihre andauernde Veränderung durch Ortswechsel sind immer wieder überraschend. An der Wasserreserve von Wildberg hatte ich vor ein paar Tagen zum ersten Mal die Pleisspitze bewusst wahrgenommen, und das nur, weil ich ihren Namen auf einer Hinweistafel gefunden hatte und das Auge danach die Erscheinung hinter diesem Namen am Horizont suchte.

Heute erkenne ich den Berg wieder, von unerwarteter Stelle aus. Wie kann es sein, dass ich hier, auf dem Probstrieder Hörnle, eine ganz ähnliche Perspektive einnehme wie ein paar Tage zuvor an einem ganz anderen Ort in einer gefühlt ganz anderen Region?

Erst am Abend begreife ich, was vom ersten Augenblick an irgendwo am Rande meines Bewusstseins war. Die Pleisspitze, das ist ja in Wahrheit nichts anderes als die Bleispitze im Lechtal, ein paar Autominuten vor dem Fernpass, auf der ich doch erst im Spätsommer mit einem Studienfreund war! Also kannte ich diesen Berg längst, stand schon einmal dort oben, was ich nun auf die Ferne zweimal neu entdeckt zu haben glaubte. Der Berg ist bis auf den Gipfel hinauf mit seinen gut 2200 m Höhe von Gras bewachsen. Die letzten Meter des Weges waren brusthoch überwuchert. Wie durch einen Dschungel bahnten wir uns unseren Weg zum Gipfelkreuz. Zwischen summenden Hummeln schlug ich am Kreuz mit seinem Strahlenkranz das Gipfelbuch auf und formulierte dafür um, was mir die jüngste Tochter meines Studienfreundes diktierte. Es war meine letzte Gipfelbesteigung vor der Geburt meiner eigenen Tochter eine Woche später.

Hier auf dem Hörnle, von dem aus wir die Pleisspitze also wiedersehen auf einem Spaziergang mit unserer Tochter, gibt es auch ein Gipfelbuch, obwohl das Hörnle gar kein Gipfel ist, sondern nur eine kleine Anhöhe, ein Buckel, wie man hier sagen würde, und trotzdem schreiben die Menschen – manche ironisch, andere vielleicht weniger – Sätze hinein wie „Berg erklommen“.

Heute zieht hier mal kein Wind durch, oft kann man hier gar nicht sitzen auf dem Bänkchen, weil’s zu schneidend ist. An diesem Januartag geht es aber und wir schauen hinab ins Illertal und die Hügelketten westlich davon und, wenn wir den Kopf drehen, in die Alpen hinein. Schön ist es hier und noch schöner wäre es ohne das Rauschen der Autobahn. Ein Rabe krächzt zwischen Fichten und nackten Eschen, ansonsten nur Autos, Autos, Autos, mal das Knattern eines Hubschraubers, dann das Zischen eines Heißluftballons. Und das Rauschen der Menschen.

Ein älteres Paar kommt herauf, der Mann tastet nach dem Gipfelbuch und trägt – halb in Rücksprache mit seiner Frau, halb in andauerndem Vorwurf in ihre Richtung – etwas ins Buch ein, lobt den Ausblick, das Wetter und all das, verpackt in einem Geschwätz aus Belanglosigkeiten, einem Plätschern von Nichtigkeiten, garniert mit ein paar unnötigen Spitzen und dem Grau von Jahrzehnten einer dumpfen Ehe.

Was bedeutet wohl Glück für diese beiden Menschen? Was treibt sie an, welche Fragen stellen sie sich, wo setzen sie sich ihren Horizont, worin finden sie Erfüllung?

Als sie weiterziehen, sprechen wir es ohne den Drang richten zu wollen, so hoffen wir, aus: Was verbindet uns eigentlich mit diesen Menschen? Mehr als ein paar biologische Funktionen und die gleiche Luft, die wir atmen?

Für den Holunderbusch hinter uns ist die Sache klar: Wir alle sind einfach nur Vertreter der Gattung Mensch. Das ist alles.

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Freiheit

Zum ersten Mal habe ich an dem mir ja aus gerade diesem Grunde stets so verhassten Silvester nichts getan, was ich nicht machen wollte. Habe mich zu nichts gedrängt gefühlt, zu nichts überwinden müssen, bin keine schalen Kompromisse eingegangen, gleichzeitig keine Spur von Verlust, Entfremdung, Begrenztheit. Versenkung war die richtige Wahl. Von einer Viertelstunde vor Mitternacht bis eine Viertelstunde nach derselben saßen wir in Meditation. Irgendwo dort, da, drüben krachte und knallte und rauchte es. Hier ein stilles Lächeln auf den Lippen.

Von der Wasserreserve bei Wildberg aus öffnet sich ein wunderbarer Blick: auf die Alpenkette, hinüber ins Oberbayerische, das im Dunst verschwimmt, hinunter ins Alpenvorland. Das Neujahr zeigt sich sonnig wie schon die letzten Tage. Selten schenkt diese Jahreszeit der Raunächte so viel Licht wie dieses Mal. Schnee liegt auf den Hügeln immer noch keiner, nur droben in den Bergen, die Flanke der Pleisspitze leuchtet gleißend auf. Hier unten knisterndes Gras, knirschendes Laub, knuspernde Erde, krachende Platten. Eis und Frost herrschen auf unserem Weg und Lichtbahnen zaubern zwischen den Bäumen.

Die Gäste konnten nicht kommen, eine Krankheit hatte sie im letzten Augenblick doch noch aufgehalten. Es galt das Beste daraus zu machen. Anstatt das vegetarische chinesische Menü aufzutischen, kochte ich über einen langen, gemächlichen Abend hinweg immer wieder nur ein Gericht. Wir aßen, wir genossen, wir machten etwas anderes, bis mir einfiel, ich könnte jetzt doch das nächste Rezept ausprobieren. Selten erlauben wir uns so viel Freiheit.

Unter dem First

Gleich versinkt die Sonne hinter Eschen und Fichten. Es ist nach einem grässlichen Morgen noch richtig schön geworden, nur mein Herz ist nervös, weil mit zu viel Druck durch den Tag und den Abend und immer weiter, als gäbe es auch jetzt, als die Sonne untergeht, kein Ruhen.

Die Mücken attackieren seit ein paar Nächten fleißig. Was ist gegen sie auszurichten? Gleich werden sie wieder ausschwärmen aus den Schatten mit ihrem dünnen, spitzen Summen. Wie viel entzückender das Zwitschern der Schwalben auf ihren letzten Runden! Als wäre die Schöpfung nichts als Schönheit. Ich muss an Piran denken an der slowenischen Küste, es dürfte die gleiche Jahreszeit gewesen sein, nur so viel heißer und reicher.

Eine Esche noch wirft den orangen Glanz zurück, die Sonne selbst sehe ich nicht mehr. Ein frischer Hauch zieht von den Wiesen herauf, er lässt frösteln, die Gräser sind bestimmt schon feucht. Ich sehne mich nach Hitze, nach Glut. Eine Hornisse brummt unter dem First.

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Die grüne Hölle

Hinein in die Provinzstadt, an der Höhe vorbei, wo vor 2000 Jahren römische Verwaltungskräfte ihre Villen gebaut haben, als der Ort tatsächlich für einige Jahre Provinzhauptstadt war, heute aber Möchtegernmetropole der „Grünen Hölle“, wie ein Schriftsteller einmal das Allgäu genannt hat, ein hiesiger, und das darf und muss er ja auch sagen, sonst wäre er nicht Schriftsteller, sondern Panegyriker.

Ein paar Flocken fallen, an der Einfallsstraße meterlange Eiszapfen, trotzdem Tauwetter, zumindest sackt der Schnee zusammen. Bücher sind gegangen, andere kommen schon nach, es ist, rede ich mir ein, das Ideal, nicht eine stetig größer werdende Sammlung aufzubauen, sondern eine immer bessere, treffendere, mir angemessenere Auswahl an Büchern zur Hand zu haben. Das ist selbstredend ein Prozess, der nie aufhört, solange man lebt, sich bewegt.

Die weltbeste Butterbreze – sie gehört zur Habenseite der Möchtegernmetropole der Grünen Hölle – lasse ich links liegen. Bis zum Ende des Monats werde ich kein Getreide essen. Dampfig ist es in dem Café, obwohl, vielleicht auch nur warm, die Scheiben sind nicht beschlagen. Es läuft zu einem Brei unkenntlich gemachte Hintergrundmusik, sie bedrängt mich, lieber wäre mir, nur das Stimmengewirr und die klirrenden Gläser und den Schlag des Kaffeelöffels an Keramik und das Stapeln der Espressotassen zu hören.

Wie schön war doch die Stille, als ich morgens die Augen nach der Meditation öffnete. Die Verschmutzung unserer Welt findet auf unzähligen Ebenen statt, denke ich mir auf meinem Barhocker und schaue hinaus.

Ich nehme den letzten Schluck und mache mich auf, ein Dach von Schnee zu befreien. Das aber ist eine andere Geschichte.

… und glühen, so sehr es nur geht!

Es gibt ein Kleidungsstück, das wie kaum etwas anderes für Glück, für das gute Leben steht. Man nehme eine alte, rissige Jeans und schneide sie – möglichst nachlässig, vielleicht schief mit einem Küchenmesser – unter den Knien ab. Je öfter die Hose bereits geflickt wurde, desto besser. Jeder neue Riss im Stoff ist zu begrüßen. Fransen hängen herab, manchmal fallen sie aus wie die Federn eines Vogels. Die gute Zeit, das gute Leben ist dann, wenn ich diese Hose – und möglichst: nur diese Hose – tragen darf. Wenn es nach mir ginge, dürfte das einen ganzen Sommer lang sein oder auch eine Ewigkeit – den Ewigen Sommer, einem zeitenthobenen Glück voller Wärme, das wir lachend, frei, mit kupferfarbenen Schultern durchstreifen. Ein Traum vom verlorenen Paradies und zugleich Erinnerung an eine Kindheit, wie ich sie so vielleicht gar nicht hatte.

Heiß die Sonne am Morgen schon im Frankenlande. Verschwenderisch die Landschaft und sonnenvoll: Getreidefelder, warme Hügel, üppige, süße Kirschen in unendlicher Fülle – ich denke an die kleinen, sauren Früchte meiner Großmutter im Allgäu, überhaupt das Allgäu in seiner ganzen Unterkühltheit ein einziger Kontrast dazu. Vor zehn Uhr morgens nehmen wir bereits den ersten Schluck Bier im Garten einer jener fränkischen Kleinbrauereien, aber das lassen wir dann schnell wieder, denn Alkohol und Ausschreiten, das geht nicht gut zusammen. Der Gesang der Grillen begleitet uns zwischen den schmucken Dörfern – Sandstein, Fachwerk, am Ortseingang ein Schild mit allen wichtigen Terminen: Johannisfeuer, Kirchweih, Erntedank -, eine Steige im Wald, dann wieder das Gold der Äcker. Mittags schließlich ein stählerner Glanz in der Luft. Ich frage mich, ob der Hochsommer 1914 auch diesen Glanz hatte und die Menschen zu der wahnsinnigen Vorstellung verleitete, der ausbrechende Krieg sei nichts als ein reinigendes Gewitter.

„Der Sommer geht“ heißt ein Roman, der mich damals mit 16 sehr beeindruckt hatte. Und es liegt ja im Glück jedes heißen Sommertages bereits der Stachel seines Endes. Lachen oder weinen? Die wärmsten Wochen stehen uns noch bevor, die Küche duftet nach Olivenöl, Weißwein, Knoblauch und Thymian, es ist gen Mitternacht und noch immer warm. Also lachen – lachen und genießen! Das Morgen und die Vergänglichkeit des Sommers vergessen und glühen, so sehr es nur geht!

Mit Dank an Benjamin R.

Die Hohe Schulter

Oben auf der Kuppe steht, am Ende des Asphalts, ein Auto, die Scheiben halb heruntergelassen, Licht und Wind ausgesetzt. Der dicke Mann im Wagen mustert mich aus den Augenwinkeln, aber den Blick erwidert er nicht, also grüße ich nicht. Der dicke Mann schließt seine Augen und döst, in seinem Auto auf der Höhe, auf der Scheide zwischen dem östlichen und dem mittleren Allgäu.

Die Hohe Schulter ist eine markante Erhebung, markant deshalb, weil nicht von Fichten überzogen wie ihre Fortläufer nach Norden und Süden. Die Hohe Schulter ist von Gras bewachsen und auf ihr die Kronen zweier üppiger Laubbäume, aus der Ferne schon zu sehen. Sie ist eine jener Landschaftsmarken, die auf den ersten Blick schon zu Sehnsuchtsorten werden, locken, verzaubern, Geheimnis und Versprechen zugleich.

Ich weiß nicht, ob ich mich traurig, lächerlich oder aber erhaben fühlen soll, als ich die Höhe besteige und irritiert meine überflüssigen Pfunde spüre. Hatte ich das nicht ändern wollen? Bringe ich überhaupt irgendetwas zu Ende, das ich angehe?

Wind rauscht, Grillen zirpen, die Alpenberge im Süden sind halb verborgen von um die Schultern geschlungenen Regenmänteln. Unter mir der matte Spiegel des Notzenweihers, birkenumsäumt. Aus der Nähe ist sein Moorwasser braun, auf der Wiese davor hatte ich mir einst einen meiner schlimmsten Sonnenbrände geholt in jener Woche, in der ich alle sechs Bände „Durch die Wüste“ zum zweiten Mal gelesen, wie von Sinnen in mich aufgesogen hatte, um danach nie wieder ein Buch von Karl May in die Hand zu nehmen. Drüben dann, im Osten, der Auerberg, eine weitere markante Höhe, noch ein Sehnsuchtsort, am Rande des Allgäus, die Schatten dahinter liegen bereits im Lechrain, im Pfaffenwinkel.

Ich drehe mich um, passiere das Auto auf der Höhe und vor mir öffnet sich das Illertal. Cumuluswolken türmen sich himmelwärts. Andere, grauere Wolken zerteilen das Licht der Sonne in Strahlenfächer. Dächer leuchten auf drüben im Westen. Ganz nah das Auf und Ab des Sträßchens, über das ich heraufgekommen bin. Als ich ein Kind war, brachte meine Mutter über diese Straße Wolle zum Kardieren, zum Kämmen, um sie fürs Spinnen bereit zu machen. Wo damals die Weberei zwischen den Hügeln lag, steht nun ein Schild „Kunstakademie Allgäu“. Die Felder blütenloses Grün, die Kühe enthornt, Windräder da, da, da.

Ich folge einem Pfad über den Hügel, an Bäumen und Bänken und Blumen vorbei. Ich suche etwas, suche einen Ort, um ihn anderen zu schenken. Ich finde ihn nicht, mache kehrt, gehe über den Wiesenpfad zurück, an dem Auto vorbei, den Feldweg hinab, dem Wind vornweg. Die Eschen, wird mir da erst bewusst, vor vier Wochen noch kahl, stehen da in Fülle.

Don‘t you mind people grinnin‘ in your face

Den Goetz angefangen. Eine Karte lag bei – „intellektuelles Futter für dich auf dem Berg“ – und ein Exemplar der Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe natürlich, und ich fühlte mich wirklich wie auf einem Posten im Busch, einem Herzen der Finsternis, schwarz und träge wie Melasse, auch wenn da keine Schrumpfköpfe auf den Pfählen stecken, denn hier wird ja alles niedergemacht, Baumgemetzel, bevor der Frühling kommt, und letzte Woche zur gleichen Zeit schon wieder die immer größer werdenden Traktoren, die immer größere Mengen Gülle ausfahren in ihrer mörderischen Logik eines Größerwerdens, Wachse oder weiche, und es ist ja ein Witz, dass die Leute immer noch ins Allgäu in den Urlaub fahren, denn das ist nur noch die Parodie einer Landschaft. Und dann also der Goetz, Dekonspiratione, von den Feuilletonisten verrissen damals, und ich komme kaum mehr los von dem Buch, und ich notiere mir, auf dem Rücken liegend: Ich will gegen die Mauern anschreiben, die mich hier einengen. Such dir alles, was Widerstand bietet, und dann schreib darüber.

Der nächste Tag dann wieder Müdigkeit, Broterwerb, Kopfschleimkanäle, draußen Schnee. Die Knoblauchsoße mittags genial immerhin.